Raunächte – die Zeit zwischen der Wintersonnenwende und dem sechsten Januar. Allein in dem Begriff weht uns schon ein Raunen aus grauer Vorzeit an, als man die Zeit noch in Nächten maß und nicht in Tagen. Vielerorts werden sie auch „die Zwölften“ genannt, weil diese zwölf Nächte die Brücke zwischen den zwölf Monden des Mondjahres und den 365 Tagen des Sonnenkalenders bilden.
von Nayoma de Haën
„Es gibt so wunderweiße Nächte, drin alle Dinge silbern sind…“ Rainer Maria Rilke
„Wieder stehen sie da, diese zwölf heiligen Nächte, wie aus den verborgenen weisen Seelentiefen der Menschheit festgesetzt…“ Rudolf Steiner
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Die Zwölften sind Schwellenzeit, Zeit außerhalb der Zeit, in der die gewohnten Regeln des Alltags ausgesetzt sind.
Es geht um ein Innehalten – diese Zeit war mit Arbeitstabus belegt, es war wichtig, zu ruhen, nach innen zu horchen. Was will jetzt wirken? Welche Kräfte bestimmen mein Leben? Die wichtigsten Raunächte – Wintersonnenwende, Weihnachten, Silvester und der Vorabend von Dreikönige – gelten seit altersher als besonders geeignet, um einen Blick hinter den Schleier und in die Zukunft zu werfen.
Es ist die dunkelste Zeit des Jahres, gewissermaßen die Mitternacht des Jahreskreises. Wagen wir es, uns auf diese Dunkelheit einzulassen? Die Dunkelheit ist heutzutage bestenfalls ambivalent besetzt. In den vergangenen Jahrhunderten unserer christlich-männlich dominierten Kultur ging mit der Verherrlichung des Lichts eine Dämonisierung der Dunkelheit einher. Doch häufig stecken hinter Bräuchen, die wie Dämonenabwehr wirken, uralte Gesten der Würdigung und Sympathiezauber, um sich die unberechenbaren Kräfte der Natur wohl gesonnen zu halten.
Denn die Dunkelheit ist auch zutiefst fruchtbar. Der bergende Mutterschoß ist dunkel. Der Samen in der Erde, der Keim im Ei – alles Leben beginnt in Dunkelheit. Insofern liegt in der Dunkelheit auch grenzenloses Potential. Wage ich es, mich der Dunkelheit und ihrem Potential zu öffnen?
Wenn wir die Bräuche und Sagen um die Zwölften betrachten, begegnet uns das Wilde Heer, eine unheimliche, gewaltvoll über das Land tobende Geisterschar, die gefürchtet wurde – und doch hieß es, wo sie lang jagen, steht im nächsten Jahr die Ernte gut. Die noch ältere Überlieferung spricht jedoch von einem mächtigen weiblichen Wesen. Manchmal zieht sie alleine über Land, im Sturmgebraus oder in einem Wagen. Manchmal zeigt sie sich auch eher als Hüterin des Lebens und führt sie eine Schar zarter Geistwesen mit sich, die als Heimchen oder ungeborene Kinderseelen bezeichnet werden.
In Mitteldeutschland heißt sie Frau Holle, Hulle, Holda und alle möglichen Ableitungen dieses Namens, in Süddeutschland kennt man sie als Frau Percht, Perchta oder Berta. Frau Holle aus dem Grimm’schen Märchen ist nur der bekannteste Ausdruck einer Unmenge von Sagen und Mythen um eine weibliche Gestalt, die das Wetter macht, Fruchtbarkeit bringt, die Menschen die Künste des Haushalts und des Handwerks lehrt und die verstorbenen und ungeborenen Seelen hütet.
Wenn wir uns bewusst machen, dass sie praktisch alle wichtigen Lebensbereiche beherrschte und in ganz Mitteleuropa bekannt war – unter unterschiedlichen Namen, aber mit den gleichen Qualitäten und Bildern, dann ist die Vermutung berechtigt, dass wir es hier mit einem Nachhall des alten Glaubens an die große Göttin zu tun haben.
„[Gewisse Frauen] treiben, um glücklich zu werden und in weltlichen Dingen Erfolg zu haben, … Phantastereien: In der Weihnachtsnacht decken sie den Tisch für die Himmelskönigin – die das Volk Frau Holle nennt -, damit sie ihnen helfe.«
(Zisterzienser-Handschrift, 1235/1250, aus Timm, Frau Holle, Frau Percht und verwandte Gestalten, 2010)
Das ist die eigentliche Sensation der Tradition der Raunächte: Sie sind ein heute noch vor allem in den Bergen lebendiger Brauch, der ungebrochen seit mindestens germanisch-keltischer Zeit besteht und möglicherweise noch älteren Ursprungs ist. Denn die weibliche Gottheit als Herrin über Wetter und Fruchtbarkeit, Leben und Tod und als Hüterin der so überlebenswichtigen Künste des Spinnens und Webens, sie war zu germanisch-keltischer Zeit bereits auf dem Rückzug. Dass die dunkelste, unsicherste Zeit des Jahres so vollständig auf sie ausgerichtet ist, deutet daher darauf hin, dass das Wissen um diese heilige, höchst numinose Zeit möglicherweise sogar noch älter ist.
Indem wir die Zwölften als eine heilige Zeit würdigen, können wir also an eine spirituelle Tradition anzuknüpfen, die zutiefst mit unseren mitteleuropäischen Wurzeln verbunden ist.
Wir können die mächtige Gestalt von Frau Holle jedoch auch als Repräsentantin der ewigen, uralten Weisheit in uns selbst verstehen, die um Leben und Tod und vor allem um die Bedeutung des rechten Tuns zur rechten Zeit weiß.
In den Raunächten geht es nämlich auch ganz wesentlich um Zeitqualität. In unserem Alltag achten wir meist nur auf Chronos, die gezählte Zeit, und verpassen darüber Kairos, den günstigen Augenblick. Auch im Märchen von Frau Holle geht es darum, zur rechten Zeit das rechte zu tun – die Äpfel zu pflücken, das Brot aus dem Ofen zu holen, ohne erst lange zu fragen, wer es denn da hinein getan hat und ob der es nicht auch wieder herausholen müsste oder für wen das Brot denn eigentlich sei. Die Gelegenheit beim Schopfe zu packen – deshalb hat Kairos vorne einen dichten Haarschopf und hinten eine Glatze, denn wenn er vorüber ist, lässt er sich nicht mehr fest halten.
Es geht auch um erfüllte Zeit – die des vergangenen Jahres – und zu erfüllende Zeit – aufmerksam zu werden für das, was in mir und um mich herum keimen, wachsen und sich entfalten will.
Um Raum zu schaffen für das Neue bedarf es der Integration des Vergangenen, der Reinigung von all dem, was nicht mehr gebraucht wird, und der Ruhe, um die leisen, zarten Impulse des Neuen wahrzunehmen.
Die Raunächte als Zwischenzeit laden auch ein, die Spielräume zwischen den Polaritäten zu erkunden. Die Zwölften sind gleichzeitig altes und neues Jahr – und bieten mir damit Gelegenheit, auszuprobieren, wie ich gleichzeitig alt und jung, Kind und Erwachsener, männlich und weiblich sein kann. Als Nachhall einer uralten, auf die weiblichen Qualitäten der Kooperation und Verbundenheit ausgerichteten Kultur können sie uns inspirieren, auch auf gesellschaftlicher Ebene Wege auszuloten, in denen sich Polaritäten wie Wachstum und Nachhaltigkeit, individuelle Freiheit und kollektive Verantwortung verbinden lassen.
So kann die Erinnerung an die Raunächte helfen, eine Brücke zu bilden zwischen unserer uralten Vergangenheit und einer lebenswerten Zukunft.
Übrigens: Ja, die Differenz zwischen Mondjahr und Sonnenjahr beträgt elf Tage, und vom 21.12. bis zum 1.6. sind es 16 Tage. Es gibt alle möglichen Spekulationen über verschiedene Zählweisen, doch wir wissen auch, dass die Menschen der alten Zeit diese Dinge anders bewerteten als wir heutzutage. Der symbolische Wert der Zwölf war wichtiger als der Zahlenwert, wie wir aus vielen Überlieferungen und Lebenden wissen (zwölf Stämme Israels, zwölf Hauptgötter des Olymp, zwölf Asen der nordischen Mythologie). Zwölf bedeutet Vollkommenheit, bis hin zu dem zwölfflächigen Dodekaeder, der Pythagoras als heiligster geometrischer Körper galt. So deuten die Zwölften mit ihrem Namen auch direkt auf ihr Geheimnis hin: Sie sind ein holographisches Abbild des Jahreskreises und damit der Gesamtheit des Lebens.
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Über Nayoma de Haën: Die Verbindung zur Natur und eine naturverbundene Spiritualität sind die zentralen Themen, denen sich Nayoma de Haën zuerst als Landschaftsplanerin und dann als Leiterin schamanischer Selbsterfahrungsseminare widmete. Im Laufe der Zeit rückte dann Kommunikation immer mehr in den Mittelpunkt ihrer Tätigkeit – Kommunikation nach innen und außen, nach unten und oben. Auch als Lektorin und Übersetzerin genießt sie den Umgang mit Sprache. Der Brückenschlag zwischen den alten Naturreligionen, unseren christlichen Wurzeln und moderner Spiritualität fasziniert sie seit ihrer Jugend.
Aktuelles Buch zum Thema:
Nayoma de Haën: „Das Mysterium der Raunächte. Die zwölf heiligen Nächte“
Umfang: 112 Seiten
Verlag: Koha Verlag, 2012
ISBN: 978-3867282048
Preis: € 7,99
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