Bewusstseinswandel, Psychosomatik und zeitgemäße Spiritualität: Vom 11.-14.6.15 fand in Bad Kissingen der 13. Kongress der Akademie Heiligenfeld zum Thema: WIR – Bewusstsein, Kommunikation und Kultur statt. Zahlreiche Referenten näherten sich von unterschiedlichen Perspektiven der Transformation eines überwiegend von ICH-Strukturen dominierten Bewusstseins hin zu einer von einem WIR Bewusstsein gestalteten und geprägten Realität. Hier ein Rückblick auf den Kongress.
Von Patricia Lüning-Klemm
Vom „ICH“ zum „WIR“
Dr. Joachim Galuska, Facharzt für Psychosomatische Medizin/Psychiatrie und Psychotherapie, ärztlicher Direktor der Heiligenfeld Kliniken und der Akademie Heiligenfeld zeichnete in seinem einführenden Vortrag auf, wie die Welt vom Standpunkt eines Ich-Bewusstseins wahrgenommen wird: Das ist mein Arm, das sind meine Gedanken, das ist mein Haus, das ist mein Partner, das ist mein Beruf. Ich stehe im Zentrum meines Lebens und erfahre mich in der Identifikation mit Impulsen, Wahrnehmungen und Interpretationen von Ereignissen, die von außen auf mich einwirken. Die äußere Welt und andere Menschen werden also als Objekte wahrgenommen. Das ICH ist beschäftigt, nach Unterschieden zu suchen, die die Trennung zwischen mir und dem Anderen bedeuten. Das Leben vollzieht sich in dem Bemühen, im Außen Bestätigungen für dieses ICH einzuholen: So ist das ICH ununterbrochen damit beschäftigt, von anderen als das, für das es sich hält, bestätigt zu werden.
Begegnen sich zwei ICHS, wird daraus die Begegnung mit einem DU. Übereinstimmungen oder Abweichungen werden überprüft und es folgt entsprechend eine angenehme oder unangenehme Erfahrung. Da in diesem Modus der ICH-Gestaltung immer wieder ein neues Gleichgewicht gefunden werden muss, bedeutet dies auch, dass die Balance zwischen Anspannung und Entspannung jeweils neu definiert werden muss – denn jede Abweichung und Nichtübereinstimmung in der Begegnung mit äußeren Geschehnissen und Begegnungen führt zu Unruhe, Aufregung bis hin zu Ängstlichkeit, Wut oder gar Schmerz – ein Erleben, das in der neuronalen Körperstruktur als Muster gespeichert wird.
Dr. Galuska (drittes Bild unten) stellt diesem ICH-Bewusstsein den Modus des Seelenbewusstseins gegenüber. Die zunehmende Fähigkeit zur Bewusstwerdung ist ein Prozess. Man muss dafür Bewusstheit für Bewusstsein entwickeln und damit eine innere Haltung im Sinne einer wahrnehmenden und achtsamen Beobachterposition einnehmen, die sich mit der Zeit als neues Wahrnehmungsmuster ausprägen kann. Im inneren Bewusstseinsraum entsteht eine Leinwand, auf der die Filme des Lebens abgespielt werden. Je öfter die Aufmerksamkeit sich vom Außen in den inneren Raum verlagert, desto mehr weitet sich dieser Raum. Es entsteht eine lebendige Stille und das Gefühl, mit allem verbunden zu sein. Dieser innere Raum vermag den eigenen Ich-Konzepten Raum zu geben, ohne sie zu bewerten oder im Widerstand mit ihnen zu sein. Gleichzeitig kann hier auf einer tieferen Bewusstheitsebene das Leben und das Wesen eines anderen Lebewesens gespürt und wahrgenommen werden. Dieser innere Raum enthält mehr Tiefe als die Gedanken, denn das, was über einen anderen Menschen gedacht wird, bleibt eher oberflächlich.
So gestaltet sich die Beziehung zum DU unterschiedlich, je nachdem aus welcher Haltung heraus sie geschieht. Wenn die Begegnung aus der ICH-Identifizierung heraus geschieht, bedeutet dies vorwiegend den Austausch von Konzepten, gemeinsamen Vorhaben oder Vorlieben. Oder sie geschieht auf der Ebene des Seelenbewusstseins in einem Raum der inneren Präsenz, aus dem heraus vielleicht eine gemeinsame Lebensbewegung entsteht. Begegnung entsteht auf einer tieferen Ebene aus dem kollektiven Bewusstseinsfeld heraus, das den gesamten Evolutionsprozess enthält. In diesem kollektiven Bewusstseinsfeld ist das WIR bereits als Potential mit der ihm eigenen Kraft enthalten – hier geht es um Werte wie sich in der Gemeinschaft, Partnerschaft, Kindererziehung und Arbeit in den Dienst zu stellen.
Dr. Rüdiger Höll, stellvertretender Ärztlicher Direktor an den Heiligenfeldkliniken und apl. Professor in Dubna/Moskau, greift in seinem Vortrag „Vom Wandel“ aktuelle gesellschaftliche Phänomene auf. Er stellt eine starke Zunahme der Ichhaftigkeit fest: Die Anzahl der Single- Haushalte steigt, auf Langlebigkeit ausgelegte Beziehung dauern in Deutschland nur noch ca. drei Jahre. Ein Drittel des Bruttosozialprodukts geht verloren durch Kosten, die durch Sucht, Depression und Ängste und deren Folgekosten verursacht werden. Zu den Folgekosten gehören Behandlungskosten, Arbeitsausfälle, Frühberentung etc.“ Der Mensch fällt aus dem WIR und kreist um sich selber.“ Die Menschen sind nach einem Arbeitstag zu erschöpft, um abends mit dem Partner zu kommunizieren im Sinne qualitativer Dialoge oder konstruktiver Streitgespräche. Prof. Höll stellt die provokante Frage: Was macht das ICH mit dem DU, wenn es fehlt und kein WIR mehr da ist?
Dazu einige Fakten: Deutschland hat inzwischen die niedrigste Geburtenrate von allen Ländern der Welt. Von 1991 bis 2013 sind knapp 14 Millionen Menschen ausgewandert. Im Jahre 2013 haben 800 000 Menschen Deutschland verlassen und 110 000 kamen zurück. Nur aufgrund der Zuwanderung bleibt die Gesamtbevölkerung konstant.
15 jährige Mädchen in Deutschland nutzen Medien (Fernseh, Kino, facebook, Internet in den unterschiedlichen Netzen) an durchschnittlich 5,5 Stunden pro Tag, Jungen an 6,5 Stunden, in den USA sind die Zahlen doppelt so hoch. Diese Gegebenheiten beeinflussen das Bindungs- und Beziehungsverhalten:
So streiten 30% der Paare über Unordnung, bei mehr als 20% der Paare entsteht Streit über die Auswahl des Fernsehprogramms. Eine Scheidung wird von 53% Frauen und von 39% Männern beantragt – der Rest vereinbart die Trennung gemeinsam.
Manche Gegend in Deutschland vergreist: Die Gruppe der älteren Menschen ist die am schnellsten wachsende Bevölkerungsgruppe. Zum Thema Schlafstörungen im Alter: Im Alter nimmt die Gesamtschlafzeit ab, was einem normalen Prozess entspricht. Im Durchschnitt werden jedoch älteren Menschen 4,7 verschiedene Schlafmittel verordnet, ohne dass eine Störung vorliegt und dies hat Folgen: „Ein Drittel aller Patienten, die mit Oberschenkelhalsbrüchen in Krankenhäuser eingeliefert werden, sind wahrscheinlich unter dem Einfluss von Benzodiazepinen oder Schlafmitteln gestürzt.“(Die Zeit.11.6.15: Schlaf, Deutschland, schlaf.) In Berlin ist ein altersgerechtes Wohnprojekt für ältere Menschen entstanden, das Außenflächen gestaltet hat, die zum Sich-Bewegen und Spielen einladen. Professor Höll regt an, im Außen WIR-Zonen für Begegnung zu schaffen und den eigenen inneren tieferen Raum zu öffnen für die interaktive Begegnung mit anderen Menschen, sich von ihnen begeistern zu lassen und in der Gewissheit beiderseitiger Freiheit eine Art Probehandeln zum Ausloten verschiedener Möglichkeiten zuzulassen.
Professor Dr. Thomas Loew wies in seinem Vortrag“ Die Neurobiologie des WIR“ auf den Zusammenhang zwischen Körperwahrnehmung und Handeln: Warum er-tragen wir den anderen nicht mehr? Wieso bekommen wir Rück-halt in der Familie? Warum drückt uns etwas? Alles, was wir denken, hat einen körperlichen Ursprung – wenn ein Säugling durch Greifen die Welt in Besitz nimmt, ist dies ein körperlicher Vorgang, der später in eine Versprachlichung übersetzt wird. So erweitert sich der Wortstamm Greifen durch das Hinzufügen von verschiedenen Vorsilben wie be – greifen, er-greifen, um-sich-greifen, zum Greifen nahe. Leben findet zunächst in der Bewegung statt – die meiste Hirnkapazität wird für die Steuerung und Ausrichtung von Bewegungsimpulsen benötigt.
Grundsätzlich unterscheiden wir zwischen Empfindung und Fühlen. Es braucht eine Empfindungsschule für eine Welt, in der die Menschen vom ersten Lebenstag an „durchgepampert“ und klimatisiert werden, ferngehalten von einer kratzigen Umwelt, es muss alles „weichgespült“ sein, innerlich und äußerlich. Es gibt immer weniger Räume, in denen Kinder differenziertes Empfinden lernen. „Wenn verhindert wird, dass sie im Schlamm sitzen und merken, dass Steinchen pieksen können, sondern stattdessen der Sandkasten mit Vogelsand gefüllt ist, fehlen wesentliche Körpererfahrungen.“
Im Gegensatz zu heute waren früher mehrere Kinder in einen Haushalt eingebunden, Streit im Spielzimmer gab es nicht, da es keine Spielzimmer gab. Kinder mussten sich sozial engagieren, Rücksichtnahme lernen und Verantwortung übernehmen. „Das fällt in dieser alleinerziehenden Singlegesellschaft, die geprägt ist von der Suche nach Erfüllung der eigenen Bedürfnisse, komplett weg. Das Kind erlebt vielleicht die Hartz-4 Mutter in der Einraumwohnung, sieht RTL und findet das normal.“
Prof Loew sagte, inzwischen sei weitgehend vergessen, dass Menschen die Lernschule Leben nur miteinander durchschreiten können. So braucht ein Kind die permanente elterliche Rückmeldung, um einordnen zu können, was passiert. Diese Funktion kann nicht delegiert werden an Touchpads oder MP3 Player. Vorgelesene Geschichten, die mit einer unmittelbaren leib-haften Bewegung einhergehen: wie sich Erschrecken oder Wut anfühlen, wenn wieder irgendein Riese irgendeinen Zwerg durch die Luft wirft – diese Qualitäten sind nur erfahrbar im unmittelbaren Kontakt. In der körperlichen Berührung zwischen Menschen findet sich die körpereigene Apotheke: Berührung mobilisiert Oxytocin – und das bedeutet: Die WIR Konsequenz, die aus der Begegnung von ICH und DU entsteht, ist gut für den Stoffwechsel. Das WIR ist die Basis unseres sozialen Zusammenseins und dient in erster Linie der Angstreduktion. Dabei verhalten sich unsere Abwehrzellen im Blut wie soziale Systeme, unser Umgang mit Stress wirkt sich stärkend oder schwächend auf die neuronalen und zellulären Abwehrsysteme aus.
In seinem Abschlussvortrag ging Dr. Galuska (siehe links im Bild) dann auf eine zeitgemäße, sich gerade entwickelnde Spiritualität ein, die nicht im Rückzug, sondern mitten im gegenwärtigen Leben stattfindet. Dazu gehört die Befreiung von den Zwängen und einengenden Strukturen des ICH Bewusstseins. Aus der Bereitschaft, seinem Herzen zu folgen, sich einzulassen und sich zu erfahren in menschlichen Beziehungen und Begegnungen kann eine tiefe Verbundenheit entstehen. Im unmittelbaren Wahrnehmen des anderen liegt die Erkenntnis, dass“ der andere mehr ist, als alles, was ich von ihm denken kann und dass er mehr ist, als er selbst von sich lebt.“ Diese Art der Spiritualität ist mehr ein Weg der Begegnung, der CO- Kreation, die das WIR einlädt und umfasst, die nicht nur erkennt, sondern auch gestaltet. Dies entspricht einer spirituellen Haltung, die sich durch das Leben bewegt, die zum Leben hingeht und versucht, sich dem Leben mit all den vielfältigen Erscheinungsformen vertrauensvoll hinzugeben. Aus diesem ICH transzendierenden Prozess können Leichtigkeit und Freude entstehen. Dieser Prozess kann dazu beitragen, sich immer mehr der Qualität einer evolutionären Transzendenz zu überlassen, die vom Erkennen ins Handeln und vom Zustand in einen Prozess zu führen imstande ist.
Ca. 22 Vorträge, 45 Workshops und ein gelungenes und auf die Inhalte perfekt abgestimmtes Rahmenprogramm boten Gelegenheit, die eigene Position zu hinterfragen, sich von der Begeisterung anstecken zu lassen und Impulse für den persönlichen Lebensalltag mitzunehmen.
Der nächste Kongress der Akademie Heiligenfeld findet vom 2.-6.Juni 2016 in Bad Kissingen statt. Das Thema lautet: Spiritualität im Leben. Man darf gespannt sein, ob die hier „ins Feld gesetzten Visionen“ dann schon einen Rahmen in der gesellschaftlichen Gemeinschaft gefunden haben.
Ein Artikel von Patricia Lüning-Klemm, www.patricia-luening.de