Bei einem tantrischen Ritual ist die rituelle Projektion (nyasa) von Vorstellungen der Göttinnen und Götter (devata) auf verschiedene Körperteile von besonderer Wichtigkeit, denn so wird der Übende vom Göttlichen und seinen Manifestationen durchdrungen und verbindet sich mit dem göttlichen Selbst. Die Ausübung von nyasa soll das Nervenzentrum reizen und die Shaktis des Körpers richtig verteilen. So wird Ablenkung während der Übung vermieden und der höchste Zustand leichter aufrechterhalten.
Die unterschiedlichsten Riten wie Gebärden (→ Mudras), das Berühren der Körperteile und die Vorstellungen haben nicht nur symbolische Bedeutung. Mit diesen Methoden soll das Einfühlungsvermögen vergrößert, die Konzentration vertieft und das Bewusstsein erweitert werden. Der Gebrauch von → Mantras ist ebenfalls unerlässlicher Bestandteil des → Tantra-Weges. Die fortwährende Wiederholung (japa) soll ein Wellenmuster erzeugen, das die Kraft der Shakti weckt. Manche Autoren meinen, dass die Wirkung der Mantras nicht so sehr auf der „Schwingung“ beruht, sondern eher auf dem damit verbundenen geistigen Vorstellungsbild. Die Wurzelmantras (bija) werden meistens vom Lehrer weitergegeben, weil es nicht nur auf die richtige Aussprache und das Begreifen der Bedeutung ankommt, sondern auch auf die Kraft, die damit verbunden ist.
Der Geschlechtsakt ist dabei eine meditative Körperhaltung (Asana), in der der Geist sich von der äußeren Welt zurückzieht und sich frei von Begierden und Wünschen macht. Dabei wird die sexuelle Energie konzentriert und der Akt längere Zeit ausgedehnt, sodass ein starker innerer Druck aufgebaut wird, der die höchste Glückseligkeit durch das Aufsteigen der → Kundalini-Kraft auslöst. Hier unterscheiden sich jedoch buddhist. Tantras von hinduist. Agehananda Bharati betont, dass „der hinduistische Tantriker sein Sperma ausstößt, der buddhist. Vajrayana-Eingeweihte jedoch nicht“ (das buddhist. Hevajra-Tantra jedoch deutet keine Notwendigkeit an, das Sperma zurückzuhalten).
„Als allgemeine Regel kann jedoch sicherlich gelten, dass der hinduistische Tantriker das bija mit dem abschließenden svaha entlässt – die Formel, die alle Opfer und Trankopfer in der indischen Tradition beschließt –, der buddhist. Vajrayana-Eingeweihte es aber zurückhält und zurück in den Körper transformiert, wobei er auf die drei Edelsteine – Atem, Denken und Samen – in einem simultanen Akt abzielt, der, wenn er erfolgreich ist, den Zustand der Einheit in Zweiheit schenkt, dessen bildliche Darstellung das yab yum ist.“ (Agehananda Bharati 1977; → Tibet-Tantra, → Tao-Yoga)
Für den Hindu ist der Begriff des rituellen → Opfers absolut bedeutend. Bei jeder Gelegenheit führt er Opferrituale durch. Die Idee des Opfers (yajna) ist entsprechend auch im Tantra wichtig. Das rituelle Ideal liegt im Loslösen, Entsagen, Aufgeben aller verwendeten Ingredienzen, sogar in der Aufgabe des eigenen Lebens. „Nichts wird zurückbehalten“, schreibt A. Bharati, „und sei es noch so lieb und teuer. … Wenn dem so ist, dann folgt daraus, dass kein rituelles Ingrediens einschließlich des maithuna [die sexuelle Vereinigung] zurückgehalten werden kann – auch dies muss dem Opferfeuer überlassen werden“ (1977). Zumindest im asketischen Tantra wird die sexuelle Hingabe als Opfer verstanden und tatsächlich im puritanischen Indien nie so eingesetzt, wie es im Westen propagiert wird.
Selbstverständlich wird der „linkshändige“ Pfad auch in Indien praktiziert. Eine ausführliche Beschreibung und Anleitung lieferte das Autorenteam Nik Douglas und Penny Slinger in ihrem Werk „Das große Buch des Tantra“. In ihrem Vorwort betonen sie:
„Das Kern-Erlebnis von Tantra sind die sexuellen Geheimnisse. Tantra ist eine Philosophie, eine Wissenschaft, eine Kunst und eine Lebensart, wo sexuelle Energie bewusst und kreativ genutzt wird. Die mystischen Abhandlungen, allgemein als Tantras bezeichnet, enthalten ein breites Spektrum praktischer Techniken zur Erhöhung des sexuellen Bewusstseins mit dem Ziel, Transzendenz zu erreichen.“ (Nik Douglas/Penny Slinger 1985)
Es ist allerdings so, dass dieses Wissen meist den oberen Schichten vorbehalten war, die es auch ausgiebig praktizierten – während das Volk so mit dem Überleben zu kämpfen hatte, dass es nicht in der Lage war, sich auf tantrische Rituale überhaupt vorzubereiten, geschweige denn die Zutaten dafür bezahlen zu können.
Grundsätzlich müssen wir davon ausgehen, dass die wörtlichen, sexuellen Tantra-Lehren nicht die übliche Praxis waren und hauptsächlich in aristokratischen Häusern ausgeübt wurden. Schriften wie das Kamasutra oder das „Ananga Ranga“ sprechen natürlich eine direktere Sprache als die religiösen Tantra-Texte. In den Tantras selbst gibt es so auch eine Vielzahl frommer Ermahnungen zu asketischen Übungen und einem enthaltsamen Leben, die ganz im Sinne der üblichen Weltentsagung des Hinduismus sind.
„Diese Ermahnungen werden meiner Meinung nach aber nur gemacht, um dem indischen Publikum die Lehre ein bisschen schmackhafter zu machen. Die tantrische Methode steht eben dem offiziellen ‚Klima’ völlig entgegen. Die Tantras lehren nicht, die Sinne auszuschalten, sondern ihre Kraft zu steigern und sie dann einzusetzen, eine anhaltende Enstase [ein Begriff von Mircea Eliade, der die Erfahrung des Samadhi von Ekstase abgrenzen möchte] zu erlangen. Das Ziel dieser Methoden ist also dasselbe wie das der Orthodoxen.“ (Agehananda Bharati 1977)