Inzwischen weiß man, dass schon die Frühmenschen Musik und Tänze kannten. Der Tübinger Professor für Ur- und Frühgeschichte Hansjürgen Müller-Beck schreibt dazu: „Wahrscheinlich klopften ein paar von ihnen den Takt mit Ästen oder Knochen, dafür sprechen rhythmische Kerbungen, die wir auf Knochen gefunden haben“ (PM-Magazin 08/2004.) Es wurde in der Geißenklösterle-Höhle, Achtal, Schwäbische Alb sogar eine Flöte aus Schwanenknochen entdeckt, die ca. 36 000 – 32 000 Jahre alt ist.
Die meisten indigenen Gemeinschaften entwickelten kultische und rituelle Tänze für verschiedene Zwecke. Der rituelle Tanz, der die Elemente von Bewegungsformen, Rhythmus, Klang und Stimme in sich vereint, gehört immer noch zu den Instrumenten, um gestörte Ordnungen ins Gleichgewicht zurückzubringen. Durch rituelle Tänze, die auf exakten Gesetzmäßigkeiten von Zahl und Rhythmus beruhen, wird auch heute noch in vielen lebendigen Traditionen die „Ordnung der Welt“ immer wieder neu in die Harmonie gebracht und die Wirklichkeit unserer Welt immer wieder neu erschaffen.
Jeder Tanz ist eine fließende oder rhythmische Bewegung, die nur erreicht wird, wenn das Zentrum des Bewusstseins geweckt ist, das die verschiedenen Teile des Körpers koordiniert. Der Körper bzw. das motorische Zentrum muss sich von selbst bewegen, jeder Gedanke behindert den Fluss. Aus diesem Grund haben Tänze in vielen Traditionen einen Bewusstseinseffekt. Viele rituelle Tänze sind choreografiert, d.h. bestimmte festgelegte Bewegungsabläufe müssen gemeistert werden:
„Im Kunsttanz ist das Unwillkürliche durch Körperbeherrschung gebannt. Im Volkstanz schwingt noch die intuitive Kenntnis von der therapeutischen Wirkung des Tanzrausches mit und lässt im Rahmen der Stilisierung das Unwillkürliche bedingt zu. Es hängt von der didaktischen Vermittlung ab, inwieweit den Tanzbewegungen eine energetische Erfahrung beigemessen wird.“ (Kaye Hoffman 1986)
G.I. → Gurdjieff verband diese beiden Elemente zu seinen „Movements“, rituellen Tänzen, die Körperbeherrschung und Intuition schulen und gleichzeitig etwas von kosmischen Gesetzen vermitteln. Aber auch bei klassischen Volkstänzen kommt die „Stilisierung des Unwillkürlichen“ zum Ausdruck. Kaye Hoffman zeigt dies anhand eines kroatischen Volkstanzes:
„Eine Bewegungsfolge einfacher, sehr rhythmischer Tanzschritte wird abgelöst von einer Choreografie, die die Gruppe in Paare aufteilt und den Paaren eine getanzte Annäherung vorschreibt, bis es zum Händedruck kommt. In dieser Phase der Annäherung geht ein anhaltendes Zittern durch die Tänzer, gerade so, als würde sie die Scheu, die Scham oder auch die Erregung nur so beuteln. Hier überlagert sich die dargestellte Form mit der Darstellung eines energetischen Zustands und ruft beim Zuschauer eine heitere Reaktion hervor, denn in der Überlagerung erkennt er sich selbst, wie er sich zu beherrschen versucht und doch ab und zu aufgeben lassen muss – und will!“ (Kaye Hoffman 1986)
Beim Drehtanz der Mevlevi-Derwische (→ Sufismus) gibt es – obwohl man scheinbar nur die drehenden Tänzer sieht – auch eine Choreografie: Die Bewegungen der Tänzer stellen eine Bewegung der Planeten um die Sonne (der Meister in der Mitte) dar. Gleichzeitig drehen sich die Tänzer wie Planeten um sich selbst. Um nicht schwindelig zu werden, muss der Tänzer sich um eine vorgestellte innere Achse in wachem Bewusstseinszustand drehen. Das gesamte Tanzritual führt in eine andere Bewusstseinsebene. Deshalb reicht es nicht, die Drehung zu lernen, was ja für sich allein schon recht interessant ist. Die tiefe Wirkung des Tanzes entsteht erst durch das Gesamtritual.
Dasselbe gilt, wie oben beschrieben, auch für „Volkstänze“, die oft schamanische oder religiöse Wurzeln haben, wobei es hier unterschiedliche Anlässe gibt. Ein interessantes Beispiel sind die engl. Morris-Tänze („Morris“ ist mit unserem Wort „Mauren“ verwandt und verweist auf afrikanische Ursprünge). Die choreografierte Kombination von Tanzschritten und Bewegungsabläufen zusammen mit einer lebensfrohen, rhythmischen Musik lässt selbst die Zuschauer nicht unberührt. Dasselbe gilt sicherlich auch für die indianischen, tibet. oder balinesischen Maskentänze. Tänze sind immer ein gemeinschaftliches Ritual, in dem Tänzer wie Zuschauer zugleich einbezogen sind.
Eine gesteigerte Form dieser Tänze ist der Tanz in → Trance bei indigenen Völkern:
„Die Shoshonen nennen den Sonnentanz ‚Tanz-trocken-stehend’, und das stellt schon die zwei wichtigsten Merkmale dar, den langen Tanz und das Nichttrinken. Mit Schlaf- und Ruhepausen, meistens in der Nacht, wird drei bis vier Tage lang getanzt. Während der ganzen Zeit zwingt man die Tänzer, nichts zu essen und zu trinken. Die Füße werden auf dem steinigen Grund bald wund; die Hitze untertags, der Durst und die Kühle der Nacht sind sehr fordernd. Dieses Leiden ist nach Ansicht der alten Prärieindianer wichtig und bedeutungsvoll: es soll die übernatürlichen Kräfte auf die Tanzenden aufmerksam machen …“ (Åke Hultzkrantz).
Es steht zu erwarten, dass bei so intensiven Tänzen ohne Flüssigkeitszufuhr Dehydrierungsprobleme auftreten. Eine Nachahmung ist daher nicht zu empfehlen.
Leider beschreibt der Autor keine Bewegungsabläufe. Diese sind genauso wichtig wie das Fasten. Denn auch beim Trance-Tanz gibt es bestimmte Fußschritte und Haltungen, die durch ihre dauernde Wiederholung zusammen mit dem gleichmäßigen Trommelrhythmus von drei bis vier Schlägen in der Sekunde zum gewünschten Ergebnis, zur Ekstase, führen. Ich erlebte einen solchen Tanz in einem Pueblo in New Mexico, bei dem ich allein durch die Beobachtung der Tanzbewegungen und das Erleben des Trommelrhythmus plötzlich in einen Trancezustand fiel.
Die → Trance kann einen Verlust der willentlichen Bewegungskontrolle einschließen sowie mit Halluzinationen und Visionen einhergehen, die häufig wieder vergessen werden. Ein Tanzritual in Marokko ist die hadra der Hamadsa-Derwische (→ Derwische). Die Hamadsa kennen zwei Trance-Zustände, hal und gidba. Hal ist ein Zustand der Verzückung, der von anderen Sufis auch als wagd, Ekstase, bezeichnet wird. Gidba ist eine mehr rasende Trance. „Sie ist eine strukturierte Erfahrung, bei der der Akteur über relativ komplexe Verhaltensweisen verfügt, aber nicht die gleiche Selbstbeherrschung wie beim hal beweist. Sie lässt sich einem Zustand extremer Raserei vergleichen“, schreibt der Ethnologe Vincent Crapanzano (1981). „Männer und Frauen unterscheiden sich deutlich in den Grundfiguren ihres In-Trance-Verfallens und Tanzens.“
Interessant ist die Anmerkung des Forschers, dass männliche tanzende Transvestiten zwischen den charakteristischen Tanzschritten für Männer und Frauen hin und her wechselten, „offenbar unfähig, sich für den ihnen gemäßen Tanzstil zu entscheiden“:
„Einige der jungen männlichen Tänzer treten in den hal auf dieselbe Weise wie die Frauen ein, besonders wenn sie zum ersten Mal in Trance verfallen. Aber die meisten männlichen Verzückten arbeiten sich langsam in die Trance hinein. Sie reihen sich freiwillig bei den Tänzern ein und steigern sich dann mit Hilfe der Atem- und Tanztechniken in den hal. Wenn sie im hal sind, können sie dem Rhythmus und den Tanzschritten der hadra [die Gruppe] folgen; ihre Bewegungen sind möglicherweise vereinfacht und wirken anmutig und geradezu traumwandlerisch.“ (Vincent Crapanzano 1981)
Diese Aussage ist sicherlich für die meisten der choreografierten Trance-Tänze gültig, wobei die Zustände und ihre Auswirkungen (die Hamadsa sind bekannt für Selbstverstümmelung, meistens am Kopf, wenn sie in „Raserei“ sind) bei unterschiedlichen Kulturen und Trance-Tänzen natürlich verschieden sind. Während die Hamadsa manchmal von einem Dschinn (→ Geister) befallen werden, kommt bei → Voodoo-Tänzen häufig eine so genannte Besessenheit durch einen der Götter vor. Die Erfahrung in der → Trance scheint in dieser Hinsicht religiös und soziokulturell bedingt.
Kay Hoffman beschreibt eine Erfahrung mit dem Candomblé (→ Voodoo):
„Die Trommler, die auf der Seite bereit saßen, begannen auf einen Wink der mae erneut zu spielen. Die Runde der Tänzerinnen schloss sich zum Kreis, die Trommeln drängten sich auf und schienen in ihrer Nerven zerreißenden Wirkung nur durch die Kreisform erträglich. Der einfache Tanzschritt des einmal rechts, einmal links ausgestellten Spielbeins, das sich jedoch zum Schwingen des Oberkörpers, dem Pumpen der Ellenbogen und dem Nicken des Kopfes merkwürdig verschoben verhielt und dennoch oder gerade deshalb den Eindruck filigranhaft durchgestalteter Harmonie machte, führte nahtlos von einer Halbkreisdrehung über in die andere, an die unablässige Hin- und Herbewegung einer Spule erinnernd. Die Tänzerinnen bewegten sich auf einer Kreisbahn … Dann fällt die erste in Trance. Ich sehe es nicht, aber ich spüre, dass etwas los ist. In der Mitte der Tänzerinnen hat sich eine Art Strudel gebildet, eine Bewegung, die die Monotonie der Schritte unterbricht und ein Loch reißt …“ (Kay Hoffman 1986)
Der hl. Tanz ist ein großartiges Instrument, innere Bilder wiederzuerwecken, die Bewegungen der Seele mit dem Körper auszudrücken. „Mit der Bewegung werden die Lebensströme wieder neu geweckt und beginnen wieder zu fließen“, erläutert Walburga Sprang in einem Zeitschriftenartikel. Denn „Lebensfreude ist nichts, was mit äußeren Dingen zusammenhängt, sondern sie ist der Fluss der Energie im Körper“ (in: Cosmopolitan 12/1992).