„Die Unterscheidung von Erkennendem, Erkenntnis und dem Ziel der Erkenntnis hat im alles transzendierenden Selbst keinen Bestand. Weil dieses die Natur jener Seligkeit hat, die Reines Bewusstsein ist, leuchtet es aus sich selbst“ (Chandogya-Upanischad).
Vedanta heißt wörtlich „Ende der Vedas“, womit vollständiges Wissen der Veden gemeint ist. Er ist keine bloße Hinzufügung zu bestimmten Abschnitten des Veda wie die Brahmanas, sondern eine Reinterpretation der grundlegenden Wahrheit. Der Vedanta ist mit der Uttara-Mimamsa-Schule verbunden. Die Weltanschauung der Vedantisten ist monistisch und wurde nicht wie die der anderen → Darshanas von einem besonderen Lehrer formuliert, sondern leitet sich von den Lehren der Upanischaden her. Daher lassen sich drei vedantische Richtungen unterscheiden:
1. advaita, die Lehre des reinen Monismus, die Jnana-Yoga, den Weg der direkten Erkenntnis oder spirituellen Disziplin, befürwortet;
2. dvaita, die Lehre des gemäßigten → Dualismus, die → Karma oder physische Disziplin betont; und
3. visisthadvaita, der → Bhakti oder rechtes Verhalten, also ethische Disziplin lehrt.
Der erste Exponent des Advaita-Vedanta war Badarayana, der die Vedanta- oder Brahmasutras formulierte (zwischen 200 und 450 n.u.Z.) Es gibt kaum Zweifel daran, dass die buddhist. Theorie des sunya (des Wirklichen) von den Ansichten Gaudapas (um 500) beeinflusst wurde. Er war der erste große Vertreter des Advaita-Vedanta. Shankara (798-830) gründete seine Überlegungen auf die berühmte Textstelle in der Chandogya-Upanishad: tat tvam asi – „Das bist du“. „In dem, was dieses unsichtbare Wesen ist, hat alles sein Bestehen. Das ist die Wahrheit. Das ist das Selbst. Und das, o Svetaketu, das bist du!“ (Übersetzung Frank Dispeker 1951).
Er erklärte, dass „du“ und „das“ nicht als Objekt und Subjekt unterschieden werden können, sondern identisch seien. „Das“ ist Brahman und „du“ ist Atman. Daher seien Körper, Verstand (manas), Intellekt (buddhi) und Ego (ahankara) Gegenstände des Wissens und veränderlich und deshalb nicht der Atman. „Der Atman ist unteilbar, ewig, das Eine ohne ein Zweites. Ewig offenbart es sich durch die Kraft seines eigenen Wissens.“ An anderer Stelle sagt er: „Der Atman ist verschieden von Maya, der ersten Ursache und von ihrer Wirkung, dem Weltall. Das Wesen des Atman ist reines Bewusstsein. Der Atman enthüllt das ganze Weltall von Bewusstsein und Materie“ (Shankara 1981).
Der Kosmos ist ein Ergebnis des Nichtwissens und auch der Vorstellung, die wir uns davon machen. → Maya ist die Illusion oder der Schleier vor der Wirklichkeit der höchsten Erkenntnis. Die Täuschung wird beseitigt durch → Samadhi, den außergewöhnlichen Bewusstseinszustand: „Durch Unterscheidung kann er die wahre innere Bedeutung der Begriffe → Brahman und Atman erkennen und ihre absolute Identität erfahren. Erkenne die Wirklichkeit in beiden und du wirst sie als Einheit sehen“ (Shankara 1981).
Der Yoga Shankaras ist Jnana-Yoga, der Weg der direkten Erkenntnis. „Er ist der Yoga der reinen Unterscheidung, der den Intellekt mit Hilfe des Intellekts überwindet. Er benötigt weder Ishvara (Gott) noch Altar, weder Bild noch Ritual, sondern sucht einen unmittelbaren Zugang zu dem unpersönlichen Brahman“ (Prabhavananda).
Shankaras Gegenspieler war Ramanuja, der im 10. Jh. lebte. Er behauptete, dass Atman und Brahman relative Begriffe seien – wie der Teil und das Ganze (vishistadvaita). Als → Vaishnava führte er den → Bhakti-Gedanken in den Vedanta ein. Die späteren Vedantasara, Leitfaden des Vedanta (15. Jh.), unterstreichen, dass der Mensch sein Ego nur durch Hingabe an das Göttliche überwinden kann. Um vom Nichtwissen (avidya oder ajnana) zum Wissen (vidya oder jnana) zu gelangen, muss der Übende mit Hilfe seines Gurus eine Reihe von Übungen durchführen:
1. Das erste Übungsstadium ist shravana, Studium, Anhören des Lehrers und gründliches Lernen der vedischen Schriften.
2. Das zweite Stadium der geistigen Entwicklung heißt manana, Denken, Verstehen und Überlegen (→ Meditation).
3. Das dritte Stadium ist nididhyasaman, die Konzentration auf die innere → Vision, über das Denken hinaus. Das → Bewusstsein nimmt dabei die Form des → Brahman an, indem es darin aufgeht.
4. Die vierte Stufe ist das vollständige Verschmelzen mit dem Wesen des Selbst, → Samadhi.
Vom vedantischen Schüler wird ein strenges, asketisches Leben gefordert, das darauf hinausläuft, auf die Welt zu verzichten. Das Ziel ist, → Nirwana zu erreichen, die Verwirklichung des Selbst im Leben, um aus dem Strom der Wiedergeburt und des Leidens auszutreten.
Der Zustand des befreiten Menschen, des „schon zu Lebzeiten Erlösten“ (jivanmukta), wird in vielen Texten der Vedanta-Richtungen beschrieben. Er stellt das Ideal des „göttlichen Menschen“ auf Erden dar. Wer das Absolute (Brahman) in seinem eigenen Geist (Atman) erfahren hat, wird frei von der Verhaftung an die Welt der Erscheinungen (Maya) und ihre illusionären Formen. Er hat die Unwissenheit überwunden und Wissen (jnana) erworben. Er erlebt als unbeteiligter Zeuge seine eigene Person und alles, was mit ihm in Berührung kommt, identifiziert sich aber nicht mit der Welt und hat das Karma aufgelöst.
Für radikale Nichtdualisten ist selbst das Wort „Befreiung“ relativ. Gaudapa formuliert diese Position folgendermaßen: „Da gibt es keine Auflösung, keinen Anfang, keine Fesseln, auch keinen Anwärter, da gibt es keinen, der sich nach Befreiung sehnt, noch gibt es eine befreite Seele. Das ist die letzte Wahrheit“ (zitiert nach Heinrich Zimmer 1973, 408).
Die Lehre des Advaita-Vedanta erregte zwar die Aufmerksamkeit vieler Europäer, doch in Indien wurde sie nie wirklich populär. Viele bekannte Advaita-Vedanta-Lehrer modifizierten die Lehre mit religiösen hinduist. Elementen. Besonders die Meister der Neuzeit, wie Ramakrishna (1836-1886) und dessen Schüler Vivekananda (1863-1902), bezogen den → Bhakti-Yoga in ihr vedantisches Weltbild mit ein. Ramakrishna verehrte Gott v.a. in Gestalt der Göttlichen Mutter → Kali, deren segnende und schützende Erscheinung auf den Unwissenden Schrecken erregend wirkt. Für ihn war Kali jedoch die Kraft, die das Vergängliche zerstört, um den unsterblichen Geist und die All-Liebe in jedem Wesen freizusetzen.
Später praktizierte Ramakrishna sämtliche Disziplinen der Tantra-, Vaishnava- und Advaita-Vedanta-Lehre. Er ließ sich von einem Sufi (→ Sufismus) in den Islam einführen und hatte Visionen von Christus. Mit diesen nichthinduist. Einweihungen wollte er die Universalität des → Bhakti-Weges zeigen. Die Ramakrishna-Missionen in Indien sind heute darüber hinaus auch in ganz praktischer Entwicklungshilfe tätig. Siehe auch: → Ramana Maharshi, → Nisargadatta Maharaj, → Ganapati Saccidananda, Jiddu → Krishnamurti, → Maharishi Mahesh Yogi, → Swami Rama.
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