Die Herkunft des Mythos vom hl. Gral ist vermutlich irischen Ursprungs. Poetisch bearbeitet erscheint die Sage zuerst in Frankreich Mitte des 12. Jh. im Versroman von Robert de Boron „Die Geschichte des heiligen Gral“. In die dt. Dichtung wurde die Sage zuerst von Wolfram von Eschenbach in seinem „Parzival“ eingeführt. Wolfram von Eschenbach (um 1170/80 – um/nach 1220) war ein dt. Ritter und Dichter. Die mittelhochdt. Literatur verdankt ihm einige ihrer größten epischen Werke. Eschenbach hatte in Südfrankreich Kontakt mit Troubadouren und → Katharern. „Parzival“ ist das erste in mittelhochdt. Sprache erhaltene Werk, das sich um den hl. Gral rankt. Wolfram ließ sich bei der Abfassung wohl von Chrétien de Troyes „Perceval“ inspirieren, schrieb jedoch selbst, dass er dessen Darstellung für falsch halte, und stellte ihr eine eigene Fassung aus einer anderen Quelle gegenüber.
Geschildert wird die Geschichte zweier Helden: Parzivals Leben von seiner Kindheit über die Zeit als Artusritter bis hin zum Gralskönigtum, das von menschlicher Sündhaftigkeit und Gottes Gnadenwirken geprägt wird. Der zweite Held, Gawain, verbleibt im Normgefüge des Artuskreises. Der „Parzival“ bricht die Immanenz der höfischen Gesellschaft durch die Projektion auf eine universale Ebene auf. Es ist eine klassische Geschichte der Suche nach geistiger Entwicklung und → Erleuchtung. Der Weg zum Gral ist sehr beschwerlich, denn er führt in die Gralsburg, den Tempel des Grals, die so liegt, dass jeder, der in die Mysterien eingeweiht werden will, zu seiner → Initiation eine Prüfung bestehen muss: nämlich, die Burg erst einmal zu finden. Parzivals Erfahrung ist beispielhaft für viele, die sich unvorbereitet auf den Weg machen und von etwas geblendet werden, das sie nicht verstehen. Um die Gralsgeschichte ranken sich viele andere Mythen und Spekulationen; so baut die britische Sage um König → Artus darauf auf, auch wenn ältere Mythen darin integriert sind.
Der Mythos vom hl. Gral (wohl von sang réal, „königliches Blut“) geht wahrscheinlich auf den archaischen Kessel der Wiedergeburt an der Wurzel des → Weltenbaums zurück. Bei den Schamanen einiger Ethnien Zentralasiens spielt der Kessel bis heute eine wichtige Rolle für die Initiation: Um Schamane zu werden, muss der Mensch von den Geistern seiner Ahnen getötet und in einem magischen Kessel gekocht werden, bis nur noch die blanken Knochen von ihm übrig sind. Neues Fleisch umhüllt dann seine Knochen, und so wird er wiedergeboren aus dem Kessel des kosmischen Ur-Ozeans, aus dem Schoß der Großen Mutter.
Für gewöhnlich wurde der Kessel als Quelle des Lebens, der Weisheit und Inspiration beschrieben. Der blutgefüllte Kessel entspricht dem ursprünglichen Ur-Ozean, der Gebärmutter der Göttin. Bei Kessel, Gral und späteren alchemistischen Gefäßen wie dem Destillierkolben (→ Alchemie) handelt es sich immer um weibliche Symbole. Ihre Dreiheit entspricht den drei Aspekten der späteren Großen → Göttin. So ist die Suche nach dem hl. Gral eng verbunden mit dem alten Mythos des → Weltzentrums. Außer anderen Elementen der Suche oder der Reise in die Anderswelt ist die Suche nach dem Gral gleichzeitig die Suche nach der Frau und Göttin. Wer sie gefunden hat, findet auch den Gral. Die Vereinigung mit dem Helden, dem jungen Sohn der Mutter, ist die Hochzeit in höchstem Glanz, die → Ekstase, die den Lebenden in dieselbe Dimension führt wie die Toten.
Der Einweihungsweg, den die Gralsgeschichte zeigt, ist ein typisch europ. Weg, der seine Wurzeln wohl in der gemeinsamen Mythologie der nord. Völker hat. In den indischen Vedas (→ Brahmanismus) stahl der Himmelsgott Indra (auch Varuna genannt) das weise Blut aus den drei Kesseln der dreifachen → Kali. Vedische Hymnen nannten es das „Soma“ der Götter. Wahrscheinlich sind damit die magischen Pflanzen der Erde gemeint, die bewusstseinsoffenbarenden Pflanzen. So deutet die Suche nach dem Gral tatsächlich die Suche nach dem Saft der Pflanzen der Unsterblichkeit und ihrer Fähigkeit zur Bewusstseinserhellung, der Erleuchtung, an.
Diese Vorstellung ist insofern wichtig, als häufig spätere ritualisierte Formen der → Religion, die viele schamanische Züge aufweisen, als die eigentliche spirituelle Ausdrucksform unserer westlichen Kultur angesehen werden. Es scheint, dass die aktive Suche und das weltlich bezogene Leben, die aus der altsteinzeitlichen Jägerkultur stammen – „der Weg des Helden“ –, eine typische nordeurop. Ausprägung ist. Erst mit dem Beginn der Ackerbaukultur kommen die hierarchischen Götterwelten ins Bewusstsein.
Der Weg des Helden ist der große Mythos, der sich durch die europ. Glaubensvorstellungen zieht, im weltlichen wie spirituellen Sinne. Ein typisches Beispiel dafür ist J.R.R. Tolkiens „Herr der Ringe“, in dem nicht nur der alte → Dualismus vom Kampf des Guten gegen das Böse mythisch verklärt dargestellt wird, sondern auch der Weg des Helden in Person des kleinen Hobbit Frodo thematisiert wird. Der Mythenforscher Joseph Campbell weist nach, dass es eine gewisse heldentypische Handlungsabfolge für einen mythischen Helden gibt:
„Im Kern, könnte man sogar sagen, gibt es nur einen einzigen archetypischen mythischen Helden, dessen Leben in vielen Ländern von vielen, vielen Menschen nachgestaltet worden ist. Ein Sagenheld ist meistens der Gründer oder Stifter von etwas, der Gründer eines neuen Zeitalters, der Stifter einer neuen Religion … Um etwas Neues zu stiften, muss man das Alte verlassen und auf die Suche nach dem Samengedanken gehen, der die Anlage besitzt, dieses Neue hervorzubringen.“ (Joseph Campbell 1989, 161)