Eines der berühmteren Beispiele für „objektive“ → Architektur ist die Kathedrale von Chartres. Sie steht auf einer Höhle, die ursprünglich eine Dolmenkammer war. Dolmengräber wurden in der Kultur der → Megalithbauten (Jungsteinzeit, ca. 2 500 v.u.Z.) aus mehreren steinernen Stützen mit einer Deckplatte aus einem großen flachen Felsstein errichtet, der meist mit einem Erdhügel überwölbt war. Höhlen waren seit der Vorzeit häufig Ritual- und Kultplätze (z.B. die Höhle von Lascaux, 20.000 Jahre alt, → Kunst). In Andalusien hat man eine Dolmenplatte gefunden, die 30 Meter lang und breit war, eine erstaunliche Größe, insbesondere wenn man an den Transport denkt.
Später wurden mit Hilfe von Kuppel und Rundbogen eine Art „künstliche Höhle“ über der Erde errichtet: die romanischen Kathedralen. Ende des 11. Jh. entdeckte man den Spitzbogen und seine physiologische Wirkung auf den Menschen: unter dem Spitzbogen richtet sich der Mensch auf, er errichtet sich. Damit erwachte der Mensch zum Bewusstsein seiner Individualität. Noch bemerkenswerter ist indes die spirituelle Absicht dahinter. Durch die innere wie äußere Aufrichtung stellt sich der Mensch so zwischen Himmel und Erde, dass er im Einflussbereich beider Sphären steht.
Durch den Einbezug der Höhle in das Bauwerk wurde die Schwingung beider Bauwerke verdoppelt. Das Gewölbe der Kathedrale ist genauso hoch (37 Meter) wie die Höhle unter der Kathedrale und steht mit dieser in Resonanz.
„Das gotische Bauwerk erfordert, um überhaupt bestehen zu können, dass Schub und Gewicht genau aufeinander abgestimmt sind. Das Gewicht des Gewölbes, das den Seitendruck erzeugt, wird durch die Form des Gewölbes aufgehoben. Die steinerne Sprungfeder befindet sich also in fortwährender Spannung, die durch die Kunst des Baumeisters ‚gestimmt’ werden kann, nicht anders als man eine Harfensaite stimmt. Dass die Kathedrale ein Musikinstrument sei, ist nicht nur ein schöner Vergleich, sie ist es tatsächlich.“ (Louis Charpentier 1972, 39)
Der Spitzbogen von Chartres ist über einem Fünfstern (Pentagramm, → Zahlen, Zahlenmystik) errichtet, dem traditionellen Symbol für den Menschen. Das hat die Wirkung, dass ein aufmerksamer Mensch, der den Weg vom Eingang bis zum Altar durchschreitet, bestimmte innerseelische Prozesse wahrzunehmen vermag. Wer die Kathedrale betritt, geht nicht nur durch ein klassisches → Labyrinth, das symbolisch seinen Lebensweg nachzeichnet, sondern kommt sich am Anfang dieses Weges als Mensch auch sehr winzig vor. Beim weiteren Fortschreiten fühlt sich der achtsame Mensch innerlich nach und nach „erhoben“ und hat das Gefühl, zur vollen „menschlichen Größe“ zu wachsen. Übrigens lässt sich auch in anderen Kunstformen der Kathedrale die bewusste Absicht der Erbauer erfahren (→ Bauhütte).
Es gibt noch weitere bedeutende geometrische Eigenschaften, welche die besondere Konstruktion dieser und anderer Marienkathedralen im Umkreis von Chartres ausmacht. Klassische Kathedralen bestehen in der Regel aus einem Langhaus mit erhöhtem Mittelschiff und niedrigeren Seitenschiffen, einem das Langhaus durchdringenden, ebenfalls dreischiffigen Querhaus sowie einem ebenso gestalteten Chor, dessen Mittelschiff in einem Polygon aus sieben Seiten eines Zwölfecks endet. Auch der Aufriss im Inneren ist meistens dreiteilig.
Über dem Grundriss der Kathedrale von Chartres wurde indes ein Siebenstern gelegt, auf dem der ganze Bau basiert:
„Der Baumeister hatte mit der Konstruktion des Siebensterns zu beginnen. Daraus ergaben sich dann der halbrunde Abschluss der rechteckigen Tafel (das Langhaus), die Breite des gesamten Chors, Länge und Breite der Querschiffe, die Länge der Kathedrale und ihr Umfang und endlich auch die Möglichkeit, die mit der rechteckigen und der quadratischen Tafel flächengleiche runde Tafel zu konstruieren. Vermutlich diente der Siebenstern auch noch als Ausgangsfigur für andere, weniger offensichtliche Gestaltungen.“ (Louis Charpentier 1972, 91)