Das Wort → Mystik bezeichnet in Bezug auf das Christentum einen Weg zu unmittelbarer Gotteserfahrung und im wahrsten Sinne ein Leben aus solcher Gotteserfahrung. Die christliche Mystik ist in dieser Bedeutung ein Weg zur unio mystica. Jede persönliche und unabhängige Erfahrung der Gottheit, die sich durch eine ungeheure emotionale Kraft auszeichnet, ist eine mystische Erfahrung. Der Kern mystischer Erfahrung ist existenziell, jenseits von Emotionen. Je nach Typ kann eine solche Erfahrung auch eine starke emotionale Auswirkung haben, muss aber nicht. Eine solche Erfahrung erfasst die Ganzheit des Menschen (körperlich, emotional und mental) und hat eine transformierende Wirkung. Das, was der betreffende Mensch ist, wird gleichsam „an einen Starkstrom angeschlossen“. Sie ist ein Wissen durch → Erleuchtung oder „Offenbarung des Geistes“.
Die christliche Mystik unterscheidet sich nur insofern von anderen mystischen Erfahrungen, als im Christentum die Benennung der Erfahrung personifiziert und mit christlichen Vorstellungen durchsetzt ist. Der Inhalt kann nichts anderes sein als die verschiedene Stufen und Aspekte der einen Wirklichkeit.
In der christlichen Mystik wird von zwei Arten der Erfahrung gesprochen: Der transzendenten und der immanenten Erfahrung. → Transzendenz bedeutet in diesem Zusammenhang: → Gott als Einheit zu erfahren, jenseits aller möglichen Erscheinungen und Bezeichnungen und gleichzeitig das Erscheinende beinhaltend – der Begriff Gottes als „der unaussprechliche Name“, Gott als transzendente Qualität, die für den Menschen in keiner Weise fassbar ist. Immanenz heißt: Gott als in allem innewohnend zu erfahren, zu erkennen, dass alles Erschaffene durch Gott belebt ist, und es, obwohl die Formen unterschiedlich sind, keine Trennung gibt. Alles ist durch das Sein in Einheit verbunden.
Der mystische christliche Weg geht bis auf die so genannten Wüstenväter zurück, Einsiedler, die sich bald nach der Verbreitung des Christentums in die Einsamkeit zurückzogen, um ihr Leben einzig Gott zu widmen (→ Kloster). In gewisser Weise sind diese Mystiker den indischen Yogis vergleichbar, die in einer Einsiedelei in den Bergen meditierend sich nur der Erfahrung des Geistigen hingeben und alle weltlichen Bezüge und Beziehungen abgebrochen haben. „Ich aber sage: Gott ist weder Sein noch vernünftiges Sein, noch erkennt er dies oder das. Darum ist Gott ledig aller Dinge – und darum ist er alle Dinge“ (Meister → Eckehart).
Der Wort „Mystik“ wurde in der abendländischen Kultur ursprünglich von → Dionysios Areopagita eingeführt, wobei er den Begriff von den Mysterienschulen der Griechen und Römer ableitete (→ Mystik). Die christlich-mystische Erfahrung ist spontan, logisch nicht erklärbar oder ableitbar, weshalb meistens von „göttlicher Gnade“ gesprochen wird, wenn der mystische Bewusstseinszustand den Kontemplativen überkommt. Man darf jedoch nicht außer acht lassen, dass die Klosterarbeit mit ihren vielfältigen Gebeten (→ Herzensgebet), Gesängen (→ Mantrische Gesänge), Fastenzeiten, → Ritualen und körperlicher Arbeit, → Meditationen und regelmäßigen Selbstzüchtigungen ein intensives Training ist, das für eine mystische Erfahrung – selbst wenn diese dann eine begnadete ist – die Grundlagen schafft. Die körperlichen Aspekte sind sicherlich von herausragender Bedeutung, denn sie verhindern ein Abgleiten in die Psychose, die in gewissem Sinne eine psychisch-geistige Erfahrung ist, aber vom Betroffenen weder geistig noch körperlich verarbeitet werden kann. Es soll jedoch nicht unerwähnt bleiben, dass Mystiker immer wieder betonen – oft nachträglich – dass Selbstkasteiungen kontraproduktiv sind.
In der christlichen Mystik wird im Allgemeinen von zwei Wegen zur Gotteserfahrung gesprochen: dem „positiven Weg“ und dem „negativen Weg“.
Der positive Weg (via positiva, auch kataphatisch genannt) versucht Gott bzw. die Gottheit als die höchste aller geschaffenen Vollkommenheiten anzusehen und Gott aktiv zu verstehen, indem bestimmte Qualitäten wie Schönheit, Güte, Liebe usw. in den erschaffenen Dingen gesehen werden. Auf diese Weise gelangt der Mystiker zur Quelle dieser Qualitäten. Der negative Weg (via negativa, auch apophatisch genannt) beharrt darauf, dass der Mensch Gott niemals erfahren oder kennen kann, wenn Gott sich nicht selbst offenbart. Beispielhaft dafür ist die „Mystische Theologie“ des → Dionysios Areopagita, die gnostischen Ursprungs ist (→ Gnosis). Anhand eines einfachen Beispiels für den negativen Weg kann man sagen, dass die Aussage: „Gott ist gut“ irreführend ist, weil es nicht möglich ist, die wirkliche Qualität der Güte erfahren können.
Zur mystischen Praxis gehört immer eine Form der Wiederholung. Vieles wird wiederholt: Gesänge, Gebete, Rezitationen, Arbeitsablauf (→ Mantra). Und nicht nur das: Alles wird täglich, wöchentlich, monatlich, jährlich und so fort wiederholt. Darauf basiert die „Methode“ christlicher, klösterlicher Mystik. Das gilt natürlich nicht ausschließlich. Viele der großen Mystiker waren in der Welt sehr aktiv, nahmen z.B. die sozialen und spirituellen Bedürfnisse der Menschen in ihrem Umfeld wahr und kümmerten sich um Klosterreform, Krankenpflege, Seelsorge und Predigten. Außerdem wurde in den → Klöstern nicht nur das Studium der Bücher gepflegt, viele Mystiker verfassten auch selbst Bücher und nahmen so großen Einfluss auch auf die weltliche Geistesentwicklung.
Die spanischen Klöster des Mittelalters etwa brachten eine große Anzahl Mystiker hervor, die bedeutende mystische Werke schrieben, welche in die Weltliteratur eingingen. Ihre Mystik ist insbesondere eine Liebesmystik, vergleichbar den Erfahrungen der Sufi-Mystiker (→ Sufismus, Mystik) oder → Bhakti-Yogis der gleichen Zeit, so etwa → Caterina von Siena, → Theresia von Ávila, → Johannes vom Kreuz. In Deutschland waren die Mystiker mehr den höchsten intellektuellen Intuitionen zugeneigt (Meister → Eckehart, → Hildegard von Bingen, Jakob → Böhme).
Weitere bedeutende christliche Mystiker des Mittelalters waren: Dionysus der Kartäuser, Gertrud die Große, Mechthild von Magdeburg, Thomas von Kempen, Johannes Ruysbroeck, Heinrich Seuse, Johannes Tauler, Franz von Assisi, Ramon → Llull, Gardia de Cismeros, Ignatius von Loyola, Peter von Alcantara.
Viele der Mystiker hatten es nicht leicht, von der offiziellen Kirche anerkannt zu werden; viele wurde verfolgt oder mit Gefängnis bestraft, weil die katholische Kirche im Kern antimystisch ist, wie jede institutionalisierte Religion; dennoch wurden viele christliche Mystiker später als „Heilige“ anerkannt.
Russisch-orthodoxe Mystik: Nachdem Russland im 10. Jh. christianisiert worden war, entstanden zahlreiche Klöster, in denen Männer und Frauen sich dem Gebet widmeten. Im Gegensatz zum Westen waren es reine Gebetsgemeinschaften. Die Mönche arbeiteten für ihren Lebensunterhalt und beteten. Es war ein Leben in härtester Askese, im immer währenden → Herzensgebet (gospodi pamiloi, „Herr, erbarme Dich meiner“) und in der täglichen Arbeit. Aus dem Mönchtum gingen die späteren Geistlichen der russisch-orthodoxen Kirche hervor.
Eine typische geistliche Erscheinung im russischen religiösen Leben war das Starzentum. Starez bedeutet „der Alte“. Die Starzen waren nicht immer Mönche, sie waren Asketen und Gottsucher, die ihren gesamten Besitz aufgaben und sich auf Wanderschaft begaben, vergleichbar den hinduist. Sannyasins oder dem buddhist. Wandermönch. Auf der Suche nach dem geistigen Meister wanderten sie von einem Kloster zum anderen; im Volk wurden sie als Heilige verehrt. Im 18. Jh. erschien in Russland ein Buch, das die mystische Bewegung der Gottessucher neu belebte, die „Philokalia“. Dieses Buch ist eine Sammlung von Geschichten und Belehrungen, das viele Anregungen und Hinweise für ein christliches, kontemplatives Leben gab. Noch heute wird es als Sammlung spiritueller Belehrungen geschätzt. Nach der Auflösung der Sowjetunion ist heute wieder eine neue Renaissance der russischen Mystik zu beobachten. Im Westen wurde das Kloster auf dem Berg Athos in Griechenland berühmt, wo heute noch Mönche das Leben der Wüstenväter, der frühen christlichen Asketen, praktizieren. Das Kloster wurde vor rund 20 Jahren neu belebt.
Christliche Mystik in der Neuzeit: Die christliche Mystik hat eine ungebrochene Tradition. Für die Neuzeit zu nennen sind hier Theresia von Lisieux (1873-1897), Maximilian Kolbe (1894-1941), Teilhard de Chardin (1881-1955), der große Prophet der göttlichen Evolution, Thomas Merton (1915-1968), dessen Klassiker „Meditationen eines Einsiedlers“ auch nichtchristliche Mystiker anspricht.
Eine Heilige der katholischen Kirche ist die Mystikerin Edith Stein (1891-1942), die im KZ Auschwitz vergast wurde. Ein Ausspruch von ihr sagt viel über ihr geistiges Erleben aus: „Es gibt nur wenige Seelen, die in ihrem Innersten von ihrem Innersten aus leben; und noch viel weniger, die dauernd darin und von ihm aus leben.“ Siehe auch: Simone → Weil, David → Steindl-Rast, → Bede Griffiths, Willigis → Jäger, Anselm → Grün.
Durch den Einfluss vieler neuer spiritueller Strömungen aus Asien verstärkt sich innerhalb der Kirchen heute wieder eine Hinwendung zu den ureigensten christlichen mystischen Zielen und Methoden. Der Theologe und Buchautor Josef Sudbrack bringt deutliche Argumente in der christlichen Auseinandersetzung mit dem neuen spirituellen Trend:
„Man hat das ostkirchliche Jesus-Gebet wieder entdeckt, aber dabei übersehen, dass der katholische Rosenkranz und das Beten von Litaneien die gleiche meditative Struktur haben. Wer weiß, dass → Theresia von Ávila mit ihren Schwestern schon zur Zeit der Reformation im Diamant-Sitz „meditierte“, also in der Haltung, die der → Zen-Buddhismus heutzutage wieder bekannt macht? … Es wäre Zeit, über den Sinn der asketischen Praktiken zu reflektieren, mit denen die Gläubigen vergangener Zeiten sich auf Erfahrung von Tiefe und religiösem Sinn vorbereiteten. Wie konnte es geschehen, dass kontemplative Klöster zwischen Meditation und Liturgie trennen, wo doch letztere einmal eine Hochform des meditativen Betens war?“ (Josef Sudbrack)