Resümee eines Veteranen – Wolf Schneider

von Redaktion

Wolf Schneider – Verleger, Autor, Kenner der Szene, in einem launigen Essay über Wendezeit und allem, was damit einhergeht…

Die Wende

Kaum wählt man 30 Jahre lang konsequent grün, schon kommen sie an die Macht. Kaum hat man sich zum Vegetarismus entschieden (im Januar 1977; seitdem habe ich kein totes Tier mehr gegessen), wird das in den Metropolen zum Mainstream-Chic. Kaum macht man eine spirituelle Zeitschrift und empfindet nach einem Vierteljahrhundert der Übersättigung mit dem entsprechenden Jargon und der Hybris der Szene sogar den Begriff »spirituell« als überflüssig, weil er zu diffus, beliebig und nichtssagend geworden ist, trifft man kaum noch Menschen, die sich nachsagen ließen, nicht wenigstens ein bisschen spirituell zu sein. Was ist da los?

Wir stehen an einer Wende. Dreißig Jahre lang habe ich das gehofft und dafür gearbeitet. Habe auf eine globale Wende im Bewusstsein gehofft, die Atomkriege, Umweltkatastrophen, Hungersnöte durch Überbevölkerung, das Abholzen der Regenwälder und Vernichten der Arten, Religionskriege, Rassismus, Bigotterie, Fremdenhass und sexuelle Verklemmtheit beenden möge, und schon … Nein, so einfach ist es leider nicht.

Jetzt sind wir dran!

Und doch stimmt es. Winfried Kretschmann ist an der Macht. Angela Merkel vollzieht immerhin eine gewisse Wende. Obama ist noch nicht erschossen worden. In den arabischen Ländern sind sie aufgestanden, gegen alle Erwartungen. Den großen Religionen laufen die Mitglieder davon – zumindest bei uns in Mitteleuropa ist das der Fall. Wenigstens in der Wirtschaft ist Transkulturalität gefragt (in der Politik leider bisher nur dämmernd), und sei es auch nur deshalb, weil Produkte kulturraumübergreifend vermarktet werden. Spiritualität ist Mainstream geworden, Öko und Bio sind chic: Jetzt sind wir dran!

Aber: Schaffen wir das auch? Sind wir dem gewachsen? Wir Randgruppenmitglieder, die bisher zwischen den Feldern und Disziplinen auf den Zäunen saßen wie einst die Hagazussen, zuschauend, aber nicht gefragt und nicht an der Macht beteiligt. Es braucht nun ein neues Selbstbewusstsein auch bei uns.

Grund zur Hoffnung

Seit am 14. Januar Ben Ali aus Tunesien von den Aufständischen verjagt wurde, ist die Welt in Bewegung wie seit Jahrzehnten nicht mehr, und es werden Personen, Regimes und Strukturen in Frage gestellt, die man für sakrosankt gehalten hatte. Sollte es tatsächlich noch zu meinen Lebzeiten passieren, dass zwischen den Nationen nicht mehr das Recht des Stärkeren gilt? Dass es keine Steueroasen mehr gibt, kein Militär, keine ABC-Waffen? Dass unsere Religiosität akzeptiert wird, auch wenn sie sich außerhalb von Institutionen manifestiert, in die sie von den jeweiligen Herrschaften eingezwängt wurde und von denen wir ertragen haben, uns darin autorisieren oder verketzern zu lassen? Dass Weisheit ein Bildungsziel wird, und nicht mehr nur Wissen und die Fitness für den Arbeitsmarkt? Dass sexueller Ausdruck als Menschenrecht gilt und seine vielfältigen Formen als Kulturgut? Dass Liebe für wichtiger gehalten wird als Krieg? Ich wage kaum es auszusprechen, aber ich glaube, wir haben wieder Grund zur Hoffnung.

Entscheidung für die Liebe

Doch ich weiß auch: Wenn alte Regimes stürzen und Katastrophen wie die von Fukushima die Welt erschüttern, dann ist meist erst mal die Angst stärker als die Hoffnung. Aus Angst misstrauen wir einander, wenden Gewalt an, verzweifeln. Immer wieder neu müssen wir uns für das Verzeihen, Vertrauen und die Liebe entscheiden – nicht nur im Bett oder am Küchentisch, sondern auch bei unseren politischen und wirtschaftlichen Entscheidungen.

Für die meisten von uns ist Liebe zwar das Allerheiligste, aber mit diesem Heiligen gehen wir manchmal sehr respektlos oder geschwätzig um und machen aus Liebe, Herz und Licht einen Friede-Freude-Eierkuchen. Außerdem verändert sich unser Verständnis von Liebe im Lauf des Lebens…

Wolf Schneider

 

Wolf Schneider, Jg. 1952, Studium der Naturwissenschaften und der Philosophie (1971-75). Hrsg. der Zeitschrift connection seit 1985. 2005 Gründung der »Schule der Kommunikation«.

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