Die inzwischen bekannteste Form des Enneagramms als psychologische Typenlehre geht auf Oscar Ichazo (geb. 1931) zurück, einen Chilenen, der seit 1971 in New York lehrt. Ichazo behauptet, seine Form der Anwendung von afghanischen Sufi-Meistern gelernt zu haben, bevor er → Gurdjieffs System kennen lernte; einen Beweis dafür blieb er schuldig. Denn Gurdjieff hatte dieses Symbol bereits Anfang des 20. Jh., also lange vor Ichazos Geburt, zu einer der Grundlagen seiner Lehre gemacht. Tatsächlich war der erste, der bereits 1954 Typenentsprechungen dem Enneagramm zuordnete, der → Ouspensky-Schüler Rodney Collin Smith. Er stützte sich dabei auf die klassisch-griech. Typologie der Planeten wie Marstyp (kämpferisch), Saturntyp (dominant), Jupitertyp (jovial) usw., die auch dem jeweiligen Typ entsprechende körperbezogene Charakteristika aufweisen.
In vieler Hinsicht kann die Typenlehre des Enneagramms auf die Arbeiten des mallorquinischen Philosophen Ramon → Llull (1235-1315) zurückgeführt werden. Er entwickelte eine ars universalis („universale Kunst“), bei der mit Hilfe von drei drehbaren Dreiecken sämtliches Wissen in immer neuen Zusammenhängen kombiniert werden konnte. Vermutlich adaptierte Oscar Ichazo die neunfältige Struktur aus drei Dreiecken, denen Ramon Llull symbolisch Buchstaben zuordnete (B, C, D …), die wiederum mit Bedeutungen verbunden waren. Hier finden wir die Tugenden wie Güte, Größe, Dauerhaftigkeit, Kraft, Klugheit, freier Wille, Tugend, Aufrichtigkeit und Ehre, aber auch die Laster wie Habsucht, Genusssucht, Verschwendung, Hochmut, Verzagtheit, Neid, Zorn, Lügenhaftigkeit und Unbeständigkeit.
Abbildung: Grafik von Ramon Llull
Die Tugenden, Ideen, Fixierungen, Leidenschaften hat Oscar Ichazo dann in entsprechenden „Enneagonen“ (wie er es nennt) den neun Punkten zugeordnet. Inzwischen werden in der heutigen Anwendung der Enneagrammtypologie die Querverbindungen der Linien mit berücksichtigt, wenn auch nicht in der Dynamik des prozessorientierten → Enneagramms.
Anfang der 1970er-Jahre befassten sich auch bekannte amerikanische Psychologen wie Claudio Naranjo oder Charles Tart mit dem Enneagramm. Durch sie kamen amerikanische Jesuiten, vor allem Pater Robert Ochs, damit in Berührung – ein interessanter Umstand, da ihre heute bekannte Typenlehre ein geeignetes Modell ist, das katholische Glaubensverständnis mit einer spirituellen Psychologie zu verbinden. In Deutschland wurde das Buch „Das Enneagramm“ von Richard Rohr, einem amerikanischen Franziskaner, und Andreas Ebert, einem bayrisch-lutherischen Pfarrer, zum Bestseller.
Die Enneagramm-Typologie basiert darauf, dass jeder Mensch unterschiedliche Schwerpunkte hat:
„Für jeden der neun Enneagramm-Typen sieht die Welt anders aus, und durch das Nachempfinden der Gefühle eines jeden können sie von Ihrem Standpunkt abstrahieren und verstehen, wer die Menschen in Ihrem Leben wirklich sind, statt bei ihrer Beurteilung nur Ihren eigenen Vorstellungen zu folgen. Wenn Sie sich für die Eigenheiten anderer öffnen, entwickeln Sie Mitgefühl für ihre Situation, Empathie; und wenn Sie die Welt aus der Sicht anderer Denk- und Empfindungsweisen betrachten, wird Ihnen sofort bewusst, dass jeder durch eine typische Befangenheit begrenzt ist.“ (Helen Palmer 1991, 25)
In diesem Sinne kann man sagen, dass die Enneagramm-Typologie die selektive Wahrnehmung eines Menschen beschreibt. Diese selektive Wahrnehmung wird durch eine der neun Leidenschaften motiviert und gesteuert. Hierbei spielt die → Zahl drei, auch drei mal drei, eine Rolle. Die drei Triaden entwickeln unterschiedliche „Bewusstseinsradare“, ebenfalls durch die Leidenschaften gesteuert. Mit „Leidenschaften“ sind „negative“ Charaktereigenschaften wie Gier, Neid, Zorn, Übermaß, Hochmut usw. gemeint. Manche Autoren sagen, dies seien selektive Wahrnehmungen, jedoch keine „moralischen“ Beurteilungen oder reinen Triebenergien, sondern vielmehr eine komplexe Ausdrucksform der Lebensenergie. Man kann sich das so vorstellen: Wenn die reine Lebensenergie z.B. durch einen roten Filter geleitet wird, wird alles, was ein Mensch sieht, hört, riecht, schmeckt, spürt, alle Gedanken, Gefühle und Verhaltensweisen, die daraus resultieren, rot gefärbt. Würde man jeder Leidenschaft eine Farbe zuordnen, so entstünde ein Regenbogen verschiedener Typen.
Darüber hinaus werden die jeweiligen Typen dem Schwerpunkt ihrer Wahrnehmung entsprechend in Kopftypen, Herztypen und Körpertypen unterteilt, die ebenfalls unterschiedlich selektieren.
Die persönlichen, immer wiederkehrenden Themen eines Menschen weisen auf verlorene Qualitäten des Wesenskerns hin, die einfach das Gegenteil der Mängel darstellen: nämlich seine Stärken. Die Vorstellung, dass die meisten Menschen für einen Großteil ihres Charakters blind sind, wird in der Psychologie heute weitgehend anerkannt. Die blinden Flecken, Abwehrmechanismen, Verdrängungen und Widersprüche sind Hindernisse auf dem Weg der Entfaltung. Die dem Enneagramm zugeordneten Persönlichkeitstypen sind auch Sprungbretter zur weiteren Entwicklung. Das Schwergewicht der Beobachtung sollte dabei auf den Entfaltungsmöglichkeiten liegen, nicht auf den krankhaften Aspekten.