Das Wort „Heide“ kann sprachlich von hag (→ H) oder hagen abgeleitet werden, einem rechtsfreien Stück Ödland. Solch ein meist von einer dornigen Hecke (Hagebutte, Weißdorn, Kreuzdorn, Sanddorn, Schlehe, Brombeere, Hasel, Holunder, Eberesche) umgebenes Gelände war, weil es nicht landwirtschaftlich genutzt wurde, häufig eine Trockenrasenvegetation, auf der Heilpflanzen besonders gut gediehen. Dies war das Arbeitsfeld der Hagschen, der Hagia (Heiligen) oder auch Disen (Geist, das Göttliche), der Hagedise. Diese weisen, kräuterkundigen und somit heilkundigen Frauen lebten zwischen den Welten – der inneren Welt, dem als Tabuzone geltenden Hagen, und der äußeren Welt, der offiziellen, rechtlich geordneten Menschenwelt. Sie waren in der Lage, den diese Welten trennenden „Zaun“, das umgebende Gesträuch des Hagen, in beiden Richtungen zu überschreiten.
Aus der mit der Natur eng vertrauten Hagsche oder Hagse wurde im Laufe der Zeit das Schimpfwort „Hexe“. Im Engl. kennt man heute noch die Bezeichnung old hag für Hexe. Alle, die auf dem außerhalb der Gemeinden liegenden Ödland, dem Hagen oder der Heide, lebten, wurden von den ersten Missionaren „Heiden“ genannt, da sie sich dem christl. Glauben nicht unterwarfen. Besonders in England ist der Wicca-Kult, der in den 1950er-Jahren von Gerald Gardner als Neopaganismus popularisiert wurde, bis heute weit verbreitet. Witch wiederum leitet sich ab von hazel wych, dem Haselstrauch, und wurde zur Bezeichnung für eine Hexe.
Das Wiederaufleben des zeitgenössischen Hexenkults als spiritueller Weg hängt eng mit der Entstehung des Feminismus in den 1960er-Jahren zusammen. Die Wicca-Praxis ist jedoch keine Naturreligion, auch wenn sie die Verehrung der spirituellen Kräfte der Natur beinhaltet. Sie hat vielmehr mit dem Wesen der → Magie zu tun im Sinne einer Kunst, das Bewusstsein willentlich zu verändern. Eine der bekanntesten Vertreterinnen der Hexenpraxis, Starhawk (Stella Hawkins), bezeichnet sie auch als „Kunst, die Macht von innen zu aktivieren“. Sie sieht diese spirituelle Lebensform als Befreiungsakt, der die inneren, geistigen → Mysterien freisetzt und das Gefüge der gewöhnlichen Weltanschauungen aufbricht.
„Für Hexen ist der Kosmos der lebendige Leib der → Göttin, an deren Sein wir alle teilhaben, die uns umschließt und in uns lebt“ (Starhawk 1991, 19).
In diesem Sinne hat das Hexentum auch mit Heilung des Einzelnen und der Gemeinschaft zu tun, ganz im Sinne des ursprünglichen → Schamanismus, aus dem es gespeist wird. „Wenn wir uns befreit haben, müssen wir ‚in den Kreis zurückkehren’. Gemeint ist der ökologische Kreis, der Kreis der Interdepenz aller lebenden Organismen… Der Kreis bedeutet auch den Kreis der Gemeinschaft.“ (Starhawk 1983, 290)
Die Beschäftigung mit allen alternativen Richtungen der Heilkunst wird heute wieder von vielen Frauen gepflegt. Frauen sind, wie die Heilerin Elisabeth Stratton sagt, „durch ihre Menstruation und die Fähigkeit Kinder zu bekommen, dem Rhythmus der Natur enger verbunden“, und deshalb sind sie in der Lage, Heilkräfte zu kanalisieren. Da es im weiblichen Glauben keine Trennung zwischen Geist und Materie gibt, sind Heilungen mit geistigen Kräften den Frauen durchaus näher. Frauen sehen vielmehr die Beziehungen zwischen den Dingen und Kräften, und ein Ausdruck dieses Verständnisses sind Heilrituale.
Sicherlich ist auch das für viele Frauen – bei denen sich diese innere Kraft äußert – ein Weg, sich selbst zu finden. Die Verehrung der „Mondin“, Luna, die Naturrituale um Liebe, Geburt und Tod, sind ureigene weibliche Formen der Spiritualität (→ Göttin). Die Wicca-Anhänger verehren besonders die lunaren Zyklen der Natur, weil sie glauben, dass bei Vollmond die Mondenergie das Bewusstsein erhöht. Ihnen gelten die Vollmondfeiern als wichtige Feste und Anlässe zum Tanzen, Trinken und Feiern und für besondere Rituale. Die acht wichtigsten solaren Zyklen haben mit dem Fruchtbarkeitszyklus der Natur zu tun.
Dazu gehören insbesondere die vier Sonnenwenden: die Wintersonnenwende um den 21. Dezember, die Frühlingssonnenwende um den 21. März, die Sommersonnenwende um den 21. Juni und die Herbst-Tagundnachtgleiche um den 21. September. Die größeren Sabbate im Wicca-Jahresrad sind Lichtmess (kelt. Imbolc, 2. Februar), Walpurgisnacht (kelt. Beltane, 30. April), Halloween (kelt. Samhain, 31. Oktober, „Holle-Tag“) und Lammas (kelt. Lugnasad, 1. August). Diese Feste liegen ungefähr sechs Wochen zwischen den Sonnenwenden. Sie sind kelt. Ursprungs und wurzeln in dem Glauben, dass der „Sonnengott“ in gleichem Maße eine Phase von Tod und Wiedergeburt (→ Holle, → Sonnenkult) durchschreitet, wie die Göttin durch ihre Mondzyklen zu- und abnimmt.
„Die Liebe zum Leben in jeder Gestalt ist die Grundethik des Hexenglaubens. Hexen sind verpflichtet, alle lebenden Dinge zu ehren und zu achten und den Lebenskräften zu dienen. Der Hexenglaube anerkennt, dass Leben Leben nährt und dass wir töten müssen, um zu überleben, aber das Leben wird nie unnötig zerstört, nie verschwendet und vergeudet … Die Göttin ist immanent, aber sie braucht Menschenhilfe, um sich in ihrer vollen Schönheit zu entfalten. Das harmonische Gleichgewicht bei der Wahrnehmung von Pflanze und Tier, Menschlichem und Göttlichem ist nicht selbstverständlich, sondern muss ständig neu hergestellt werden, und dies ist die eigentliche Aufgabe der Hexenrituale. Innere Arbeit, spirituelle Arbeit ist am wirksamsten, wenn sie Hand in Hand mit äußerem Wirken voranschreitet.“ (Starhawk 1983, 27)
Hier wird auch schon die andere Seite angesprochen, oder wie Starhawk an anderer Stelle schreibt: „Das Symbol der → Göttin verleiht die spirituelle Kraft, um Systeme der Unterdrückung in Frage zu stellen und neue, zum Leben hin orientierte Kulturen zu schaffen“ (Starhawk 1983). Viele Frauen, auch wenn sie nicht Feministinnen sind, engagieren sich heute deshalb auch gegen Leben zerstörende Technik.
Mit dem wiedererstandenen Interesse an den „Hexen“ gibt es auch Frauen, die nicht nur das exotische oder Esoterische am Hexenkult sehen, sondern auch die Geschichte ihrer Verfolgung. Erika Wisselinck ging in ihrem Buch „Hexen“ (1986) dem Wissen um die historischen Hexen des Mittelalters und insbesondere der Neuzeit, ihrer Verfolgung und – nach neuesten Forschungen – hunderttausendfachen Vernichtung nach. Dieser Holocaust ist vergleichbar mit der Judenverfolgung, wird indes von der Geschichtswissenschaft und dem allgemeinen Bewusstsein immer noch verdrängt. Aber auch die Ausstoßung der Frauen aus dem medizinischen Bereich kann „nicht allein mit der Unterbindung der Geburtenregelung zu erklären versucht“ werden. „Es ging nicht nur um Fortpflanzung und Bevölkerungspolitik, es ging um Sexualität in jeder Dimension, vor allem um die Lust.“ (Gunnar Heinsohn, Otto Stenger 1989) Die Hebammen besaßen nämlich ein uraltes überliefertes Wissen um Liebeslust und Fruchtbarkeit:
„Genauso, wie sie Empfänglichkeit verhindern konnten, konnten sie auch Frauen zur ersehnten Schwangerschaft verhelfen, und vor allem dazu, Lust zu erregen und zu genießen. Das Auseinanderbrechen des Bereichs der Sexualität in einen ‚anständigen’, nämlich die Fortpflanzung, und einen ‚unanständigen’, nämlich die Liebeslust, die Erotik (die früher zum sakralen Bereich gehörte), ist erst ein sehr modernes Phänomen, ein von den Klerikern (vieler Religionen) herbeigeführter Bewusstseinswandel, ein Prozess, in dem auch die Hexenausrottung ihren Platz hat.“ (Gunnar Heinsohn, Otto Stenger 1989)
Die Sexualität ist für das weibliche Verständnis ein Ritual der → Göttin. „Die Sexualität als direkter Ausdruck der Lebenskraft ist göttlich und geheiligt. Sie darf sich frei ausleben, solange Liebe das leitende Prinzip ist“, schreibt Starhawk (1983, 28). „Die Ehe ist eine tiefe Bindung, eine magische, spirituelle und psychische Beziehung. Doch ist sie nur eine Möglichkeit unter vielen für liebenden sexuellen Ausdruck.“ Für manche Frauen gilt nur der zweite Satz. Amélie Weimar, eine Mitarbeiterin des Lebenszentrums Zegg in Brandenburg, zieht die Konsequenz:
„Die Liebe ist frei, und alles andere ist eine Verwechslung. Liebe ist ein lebendiges Prinzip, und alles Lebendige ist angewiesen auf ein funktionierendes Fließgleichgewicht zwischen innen und außen. Es gibt in der Natur keine geschlossenen Systeme … Dieses Prinzip ist universell und gilt für alles Lebendige … Genauso ist der Mensch ein lebendiges Wesen, und wenn er seine Grundlebensimpulse – und dazu gehört die Liebe, auch die sexuelle – unterdrücken muss oder einsperrt, dann gehen sowohl die Liebe als auch er zugrunde.“ (Amélie Weimar)
Freie Liebe funktioniert nach ihrer Auffassung nur ohne Eifersucht. „Der Gott der Hexen ist ein Gott der Liebe. Diese Liebe schließt die Sexualität ein, die ebenso wild und ungezähmt ist wie sanft und zärtlich“, kann mit einer Aussage von Starhawk ergänzt werden:
„Moderner Hexenglaube beeinhaltet ein reiches Kaleidoskop von Traditionen und Richtungen. Die Hexenzirkel, jene eng verbundenen Kleingruppen, sind autonom. Es gibt keine zentrale Autorität, die über Liturgie oder Riten bestimmen würde. Manche Zirkel üben Praktiken aus, die in ununterbrochener Folge aus der Zeit vor den Hexenverbrennungen auf sie übergekommen sind … Feministische Zirkel sind wahrscheinlich die am schnellsten wachsenden Zweige des Hexenglaubens. Viele huldigen Diana: eine Hexensekte, die dem weiblichen Prinzip weitaus größere Bedeutung einräumt als dem männlichen. Andere Zirkel sind unverkennbar eklektisch und schaffen ihre eigenen Tradition aus vielen Quellen. Meine eigenen Konvente gehen bis zur Feentradition der Steinzeit zurück. Doch wir glauben an die Schaffung unserer eigenen Rituale, in denen sich unsere Bedürfnisse und heutigen Einsichten spiegeln.“ (Starhawk 1983, 25)
In diesen unterschiedlichen weiblich-spirituellen Gruppen, die sich auch nicht immer Hexen nennen, sondern manchmal den schamanischen Weg (→ Schamanismus) gehen, weil dieser letztlich der Ursprung des magischen Naturbildes ist, werden viele spirituelle Methoden geübt und eingesetzt: → Trance-Techniken und Trance-Tanz, Traumarbeit und → Channeling, → Meditation, → Rituale für alle Jahreszeiten und Lebensumstände. Für viele Frauen spielt das Schaffen und Durchführen von Ritualen eine wichtige Rolle.
Das Wiederfinden des eigenen Zusammenhangs mit den Kräften der Natur und des Kosmos beschreibt Luisa Francia in ihrem Werk „Mond – Tanz – Magie“. Diese neuen Rituale eröffnen die ureigene Weiblichkeit, das Erleben des Mondes und der Feste.
„Der Lernprozess im sinnlichen Erfahren der Mondenergie liegt also nicht in der Magie patriarchaler Beherrschungsphilosophie (macht euch die Erde untertan!), sondern in der weiblichen, schöpferischen → Magie des Erkennens und Gestaltgebens von Visionen, des Fließens mit den Energien aller Pflanzen und Tiere der Erde. Aus der Vertrautheit mit diesem Kreislauf erkennst du deine Kraft und lebst sie.“ (Luisa Francia 1986)
Die 13 Monde werden von Luisa Francia als Kräfte, Aspekte mythologischer Figuren beschrieben. Sehr wichtig ist ihr dabei der → Tanz. „Im körperlichen Durchleben von Formen, Ritualen, Figuren und Inhalten entstehen Erfahrungen, die zu neuen Erkenntnissen und Lebensweisen führen. Tanz führt zur ursprünglichen Bewegung im Universum zurück: dem Kreisen, Taumeln“ (Luisa Francia 1986). Denn alle natürlichen Prozesse sind kreisförmig, und im Tierkreis (→ Astrologie) gibt es ebenso wenig eine Hierarchie wie in den Mondkreisläufen. Mit den Erfahrungen und Gedanken des Buches erhält jede Frau Anstöße, ihre eigenen Er-findungen zu leben.
Mythologie und Kosmologie des Hexenglaubens wurzeln in der Erkenntnis des Schamanen. Für ihn sind alle Dinge
„Strudel von Energie, Wirbel sich bewegender Kräfte, Ströme eines ewig bewegten Meeres. Hinter der Erscheinung der Getrenntheit, der festen Objekte im linearen Strom der Zeit ist die Wirklichkeit ein Feld von Energien, die zeitweise zu Formen gerinnen. Mit der Zeit lösen sich alle ‚festen’ Dinge auf, um sich wiederum zu neuen Formen, neuen Bindungen zu vereinigen.“ (Starhawk 1983, 34)
Diese Welt, die mit den Erkenntnissen der modernen Physik übereinstimmt, kann durch eine veränderte Wahrnehmung gesehen werden. Daraus ergeben sich auch die Möglichkeiten der magischen Beeinflussung von Materie und Geist. Doch → Magie ist eine Fähigkeit, die von der Entwicklung der Willenskraft abhängt. Deshalb ist eine Schulung der magischen Kräfte, d.h. des → Willens, auch Voraussetzung für die intensive Ausübung der Hexenfähigkeit. Siehe auch: → Rituale