Zuweilen kann man auch bei uns in Deutschland in Parks Menschen beobachten, die stehend langsame Bewegungen machen und die sich dabei in eine tiefe Meditation versenken. Diese Leute praktizieren entweder Tai Chi Chuan oder eben das verwandte Qi Gong, das man mit „Arbeit mit Qi“ oder „Fähigkeit, mit der Lebenskraft umzugehen“ übersetzen kann.
Von Michael Raab
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Qi Gong war ursprünglich ein spiritueller Weg, eine Lebenskunst und diente nur nebenbei der Gesunderhaltung. In den Augen vieler moderner Menschen wird diese alte asiatische Lebenskunst Qi Gong gerne als Entspannungsmethode oder als Gesundheitstechnik missverstanden. Es ist zwar richtig, daß Übungen, die man später als Qi Gong bezeichnete, schon immer eine wichtige Säule der alten chinesischen Ärzte waren, aber dabei wird gerne vergessen, daß es den Urvätern eigentlich um einen spirituellen Weg ging. Das Qi Gong war dabei eher eine Meditation in Bewegung und Ausdruck einer Lebenskunst. Dabei wollte man die daoistische Philosophie mit dem Körper ausdrücken und sie damit in das Gedächtnis des Körpers und des Energiesystems einprägen. Dieser spirituelle Weg mündet als Ziel letztendlich in der Einswerdung mit dem Dao. Das Dao, manchmal auch Tao geschrieben, ist der geistige Urgrund, der allem Sein zugrunde liegt.
Daß das regelmäßige Praktizieren auch die Gesundheit stärkt, nahmen die alten Meister als nette, aber unwichtige Nebenwirkung hin. Für die normalen Chinesen war und ist der medizinische Aspekt natürlich wichtiger und auffälliger als alles andere. So kann schnell der Eindruck entstehen, Qi Gong sei eine Gesundheitstechnik.
In den Kampfkünsten hatte Qi Gong auch seinen Platz, meist als meditative Vorbereitung.
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Schamanische Ursprünge
Die Ursprünge dieser Kunst liegen wohl Jahrtausende zurück. Man vermutet teilweise, dass es damals schamanische Tänze waren. Andere Quellen wie das berühmte Seidentuch aus einem Grab in der Provinz Hunan, datiert auf ca. 200 v. Chr., zeigen Figuren, die dem Qi Gong sehr stark ähneln. Leider weiß man nicht wirklich, was diese Figuren denn darstellen. Vielleicht sind sie eine Frühform des Qi Gong? Manche Forscher glauben aber, dass es sich um Kräftigungsübungen für Soldaten gehandelt haben könnte.
Es ist klar, dass zwischen schamanischen Tänzen einerseits und Gymnastik für Soldaten andererseits ein großer Unterschied besteht. Es gab damals offensichtlich eine Reihe von Übungssystemen, die allerdings vollkommen unorganisiert nebeneinander her existierten. Die einzelnen Figurenfolgen dienten auch verschiedenen Zwecken. In den 50er Jahren des letzten Jahrhunderts wurde der Begriff Qi Gong von dem Arzt Liu Guizhen für diese Übungen eingeführt. Dieser Umstand und der Versuch der kommunistischen Partei in China, alles Spirituelle als „Aberglauben“ abzutun und auszumerzen, sind wohl der Grund dafür, daß man die Energiearbeit Qi Gong in erster Linie als Gesundheitstechnik wahrnimmt.
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Einswerden mit dem Tao
Es gab zu allen Zeiten Menschen, die spirituell orientiert waren und die Qi Gong in diesem Sinne als sehr förderlich betrachteten. Einerseits hat es einen starken beruhigenden Einfluss auf das Nervensystem. Es bewirkt eine Beruhigung ähnlich einer modernen Tiefenentspannung, die mit einem ruhigen, friedvollen Wohlgefühl einhergeht.
Darüber hinaus wird ihm nachgesagt, dass es als „Meditation in Bewegung” hilfreich sei zum Erlangen des Dao oder zum Einswerden mit dem Dao. Das war für die alten Daoisten der höchste Gipfel spirituellen Strebens. Es ist ungefähr zu vergleichen mit dem „Eingehen ins Nirvana” der Buddhisten oder dem „Erlangen der Erleuchtung” bzw. dem „Erwachen”, wie diese Zustände bei modernen spirituell orientierten Menschen heißen.
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Die Erfahrung der Langsamkeit
In einem Kurs hatte ich einen älteren Mann als Teilnehmer. Er hatte die Figuren immer mit einer gewissen Tollpatschigkeit und Unsicherheit gemacht. Er beherrschte nicht den formellen Ablauf, von den Details der Bewegung will ich mal gar nicht reden. Von außen betrachtet hätte ein mäkelnder Geist sagen können, dass er die Figuren ausgesprochen schlecht gemacht hatte. Ein Beobachter hätte an alles Mögliche denken können, nur nicht an Qi Gong!
In der letzten Stunde kam er auf mich zu und sagte: „Herr Raab, ich muß Ihnen mal ein Feedback geben! Diese Erfahrung der Langsamkeit, die ich in Ihrem Kurs machen konnte, hat so viel in meinem Leben verändert, das kann ich Ihnen gar nicht sagen! Auch auf ganz anderen Gebieten! Das können Sie sich gar nicht vorstellen!“ Dabei wären ihm fast die Tränen gekommen!
Der, der im Kurs am schlechtesten war, hatte vermutlich am meisten davon! Diese Erfahrung der Langsamkeit muß für ihn eine echte Offenbarung gewesen sein! Und das alles hat eigentlich noch gar nichts mit Qi, mit der Lebenskraft, zu tun, sondern „nur“ mit einem ruhigen Geist! Der alleine kann schon vieles in ihrem Leben zum Besseren ändern!
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Ruhiger Geist
Da gibt es nämlich die Wirkungszusammenhänge, die ich hier einfach die Ebene des ruhigen Geistes nennen möchte. Diese Ebene zeigt ihre Segnungen meistens schon nach einer kurzen Zeit des Übens. Sie ist auch am leichtesten zu verstehen und sogar mit der modernen Medizin erklärbar.
Hier spielen drei Punkte eine Rolle: Ruhige Bewegungen – ruhiger Atem – ruhiger Geist. Ruhige Bewegungen verursachen einen ruhigen Atem; beide, also ein ruhiger Atem als auch die ruhigen Bewegungen bewirken einen ruhigen Geist.
Diese Wirkebene ist für sich alleine genommen schon ungeheuer stark. Es gibt Praktizierende, die sich nur auf dieser Ebene bewegen und die damit sehr intensive und transformierende Wirkungen erzielen. Wenn Sie sich auf diese Ebene konzentrieren wollen, dann benötigen Sie die vielen Details der Bewegungen nicht. Es ist dann unwichtig, ob Sie die Figuren „richtig“ beherrschen und ob Sie auf die Details achten wie die Dehnung der Meridiane, die Spiralisierung der Arme und Beine oder die tieferen Prinzipien von Steigen und Sinken.
Im Grund genommen könnten Sie auch irgendwelche Bewegungen langsam verrichten. Sie machen einfach langsame und ruhige Bewegungen und beruhigen damit Ihren Geist. Ein ruhiger Geist bedeutet auch eine große Klarheit und eine gute Rüstung gegen Stress und Burnout.
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Tiefere Ebenen
Wenn man aber tiefere Ebenen erreichen möchte, dann spielen natürlich die anderen Dinge eine Rolle. Für mich am wichtigsten ist die Tatsache, daß manche Figurenfolgen so angelegt sind, daß man damit die Energiefelder des Körpers so ineinander bewegt, daß eine ruhige, klare und kraftvolle Energie entsteht. Dazu gehört auch das Steigen und Sinken. Im modernen Qi Gong bedeutet das, daß sich beispielsweise beim Heben der Arme sich auch der Körper hebt. Im Taiiji, das mit Qi Gong eng verwandt ist, werden diese Bewegungen eher gegenläufig gemacht. Beim Heben der Arme senkt sich dann der Körper und parallel dazu der Energiespeicher „unteres Dantien“ im Unterbauch.
Um diese tieferen Ebenen zu verinnerlichen braucht man allerdings etwa ein Jahr intensiven Übens. Es gibt einige Qi Gong Formen, die diese tieferen Ebenen gar nicht enthalten. Das gilt meiner Beobachtung nach vor allem für die modernen Formen, die zurzeit in China unter dem Einfluß der kommunistischen Partei entstehen.
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Ruhe in Bewegung
Eine Teilnehmerin einer meiner Kurse sagte kürzlich, mein Qi Gong habe so etwas Beruhigendes für sie, fast wie eine Zen-Meditation. Die Art und Weise, in der ich die 15 Ausdrucksformen des Taiji Qi Gong praktiziere und lehre ist für mich in der Tat in allererster Linie eine Meditation. Nach einem hektischen Tag fällt es manchmal schwer, den Geist zur Ruhe zu bringen. Die langsamen und fließenden Bewegungen beschäftigen den „Affengeist“ soweit, daß er zu „tun“ hat, aber nicht weiter stört. Diese langsamen und ästhetischen Bewegungen schaffen eine geistige Ruhe, aus der heraus das geschehen kann, was man gewöhnlich als Meditation bezeichnet. Dadurch, daß die Energiefelder des Körpers in einer sinnvollen Art und Weise zueinander bewegt werden, wird der Fluß der Lebensenergie „Qi“ harmonisiert und angeregt. Das alles zusammen führt zu der wunderbaren Erfahrung des Eintauchens in eine tiefe Meditation.
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Michael Raab, geboren 1963, ist Kursleiter für Qi Gong und für Meditation in Karlsruhe. Nach seiner Ausbildung zum Heilpraktiker absolvierte er eine Schulung zum Entspannungspädagogen mit dem Schwerpunkt Autogenes Training. Seit seiner Jugend interessierte er sich für Meditation und er sammelte Erfahrungen mit Trance-Arbeit (Tempelschlaf), mit Zen und mit stillem Qi Gong.