Durch den weltweiten Austausch von kulturellen Einflüssen gerät auch in Europa die afrikanische Spiritualität immer stärker in unser Blickfeld. Der Journalist Michael Ventura, der sich mit dieser Philosophie beschäftigt hat, versucht der metaphysischen Gedankenwelt näher zu kommen:
„Afrikaner stellen sich nicht vor, dass die andere Welt – die Geisteswelt, die Welt des Göttlichen – über der ihren stünde, auch nicht unter oder neben ihr. Es gibt weder Himmel noch → Hölle, weder Olymp noch Hades (→ Griechen) noch australische → Traumzeit. Für den Afrikaner schneiden sich die Welten. Das Zeichen ist hierfür das → Kreuz (→ Welten). Das hat nichts mit dem christlichen Kreuz zu tun, das den Menschen durchbohrt, der diesen Schnittpunkt in hilflosem Dahinsterben erleidet. Das ist die westliche Art, das Kreuz zu sehen. In Afrika besteht das Kreuz aus zwei Straßen, die sich schneiden, um ineinander fließen zu können. Die physische und die geistige Welt treffen sich im rechten Winkel, und alles, was wirklich zählt, passiert in dem Punkt, wo sie sich treffen. Dieser Punkt gehört weder zu der einen noch zu der anderen Welt.“ (Michael Ventura 1975)
Eines der wichtigsten Bücher zum Verständnis der neo-afrikanischen Kultur ist → „Muntu“ von Janheinz Jahn, das den Europäern afrikanisches Denken vermitteln wollte, den Afrikanern aber eine Philosophie gab, die ihnen half, ihre kulturelle und geistige Eigenständigkeit zu akzentuieren.
Nachdem durch die Sklaverei viele Afrikaner, vor allem von der Westküste, nach Süd- und Nordamerika verschleppt worden waren, kamen die (puritanischen) Amerikaner mit der afrikanischen Spiritualität in Kontakt, die sie natürlich aufgrund der sich darin äußernden Lebenslust sofort unterdrückten. Den Afrikanern geht es darum, die Welten an ihrer Schnittlinie zu erleben, die Kräfte ihrer Gottheiten im Körper zu empfangen. Angespornt von hl. Trommeln fallen sie tief in einen Zustand der → Trance, indem sie buchstäblich von einem Gott oder einer Göttin durchdrungen werden. Diese so genannten → Voodoo-Kulte kommen vor allem aus der Tradition der nigerianischen Yoruba, die ihren Glauben an die Beseeltheit der Natur und an magisch wirkende Geister mit katholischen Ritualen und Heiligen verschmolzen. Göttinnen oder Götter ergreifen beim Tanz für kurze Zeit Besitz vom Tänzer, was man hier im Westen als → Besessenheit bezeichnet. „Aber statt sich Besessenheit vorzustellen, ist es richtiger, an ein ‚Durchfließen‘ zu denken.“ Das Göttliche und das Menschliche vereinen sich. „Wir im Westen fürchten solche Zustände so sehr, dass wir sie, wenn wir sie vereinzelt sehen, für Symptome einer Psychose halten“ (Ventura 1991).
Im afrikanischen Abomey (Dahomey) werden die Götter, die aus den Menschen sprechen, vodun genannt, was „Geheimnisse“ bedeutet. Von diesem Wort stammt das engl. → Voodoo („Wudu“ gesprochen, auch „Wodu“ oder „Vodou“ geschrieben). Die Yoruba nahmen ihre Götter mit auf die große Reise in die Karibik und nach Südamerika, wo diese sich mit den kelt. und christlichen Kollegen zusammentanzten, um Voodoo in Haiti, Santeria in Kuba oder Candomblé in Brasilien hervorzubringen. Man schätzt, dass sich mindestens 50 Mio. Menschen zu afrikanisch-amerikanischen Religionsformen bekennen. Wesentlich später als in Amerika begann die Voodoo-Bewegung in Afrika Fuß zu fassen. Rückgewanderte Afrikaner, Entwurzelte und Fremde im eigenen Ursprungsland, brachten Voodoo an die afrikanische Westküste, wo er die traditionellen Kulte befruchtete und sogar islamische Elemente aufnahm. „Eine große Religion, die Afrika vor Hunderten von Jahren verlassen hatte, fiel in ihren eigenen Schoß zurück: verfälscht, verdeutet und degeneriert, aber dennoch lebensfähig und voll leidenschaftlicher Dynamik“ (Gerd Chesi 1989). Elemente des → Schamanismus in der afrikanischen Spiritualität finden sich heute noch im südafrikanischen → Sangoma.