Die kreative Kraft des Lebensstromes wohnt in unserem Bewusstsein. Wenn wir wissen, diese Kreativität gezielt einzusetzen, anstatt sich von Hoffnungslosigkeit einschüchtern zu lassen, werden wir womöglich bis zu den tieferen Quellen des sozialen Wandels gelangen. In diesem sehr vielseitigen Essay eröffnet uns der evolve- Redakteur Mike Kauschke seine Erkenntnisse zum Thema und zeigt, dass man ruhig träumen darf.
von Mike Kauschke
„Damit das Mögliche entsteht, muss immer wieder das Unmögliche versucht werden.“ Hermann Hesse
Vor einigen Wochen sprach ich mit einer Freundin, deren Tochter begonnen hat, Konfliktforschung zu studieren. Sie erzählte, wie schwierig es für die junge Frau sei, mit der Fülle an dramatischen Nachrichten zurechtzukommen, die nun durch Erfahrungsberichte von sozialen Brennpunkten überall auf der Welt auf sie einströmen. Denn diese drastischen Berichte finden nur selten einen Ausgleich in Erfolgsgeschichten wirksamer gesellschaftlicher Veränderung. Schnell kann da die Hoffnung auf eine tatsächliche Transformation unserer Welt verloren gehen – eine Hoffnung, die uns erst veranlasst, uns für den Wandel zu engagieren. Nach dem Gespräch fragte ich mich, ob wir dabei nicht oft die tieferen Quellen der Hoffnung vergessen.
Die Kraft der Vision
Unser Umgang mit den sozialen Konflikten dieser Welt richtet sich meist auf das Reparieren der Missstände, die wir sehen. Aber die Menschen, die sich für große positive Umbrüche einsetzten, wie Mahatma Gandhi, Martin Luther King, Nelson Mandela oder Sophie Scholl, reagierten nicht nur auf die Fehlerhaftigkeit ihrer Gesellschaften. Sie waren von der Vision einer gerechteren Welt erfüllt, bewegt und begeistert. „Ich habe einen Traum“, sagte Martin Luther King in seiner berühmten Rede während des Marsches auf Washington, „dass meine vier kleinen Kinder eines Tages in einer Nation leben werden, in der man sie nicht nach ihrer Hautfarbe, sondern nach ihrem Charakter beurteilen wird.“
Gesellschaftlicher Wandel beginnt mit einem Traum – wir eröffnen uns eine Dimension des Möglichen und machen so Raum für das, was gegenwärtig noch unmöglich erscheint. Was diese Visionäre sozialer Transformation auszeichnet, ist nicht ihr Wissen, ihre Macht oder klugen Strategien, es ist eine Verletzlichkeit für das Leben, in der die Frage nach einer neuen, gerechteren, menschenfreundlicheren Wirklichkeit immer dringlicher wird. Diese Frage, in der schon die Ahnung der Antwort vernehmbar ist, hat dann die Kraft, viele Menschen zu berühren. Aber in dieser Berührung wird sich durch uns das Leben einer neuen Möglichkeit bewusst, einer größeren Verwirklichung der Wahrheit, Schönheit und Güte, die dem Leben selbst innewohnt. Die großen Visionäre waren auch deshalb bereit, ihr Leben für ihren Glauben an das Mögliche einzusetzen, weil sie mit diesem sie übersteigenden Strom des Guten verbunden waren, wie beispielsweise Gandhi sagte: „Die Ehrfurcht vor dem ‚universalen und alles durchdringenden Geist der Wahrheit‘ […] hat mich in die Politik geführt.“
In meiner eigenen Biografie war der Fall der Mauer ein Moment, in dem das scheinbar Unmögliche plötzlich Wirklichkeit wurde. Ich bin in der ehemaligen DDR aufgewachsen und kann mich noch gut erinnern, als ich im Radio hörte, die Grenze zwischen Ost-und Westberlin sei offen. Etwas, das ich kaum zu träumen gewagt hatte, war Realität. Das ist wohl auch der Grund, warum dieser weltgeschichtliche Augenblick für Menschen überall auf der Welt so besonders in Erinnerung blieb. Solch ein „Einbruch“ des Möglichen in den „geordneten“ Lauf der Dinge zeigt uns, dass wir die Zukunft und die dazu notwendigen Transformationen nicht planen oder vorhersehen können. Die Aktivisten, die sich damals im „Neuen Forum“ engagierten oder auf die Straße gingen, hatten die Vision einer freien Gesellschaft – wie genau sie aussehen und auf welchem Wege sie zustandekommen könnte, wussten sie nicht. Aber sie wagten, zu träumen. Wenn ich an die Zeit vor der Wende zurückdenke, dann erinnere ich mich eigentlich nur an ein durchdringendes Gefühl der Resignation. In meinem Bewusstsein war noch kein Raum für das Mögliche, weil wir das Träumen nicht gelernt hatten. Es brauchte einige Jahre, bis ich mit dieser neu gewonnenen Freiheit umgehen und mich darin entfalten konnte. Ich war nicht darauf vorbereitet. Vielleicht wächst in dem Glauben an ein Potenzial der Zukunft auch die Fähigkeit, es kreativ und bewusst zu gestalten, wenn es – auf welchem Wege auch immer – Wirklichkeit wird.
Das Prinzip Hoffnung
Der Philosoph Ernst Bloch beschäftigte sich in seinem Hauptwerk „Das Prinzip Hoffnung“ mit der Kraft der Vision, die uns als Menschen immer wieder erneut veranlasst, Utopien zu entwerfen: „Sozialutopie arbeitete als ein Teil der Kraft, sich zu verwundern und das Gegebene so wenig selbstverständlich zu finden, dass nur seine Veränderung einzuleuchten vermag.“ Die utopischen Visionäre sehen vor ihrem geistigen Auge ein Potenzial der Zukunft: „Die Wachträume ziehen, sofern sie echte Zukunft enthalten, allesamt in dieses Noch-Nicht-Bewusste, ins ungeworden-ungefüllte oder utopische Feld.“ Wie Bloch mit seinem Begriff der Wachträume andeutet, kann dieses „Noch-Nicht-Bewusste“ nicht allein rational erfasst werden. Es kommt aus einem „antizipierenden Bewusstsein“ das sich für die Realität des ganz Anderen, Zukünftigen, noch nicht Manifesten offenhält. Damit wird aber die Gegenwart, der gelebte Augenblick, offen für die Zukunft.
Vielleicht hat die Arbeit an sozialer Transformation auch viel damit zu tun, diese Räume des Möglichen zu eröffnen und schöpferisch auszuloten. Denn dieses hoffnungsoffene Bewusstsein lebt nicht allein aus Vorstellungen, Ideen oder Strategien, sondern vor allem aus einer Verbundenheit mit dem Schöpferischen des Lebens selbst. Wenn wir uns die Evolution unseres Bewusstseins und unserer Kultur vergegenwärtigen, von den Anfängen vor etwa 40.000 Jahren bis heute, dann sehen wir eine Abfolge radikaler Transformationen, die jedes Mal unser Zusammenleben und unsere Möglichkeiten in der Welt völlig neu formten. Der integrale Denker Steve McIntosh bemerkt, dass sich kulturelle Evolution immer in der Dialektik von „Drücken“ und „Ziehen“ ereignet. Dabei kommt der Druck aus den krisenhaften Situationen einer kulturellen Stufe und der Zug entsteht durch die Anziehungskraft neuer Werte einer neuen Stufe. Damals in der DDR war der Druck die unerträgliche Enge von ideologischer Gleichschaltung und Überwachung und der Zug war die Verheißung der Freiheit, eines selbstbestimmten Lebens.
Auch heute stehen wir an einer Schwelle, wo wir den evolutionären Druck deutlich spüren, in einer Welt voller grassierender Konflikte und Probleme. Aber was zieht uns in die Zukunft?
Das Salz der Erde
Vor einiger Zeit sah ich den Film „Das Salz der Erde“ von Wim Wenders über den Fotografen Sebastião Salgado. In seiner Karriere als weltbekannter Fotograf zog es ihn immer wieder an Orte, wo sich schreckliche menschliche Tragödien ereigneten. Er wollte das Auge der Welt sein und uns allen zeigen, was heute auf unserem Planeten geschieht. So kam er auch in den Konflikt zwischen den Hutu und Tutsi in Ruanda, bei dem etwa eine Million Tutsi umkamen und die Welt tatenlos zuschaute. Diese Erfahrung stürzte Salgado in eine tiefe Krise: „Als ich dort wegging, glaubte ich an nichts mehr. Nichts könnte die Menschheit mehr retten. So etwas könnten wir nicht überleben! Wir hatten es nicht verdient zu leben. Niemand!“ Er hörte mit dem Fotografieren auf und zog sich auf die Farm seiner Eltern in Brasilien zurück. Im Laufe der Zeit fand er eine Antwort auf die Verzweiflung. Das Tal, in dem die Farm seiner Eltern stand, war einst dicht bewaldet gewesen, heute war es Steppe. Raubbau und Dürre hatten das Land zerstört. Zusammen mit seiner Frau fasste Salgado einen unmöglich scheinenden Entschluss: das Tal wieder aufzuforsten. Sie ließen zweieinhalb Millionen Regenwaldbäume pflanzen, wodurch sich das Ökosystem mit der Zeit wieder erholen konnte. Das Land schenkten sie dem brasilianischen Staat als Nationalpark und gründeten das „Instituto Terra“, um an anderen Orten ähnliche Aufforstungsprogramme durchzuführen. Salgado fand aus seinem Leiden an der Lage unserer Welt eine kreative Antwort. Und er konnte auch wieder fotografieren: Für sein Projekt „Genesis“ bereiste er unberührte Orte der Erde und brachte die Schöpfung, von der wir ein Teil sind und deren Bewahrung unsere Aufgabe ist, in beeindruckende Bilder, die Millionen Menschen erreichen.
Dem Leben antworten
An der Geschichte von Sebastião Salgado berührt mich besonders, wie vollkommen er sich dem „Druck“ unserer krisenhaften Weltsituation ausgesetzt hat, damit aber so umgehen konnte, dass er seinen „Zug“ spüren, ihm folgen und ihn umsetzen konnte. Wir alle können leicht überwältigt werden von der Komplexität und der Vielzahl der Probleme in unserer Welt. Aber wenn wir uns mit dem Zug, der Verheißung des Neuen, unserer Vision, dem „utopischen Feld“ verbinden, gehen wir existenziell in eine andere Dimension. Denn in dieser Ahnung eines besseren Lebens, von tieferer Wahrheit, Schönheit und Güte, zeigt sich in unserem Bewusstsein die kreative Kraft des Lebensstromes selbst.
Der Philosoph Maik Hosang, den ich vor Kurzem bei einem Vortrag erlebte, nennt diesen schöpferischen Impuls unseres Wesens in Anlehnung an evolutionäre Denker wie Jean Gebser oder Sri Aurobindo das „evolutionäre Selbst“ oder das „seelische Wesen“, das sich als Inspiration, Freude und Verbundenheit mit dem noch nicht Gewordenen zeigt. Aus dieser Berührung mit der Energie des Möglichen in uns selbst kämpfen wir nicht so sehr gegen die bestehenden Verhältnisse, als vielmehr für die Vision von Freiheit, Würde, Gerechtigkeit, Frieden und Mitgefühl, die wir in unserem Geist erahnen. Das ist nicht nur ein anderer kognitiver Fokus, sondern verbindet uns auch mit der positiven Energie des Lebens, das sich in mehr Leben hinein entfalten will und sich in uns seiner selbst und seiner Möglichkeiten bewusst wird. Hosang zitiert den Soziologen Herbert Marcuse, der eine „ästhetisch-erotische Transformation“ forderte. Eine Transformation, die bewegt wird von den Kräften einer weltzugewandten Liebe und einem bewussten Erfülltsein von der wachsenden Intensität des Lebens. Hier nährt sich die Arbeit an gesellschaftlicher Veränderung auch aus dem schöpferischen Potenzial der Kunst, wie es die Beuys-Schülerin Shelley Sacks verfolgt: „Gemäß dem griechischen aisthetikos, ‚wahrnehmend‘, sehe ich in Ästhetik das Gegenteil von Anästhesie oder Betäubung – also ein belebtes, verlebendigtes Sein. So verstanden, ist Ästhetik die Fähigkeit, sich dem zu nähern, was uns in der Welt, unserem Umfeld und in uns selbst begegnet, berührt, bedrängt, und die Fähigkeit, darauf zu antworten.“
Welche Inspirationskraft solch ein Wandel aus dem Antworten auf das Leben entfalten kann, erfuhr ich kürzlich bei einem Kongress, bei dem Margret Rasfeld die von ihr gegründete Evangelische Schule Berlin Zentrum vorstellte. Der Impuls zu der radikal anderen Form von Pädagogik, die dort gelebt wird, kam aus der Erfahrung, dass wir das lebendige Potenzial unserer Kinder unter einer leistungsorientierten und standardisierten Bildung verschütten. Für Margret Rasfeld stehen hingegen die in jedem Menschen anwesenden Entfaltungsimpulse im Mittelpunkt. Und in der Verbindung mit ihrem eigenen tieferen Potenzial finden die Jugendlichen auch ganz natürlich zu einem sozialen Verantwortungsbewusstsein. Nicht umsonst heißen zwei zentralen Fächer ihrer Schule „Herausforderung“ und „Verantwortung“.
Die Kreativität des Ganzen
In der Evolutionsforschung gibt es einen Begriff, der das Geheimnis des schöpferisch Werdenden sehr gut benennt: Emergenz. Damit wird das Merkmal komplexer Systeme beschrieben, wonach aus dem Zusammenwirken der Teile plötzlich eine neue Ganzheit entsteht, die nicht vorhergesagt werden kann. Nehmen wir zum Beispiel Wasserstoff und Sauerstoff: Wie kann aus der Verbindung von zwei Gasen plötzlich flüssiges Wasser entstehen? Wir wissen es nicht. Oder noch grundlegender: Wie konnte aus lebloser Materie das Leben entstehen? Oder wie aus Säugetieren selbstreflexive Menschen? Wie kam es 1989 plötzlich zum Mauerfall? Und wie emergierten viele Male in unserer Geschichte neue Gesellschaftsformen – von Stämmen zu Feudalgesellschaften zu Imperien zu demokratischen Nationalstaaten und einer global vernetzten Gesellschaft? Der Kosmologe Brian Swimme sagt über die Bedeutung von Emergenz: „Lange Zeit dachten wir, das Universum sei ein unveränderliches Gebilde, das seine schöpferische Hauptaktivität nur am Anfang der Zeit hatte. Aber jetzt verstehen wir, dass das Universum ein anhaltendes kreatives Ereignis ist. Sterne entstanden, Galaxien entstanden, Planeten tauchten auf, das Leben barst in die Existenz. Diese Entstehungskraft könnte man auch fortwährende Kreativität nennen. In gewisser Weise ist die größte Entdeckung menschlicher Wissenschaften die Entdeckung, dass das Universum als Ganzes – und damit jedes Wesen darin – von der Kraft der Emergenz durchdrungen ist.“
Wenn wir soziale Transformation vor diesem Hintergrund sehen, werden die Herausforderungen, die vor uns liegen, nicht leichter. Aber wir kommen mit anderen Quellen in uns in Verbindung, damit zu unserem rationalen Verstehen der Ursachen auch die mitfühlende Fürsorge, die spürende Intuition des Möglichen und das Vertrauen in die kreative Kraft des Lebens kommen können. Wenn wir dann unserem eigenen Zug ins Mögliche, ins „Noch-Nicht-Bewusste“ folgen, danach handeln und uns darin begegnen, dann arbeiten wir gemeinsam an der Emergenz einer erträumten unmöglich-möglichen Zukunft.
In dieser Ahnung von tieferer Wahrheit, Schönheit und Güte zeigt sich in unserem Bewusstsein die kreative Kraft des Lebensstromes selbst.
Der Text ist zuerst erschienen in evolve – Magazin für Bewusstsein und Kultur
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Mike Kauschke ist leitender Redakteur des Magazins evolve, Autor und freier Übersetzer mit einem Schwerpunkt auf Bücher mit spirituellen und integralen Themen, unter anderem von Steve McIntosh, Frederic Laloux, Jon Kabat-Zinn, Rick Hanson und Richard Rohr. Er praktizierte und studierte Zen-Buddhismus bei Lehrern in Deutschland und den USA und war in der Hospiz-Arbeit tätig. Seit über zehn Jahren engagiert er sich in der Praxis und Entwicklung einer integralen Spiritualität und ist Dialogbegleiter für den emerge Dialogprozess.