Kriegstraumata, das Gift aus dem Unbewussten – Christine Lemmrich

von Thomas
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© Franzworks / photocase.de

Kriegsereignisse hinterlassen – wie alle traumatischen Ereignisse – bei den Personen, die sie direkt erleben, eine oft stark zerrüttete psychische Struktur. Werden diese Menschen Eltern, geben sie die entsprechenden Muster unbewusst an ihre Nachkommen weiter – denn sie können nur das geben, was sie sind. Allein eine Aufarbeitung der Traumata kann hier den Kreislauf des Leidens beenden.

von Christine Lemmrich

 

Kriegstraumata – das Thema drängt immer mehr an die Öffentlichkeit, auch wenn es in der Psychotherapie immer noch viel zu wenig Beachtung findet. Wenn wir den Fernseher einschalten, sehen wir vor allem Eines: Schrecken und Gewalt. Dazu Flüchtlingsströme von Menschen, die nicht nur in ihrem Heimatland Krieg, Armut, Hunger, Vertreibung und Gewalt erlebt haben, sondern die auf der Flucht nach Europa ebenfalls großen Risiken und lebensgefährlichen Umständen ausgesetzt sind. Wie geht es diesen Menschen? Wie wird ihre Zukunft sein? Wie werden sie in der neuen Gesellschaft zurecht kommen? Was bedeuten diese Torturen für ihre Kinder?

All das frage ich mich als Traumatherapeutin und brauche nur ins eigene Land zu schauen, auf unsere deutsche Geschichte, um Antworten zu finden. Und ich betrachte diese Geschichte nicht aus der Perspektive dessen, was wir als Deutsche anderen Völkern angetan haben, das bleibt unbenommen, sondern aus der Perspektive des einzelnen Menschen, der den Krieg erlebt hat.

Ich möchte dabei einmal von den heute älteren Menschen sprechen, die während des Zweiten Weltkriegs geboren wurden, den sogenannten „Kriegskindern“, aber auch von ihren Kindern, den „Kriegsenkeln“ (Siehe auch Sabine Bode, „Die vergessene Generation“). Erstere sind heute in den Siebzigern und älter, viele von ihnen schon in Alten- und Pflegeheimen. Dort brechen nach Jahren des Schweigens und Verdrängens, im hohen Alter, die Erlebnisse des Zweiten Weltkrieges wieder auf: Bombardierung, Vergewaltigung, Hunger, Vertreibung, Heimatverlust, um nur einige zu nennen – ein Schrecken, der für uns unvorstellbar ist. Die Pflegenden sind mit den Alten und ihren Erinnerungen häufig überfordert, Hilfe gibt es kaum.

 

Massive Beeinträchtigungen durch Kriegstraumata

Als Traumatherapeutin habe ich also kaum mit diesen alten Menschen zu tun, sie schaffen es schlichtweg nicht in meine Praxis bzw. es interessiert niemanden oder ist auch nicht bekannt, dass selbst Menschen im hohen Alter mit einer entsprechenden Traumatherapie geholfen werden könnte.

Ich habe es eher mit den Kindern der Kriegskinder, den Kriegsenkeln zu tun. Sie kommen zur normalen Traumatherapie in meine Praxis und ab und an wird klar, dass es da noch etwas anderes gibt als die typischen Lebensereignisse, die Trauma verursachen, etwas, das noch viel mehr im Dunkeln liegt, weniger greifbar ist und doch unter Umständen massiv in das Leben des Betroffenen eingreift. Genau deshalb möchte ich darüber schreiben, über den Krieg und seine Folgen, gerade für die nachfolgenden Generationen. Dazu werde ich ein Beispiel aus meiner Praxis verwenden und kursiv immer wieder Erläuterungen dazu geben.

Herr A. ist 48 Jahre alt. Seine Mutter wurde 1930 geboren. Sie stammt aus Ostpreußen, aus einer ländlichen Gegend. Auf dem elterlichen Gut musste sie schon früh mitarbeiten. Mit dem Krieg kam sie erst 1944 in Kontakt, als die Nazis in Polen einmarschierten.

Nachweislich ist es so, dass die Kinder, die erst in der späteren Kindheit mit dem Krieg konfrontiert wurden und noch die Möglichkeit hatten, eine relativ unbeschwerte Kindheit zu erleben, eine höher Resilienz (Widerstandskraft) entwickeln konnten – gerade im Umgang mit den Kriegstraumata – als die Kinder, die direkt während des Krieges zur Welt kamen. Auf die Mutter von Herrn A. trifft das zu. Wie wir nachfolgend sehen werden, ist es enorm, was sie in ihrem Leben geschafft hat, trotz unvorstellbarer Traumatisierungen.

 

Kriegstrauma und Erinnerungslücken

Mutter A. musste 1944 flüchten, leider zu spät, sie geriet zwischen die Fronten. Im Januar 1945 wurde die gesamte Familie in russische Lager deportiert. Sie musste dort drei lange Jahre verbleiben: unzählige Vergewaltigungen, Typhus, Malaria, Hunger und Erfrierungen waren an der Tagesordnung. Gearbeitet wurde in der Landwirtschaft bzw. es mussten Gräben ausgehoben werden, um die vielen Leichen zu verscharren.

1948 ging es in ein Auffanglager, nach Friedland/Niedersachsen – dort erlitt Mutter A. einen Gedächtnisverlust und wurde apathisch. Sie konnte sich an nichts mehr erinnern. Sie beschreibt es selbst so, dass ihr „Bewusstsein“ erst viel später wieder einsetzte und die Erinnerungen zurückkamen. Danach sagte Mutter A.: „Ich habe vor nichts mehr Angst. Ich habe so viel Schlimmes erlebt, mir kann nichts mehr Angst machen.“

Das stimmt so natürlich nicht, die Angst gab es natürlich, sie war nur weitestgehend verdrängt und kam in eher kleinen Episoden zum Vorschein. Im Alter jedoch bricht sie massiv und unerwartet auf.

Von Friedland ging es weiter nach Sachsen, zu einem Teil ihrer Familie. 1953 sollte sie dort mit einem älteren Mann verheiratet werden. Das wollte sie nicht und floh nach Berlin zu einer Tante. In Berlin machte sie eine Ausbildung zur Krankenschwester, ein ganz alter Jugendtraum ging damit in Erfüllung.

Hier zeigt sich nochmals die hohe Resilienz von Mutter A. – sie schaffte es, ihren Jugendtraum umzusetzen, genauso wie sie es schaffte, sich gegen die Heirat zu wehren. Sie konnte für sich einstehen und sorgen.

Mutter A. sagt heute, das war ihre schönste Zeit, sie habe damals ihre Jugend nachgeholt und einfach gelebt. 1961 lernte sie dann den Vater von Herrn A. kennen. Damit ging ein weiterer Wunsch in Erfüllung – sie wollte eine Familie gründen. Das war eine ganz bewusste Entscheidung von ihr.

 

Schnelles Überfordert-Fühlen als Folge von Kriegstraumata

1963 wurde mein Klient, Herr A. geboren. Vier Jahre später ein Bruder. Die Familie lebte im Grünen, in einem Haus mit Garten, musste jedoch sehr sparsam sein.

Wie beschreibt nun Herr A. seine Kindheit? Herr A. erlebte seine Mutter als Kind als sehr verunsichert in ihrer Rolle als Mutter. Sie war da, aber nicht sehr feinfühlig, oft hilflos, schnell überfordert, wenn die Dinge über Alltagspraktisches hinausgingen. Das heißt (Kriegsfolge), das Überleben von Herrn A. wurde gesichert, aber es ging nicht um eine Förderung von Herrn A., darum, was ihn ausmachte, welche Persönlichkeit er hatte. Es ging schlichtweg nur um „Funktionieren“. Herr A. fühlte sich von seiner Mutter nicht gesehen. Im Gegenteil, die Mutter wollte von ihm verstanden werden, als Kind musste sich Herr A. oft die Kriegsgeschichten der Mutter und der Tante anhören, auch über so traumatische Sachen wie verstorbene Kinder im Flüchtlingstreck.

Ruhige Momente gab es in der Familie selten, es musste immer irgendwie „Drama“ sein. Permanenter Stress, Streit und Chaos waren normal. Ruhige Momente waren von einer Sehnsucht und Traurigkeit erfüllt.

Es ist sehr sicher, dass Mutter A. unter einer „Posttraumatischen Belastungsstörung (PTBS) leidet. Ein derartig aktiviertes Nervensystem macht vor allem eines – es verursacht Stress, nicht nur im Inneren, sondern auch im Außen. Daher das Chaos und der permanente Stress in der Familie. Mutter A. ging es, wie im Krieg, nur um das blanke Überleben, das musste reichen. Sprich: Ihr ganzes System hat noch so funktioniert wie im Krieg. Ein genaues Hingucken und -fühlen, was ein Kind eigentlich braucht, hätte im Krieg den sicheren Tod bedeutet. Krieg kann ich nur überleben, wenn ich „dicht mache“, funktioniere, möglichst wenig fühle und nicht richtig „da bin“. Dieser Modus, und das ist das Drama, läuft aber in Friedenszeiten weiter und überträgt sich auf die Folgegeneration, die den Krieg gar nicht mehr kennt. Diese Kinder der Kriegskinder hatten also mit Eltern zu tun, die nicht wirklich ansprechbar und häufig dissoziiert waren. Das Kind lernt: Ich erreiche meine Eltern nicht, ich bin nicht wichtig. Bzw. das Kind lernt: Meinen Eltern geht es so schlecht, dann muss ich ganz brav sein, mich anpassen. Das war übrigens damals auch eine ganz gängige Erziehungsmethode – den Kindern wenig Beachtung schenken, sie „hart wie Kruppstahl machen“. Wir sprechen von der sogenannten „Schwarzen Erziehung“, wie sie die österreichisch-deutsche Ärztin und Autorin Johanna Haarer in Erziehungsratgebern wie „Die Mutter und ihr erstes Kind“ schon in der Nazizeit propagierte. Etwas, das man heute als „Emotionale Traumatisierungen“ begreifen würde.

 

Keine sichere Basis – traumatische Grenzverletzungen

Es gab also für meinen Klienten als Kind, so beschreibt er es, keine sichere Basis. Herr A. muss all das nun als Erwachsener verarbeiten. Er hat durch diese Erfahrung selbst ein sehr aktiviertes Nervensystem und offiziell die Diagnose „ADHS“.

Wie geht es der Mutter heute? Sie hat immer noch ein hohes Maß an Resilienz und wird jetzt stolze 85 Jahre alt. Doch nun, im Alter, holen sie die Kriegserlebnisse ein. Sie grübelt, immer wieder kommen Situationen hoch, in denen sie fast gestorben wäre, im Keller eingeschlossen war etc. Sie kann sich gegen bestimmte Anforderungen von außen nicht zur Wehr und keine Grenzen setzen. So werden ihr Versicherungsverträge auf – geschwatzt, die sie nicht haben will.

Da bei einer Traumatisierung die eigenen Grenzen durchbrochen werden, ist das ganz typisch.

Nachts erlebt Mutter A. Flashbacks, das heißt, sie durch- und erlebt alte Kriegs- und Nachkriegserlebnisse wieder, geprägt von heftigen Gefühlszuständen. Sie fühlt sich ängstlich und unsicher, was sie früher nicht war. Das ist neu für sie und wirft sie, wie sie sagt, aus der Bahn.

Darüber hinaus ist sie depressiv und verspürt ein grundsätzliches Misstrauen gegenüber anderen Menschen. Sie nimmt Sachverhalte falsch wahr und interpretiert diese verkehrt, auch das ganz typisch für eine Traumatisierung.

Sie hat große Angst vor Hilflosigkeit/Ausgeliefertsein im Alter und möchte das um jeden Preis vermeiden. So hat sie eine Patientenverfügung verfasst. Versorgen lässt sie sich nur durch ihre Söhne, denen sie vertraut, von „Fremden“ möchte sie nicht betreut werden. Sie versucht alleine mit ihren Ängsten, der Depression und den Flashbacks zurechtzukommen und erzählt diese Dinge höchstens ihrem Sohn, Herrn A. Männern gegenüber war sie Zeit ihres Lebens misstrauisch (u.a. Folgen der Vergewaltigungen). So erinnert sich Herr A., dass seine Mutter in seiner Kindheit häufig aus dem Auto des Vaters gesprungen sei, wenn ihr etwas „komisch“ vorkam.

Das heißt, die Mutter „floh“. Das ist ganz typisch bei Traumata. Wenn ich unter der Traumatisierung nicht fliehen konnte, zum Beispiel, weil der Gegner so stark war, alles im Organismus aber auf Flucht angelegt war, dann werde ich diese Fluchtimpulse mein Leben lang in diversen Situationen weiter haben, es sei denn, ich führe diese Fluchtimpulse in der Traumatherapie zur Vollendung. Dann dürfen sie aufhören.

 

Kein Frieden ohne therapeutische Bearbeitung

Ich denke, hier wird offensichtlich, dass beide Hilfe brauchen – Mutter und Sohn. Der Sohn holt sich aufgrund seiner Bildung und seines Alters diese Hilfe und kann mittels Traumatherapie seine Kindheitserfahrung Schritt für Schritt verarbeiten und sich von seinen Traumata befreien. Die Mutter gehört zu einer Generation, die Psychotherapie gegenüber skeptisch eingestellt ist, Hilfe ist für sie allerdings ohne eine solche nicht möglich. Eine gezielte Traumatherapie könnte zwar nicht die Kriegserlebnisse verändern, aber den Umgang des Nervensystems damit. So, dass im besten Falle Frieden einkehren könnte, auch in Hinblick auf den bevorstehenden Lebensabschluss.

Ich hoffe, dass anhand meines Beispiels deutlich wird, wie wichtig und aktuell es ist, den Kriegsfolgen Beachtung zu schenken und diese bewusst in die Traumatherapie einzubeziehen. Denn sonst tragen sich die Folgen von Generation zu Generation weiter. Und dabei geht es nicht nur um die Folgen für den Einzelnen, sondern auch um die Folgen für die gesamte Gesellschaft. Dies hier ist nur ein sehr kurzer Abriss zu dem brisanten Thema – wer mehr wissen möchte, dem seien die Bücher von Sabine Bode zu empfehlen.

 

die vergessene GenerationSabine Bode: „Die vergessene Generation – Die Kriegskinder brechen ihr Schweigen“

Preis: 9,95€

Kartoniert: 304 Seiten

Verlag: Klett-Cotta (2016)

ISBN-13: 978-3608947977

Hier können Sie das Buch bestellen.

 

 

Über die Autorin:
Christine Lemmrich arbeitet als Traumatherapeutin in eigener Praxis in Berlin-Schöneberg. Sie ist Heilpraktikerin (Psychotherapie), Dipl. Sozialpädagogin und Autorin. 2012 erschien ihr Buch „Theta-Balance“ bei MensSana. Darüber hinaus bietet sie im deutschsprachigen Raum auch Fern-Sitzungen an und leitet Traumatherapie-Seminare. Im Einzelfall führt sie auch Hausbesuche durch. Sie ist in diversen Verfahren ausgebildet, u.a. in „Somatic Experiencing“, einer speziellen Traumatherapieform nach Dr. Peter Levine.

www.traumatherapiepraxis-berlin.de

 

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3 Kommentare

50-jährige Kriegsenkeltochter 21. März 2016 - 00:25

Liebe Frau Lemmrich,

ich sitze hier und mir kommen die Tränen, weil ich mich sehr gesehen fühle. Ich habe mich selbst so intensiv mit dieser ganzen Thematik auseinander gesetzt, dass Ihr gesamter Text von mir selbst stammen könnte. Ich danke ihnen so sehr für diesen sehr guten Artikel zu Sensibilisierung für dieses so eklatant wichtige Thema…. für alle aktuell lebenden und ungeborenen Generationen.

Ich gehöre mit fast 5o Jahren zur Kriegsenkel-Generation. Meine Eltern wurden 1941 und 1942 geboren. Ich wurde als 1966 geborene Tochter geprägt von einer mich emotional und körperlich gewalttätig behandelnden Mutter und einem emotional und auch sonst nicht präsenten Vater. Ich habe per Briefwechsel (denn vor einer körperlichen Konfrontation hatte ich zu große Angst), der über Jahre ging, versucht, mit ihnen meine Kindheit und die Folgen aufzuarbeiten. Ohne Erfolg. Nur das Selbe wie gewohnt: Keine wirkliche Einsicht, Abwehr, erneut emotionale Verletzungen seitens meiner Mutter und mein Vater hat sich gar nicht geäußert. Ich habe es dann aufgegeben und auch den Kontakt gelöst, weil mir klar war, dass ich in ihrer Nähe selbst nicht gesund werden kann. Es war ein sehr schwerer Schritt, doch es ging nicht anders, wenn ich endlich mich selbst ernst nehmen wollte.

Das, mit dem die Kriegsenkel oft zu tun haben, lässt sich am besten unter Bindungs- oder Entwicklungstrauma zusammenfassen, dessen Symptomatik viel subtiler sind als bei Schocktraumata. Leider wird die notwendige Besonderheit für den Umgang mit Betroffenen immer noch nicht ausreichend genug gesehen, geschweige denn berücksichtigt. Die klassischen Methoden zur Verarbeitung einer Schocktraumatisierung helfen hier nicht. Zum Einen weil es um eine konstante Traumatisierung geht, zum Anderen, weil die traumatisierenden Situationen in der Regel bereits im vorsprachlichen Alter stattfanden. So werden im Erwachsenenalter zwar Traumaerregungen erlebt, manchmal innere Bilder oder Trauminhalte,doch keine Worte dazu gefunden. Daher ist auch eine rein sprachbasierte Therapiemethode nicht zwangsläufig die geeignetste.

Ich hatte mich vor vielen Jahren auf eine Frau eingelassen, die sich als therapeutisch kompetent ausgab und ich die Sitzungen aus eigener Tasche finanzierte. Ich war zu naiv, therapieunerfahren und unbewusst in erster Linie auf der dringenden Suche nach einem verlässlichen Menschen mit wahrem Interesse an mir, was ich vor her nie erlebt hatte, Im Gegenteil. Ich hatte nach meinen Eltern weiteren emotionalen, körperlichen und sogar sexuellen Missbrauch durch andere Menschen erlebt. Mit dieser „Therapeutin“ war es ihrerseits zu vielen Grenzüberschreitungen gekommen, doch ich konnte aufgrund meiner Prägung nicht erkennen und wollte es später zuerst nicht wahr haben, dass mir Vieles nicht so gut tat, wie ich dachte.
Im letzten Jahr kam es in der Beziehung zu dieser Frau zwischen uns zu einer heftigen Krise, in der sie sich ziemlich genau so verhielt wie damals meine Mutter. Es war furchtbar, triggerte mich extrem: Retraumatisierung. Trotz gemeinsamer Aufarbeitungsversuche unseres Bzeihungsgeschehens veränderte sich ihr Verhalten nicht. Sie (Kriegsenkelin der 50er Jahre) schien eine sehr ähnliche Schutzmauer um sich zu tragen wie meine Mutter (Kriegskind der 40er Jahre). Erneut musste ich mich um meinetwegen trennen, trotz tiefer Trauer über diesen Verlust. Irgendwann ging es mir besser. Ich war ein Stückchen gewachsen. Aber ich war auch wieder in erster Linie am Funktionieren.

Mein grundsätzliches Muster: schmerzhafte Gefühle verdrängen, auf die Bedürfnisse von anderen ausrichten, denn der Zugang zu meinen eigenen und entsprechenden Grenzen war mir nicht möglich. Schuld und Scham, weil ich so bin wie ich bin und grundsätzlich falsch und verantwortlich dafür bin, wenn sich andere nicht gut fühlen. Die ganze Zeit Gedanken, was der Andere wohl über mich denkt und davon ausgehen, dass es grundsätzlich negativ ist. Und niemand darf mitbekommen, wenn es mir nicht gut geht. Bloß nicht auffallen. Was sollen denn die anderen Leute denken?! – Mein Urvertrauen ist ziemlich beschädigt.
Trotz erster Besserung während der ersten Jahre in der 14 Jahre langen Pseudotherapie, nahm mein Selbstwertgefühl und Ansätze von Autonomie wieder ab. Durch die für mich retraumatisierende Krise am Ende brach alles nur noch mehr wieder ein. Erneut hatte ich jemandem voll vertraut und war erheblich verletzt worden.
Diese Selbstannahmen, verinnerlichten Leitsätze haben mich mein Leben lang ausgemacht. Als sie mir bewusster wurden, hätte ich sie so gerne einfach ausgelöscht. Doch das geht leider nicht.

Ein halbes Jahr nach meiner Trennung von meiner langjährigen Begleiterin holte mich das Erlebte wieder ein und ich reagierte wie schon oftmals vorher mit Depression anmutender Symptomatik plus überflutender Erinnerungen an das kürzlich Erfahrene. Zum ersten Mal nahm ich mich damit so ernst, dass ich mich sogar auf eine schulmedizinische Behandlung und von der Krankenkasse zugelassene Therapie einlassen wollte, auch wenn ich vorher nie in diese „Mühle“ geraten wollte, denn u.a. jobbedingt hatte ich zu viel Einblick in die durchaus Unzulänglichkeiten, was die ganzheitliche Betrachtung auf „Krankheiten“ angeht. Aber ich konnte nicht mehr. Weder finanziell, vor allem aber noch körperlich und emotional. Ich konnte nicht mehr funktionieren und wollte es nicht mehr. Vorbei mit all der Lüge und Fassade.
Ich bin nun seit Oktober letzten Jahres aufgrund der Diagnose Depression krank geschrieben und habe glücklicher Weise bereits im Januar eine richtige Therapie anfangen können, was erstaunlich schnell möglich wurde. Ich hatte dieser Frau in den probatorischen Sitzungen bereits von meinem sehr vermuteten Bindungstrauma erzählt und mich auf sie eingelassen, obwohl sie keine Traumatherapeutin ist. Es ist so gut wie unmöglich, eine von der Kasse anerkannte Therapie zu bekommen, die angemessen (d.h. mit vorrangigem körperorientierten Ansatz wie S.E. es ist) mit Entwicklungstrauma arbeitet. Ich bin finanziell nicht mehr in der Lage, noch mal viel Geld zu investieren. Ich habe nun das an Vertrauen in diesen Menschen investiert plus Vertrauen in meine Wahrnehmung (bei gleichbleibendem ständigen Zweifel), dass diese Frau in der Lage ist, mich gut zu begleiten.
Das Dilemma ist, dass auf diese Traumatisierung ausgerichtete Therapie mit wirklich passendem Ansatz zum größten Teil von nicht von der GKV zugelassenen Therapeut*innen angeboten wird. Ist jemand, so wie ich, länger krankgeschrieben und muss (und möchte) entsprechende Behandlungsmöglichkeiten als Gegenleistung für Krankengeld in Anspruch nehmen, kann er ausschließlich keine selbst zu zahlende Therapie wählen.

Das grundlegende Dilemma ist, dass wir von den Kriegskindern traumatisierte Kriegsenkel diejenigen sind, die nicht nur unsere eigenen Verletzungen versorgen, aufarbeiten und den erfahrenen Schmerz integrieren müssen, sondern auch den unserer Eltern, sogar unserer Großeltern…, wenn ich nur mal beim 2. Weltkrieg bleibe. Im Grunde sind wir, die Kriegsenkel, die Trümmerfrauen UND -männer, die die emotionalen Zersplitterungen des Selbst von betroffenen unzähligen Menschen irgendwie wieder zu einem Ganzen zusammenfügen müssen.
Es ist äußerst schmerzhaft, mit diesen Verletzungen zu leben und genau so, sie anzusehen und anzunehmen. Es ist ungemein anstrengend, ein Leben ohne die zu sich selbst gehörende Lebendigkeit zu leben, weil sie nie sein durfte, und statt dessen zu funktionieren, innerlich zu sterben und oft kaum noch Hoffnung zu haben, es könnte sich doch noch irgendwann etwas verändern. Es braucht unglaublich viel Mut, die so lang gelebte Realität als Illusion zu erkennen, diesen „geblühmten Vorhang“ zur Seite zu ziehen und die Wahrheit zu erkennen.
Wenn ich nur verlässlich mir selbst all das glauben könnte und vor allem mich selbst bedingungslos lieben könnte. Doch ich weiß nicht wie das geht, weil ich es nicht erfahren und somit verinnerlicht habe. Ich misstraue nicht nur Sympathie-, Liebes- und Interessenbekundungen von Anderen, sondern auch jedem kleinsten Versuch, dies mir selbst zu geben. Und ich bin mein Leben lang auf der Suche nach Verständnis und Mitgefühl für das, was mich ausmacht.

Die Hoffnung stirbt bekanntlich zuletzt. Und so hoffe ich immer noch,
…. dass sich etwas für mich in diesem Leben verändern wird,
…. dass sich etwas für alle betroffenen Menschen ändern wird und
…. dass diese Epidemie sich auflöst, die ich persönlich als Auslöser für viele psychische Irritationen betrachte (Alzheimer-Demenz eingeschlossen als von mir bezeichnete Posttraumatische Belastungsstörung der Lebensphase Alter. Es ist m.E. ken Zufall, dass die Kriegskindergeneration die heutige Demenzgeneration ist!).

Ich würde die Literaturliste, auf der Sabine Bde bereits steht, gerne um folgende Bücher ergänzen:
* „Seelische Trümmer – Geboren in den 50er- und 60er-Jahren: Die Nachkriegsgeneration im Schatten des Kriegstraumas“ von Bettina Alberti
* „Wir Kinder der Kriegskinder. Die Generation im Schatten des Zweiten Weltkriegs“ von Anne-Ev Ustorf
Und für die, die sich näher für die während des Naziregimes propagierten Erziehungsmethodik interessieren:
* Adolf Hitler, die deutsche Mutter und ihr erstes Kind. Über zwei NS.Erziehungsbücher“ von Sigrid Chamberlain

Wie gut, dass Sie aus dieser Perspektive heraus Menschen psychotherapeutisch begleiten, liebe Frau Lemmrich!
Mit besten Wünschen für uns alle.
50-jährige Kriegsenkeltochter

Thomas 21. März 2016 - 01:56

Vielen Dank für Ihre sehr persönliche Geschichte, die ein Artikel für sich sein könnte…

thomas schmelzer

Christine Lemmrich 25. März 2016 - 00:07

Liebe unbekannte Kriegsenkeltochter,

vielen Dank für Ihre offene und ausführliche mail zu meinem Artikel! Danke, dass Sie mich und Andere so ehrlich Anteil nehmen lassen und den Artikel so persönlich und bereichernd ergänzen!

Leider muss ich Ihnen zustimmen – die Traumatisierungen, die Sie beschreiben sind Lebensthemen, was nicht bedeutet, dass man sie nicht so verändern könnte, dass man als Betroffener kein gutes Leben haben könnte. Im Gegenteil – auch mit diesem Hintergrund können und dürfen Sie bei entsprechender Traumatherapie wieder ein erfülltes Leben, mit stabilen Bindungen leben.

Dazu bedarf es einer kontinuierlichen Arbeit – hier kann tatsächlich eine gute und stabile Bindung zu einer Psychotherapeutin helfen. Genauso wichtig ist dennoch die Arbeit mit einem Verfahren, welches über das Nervensystem geht, so wie Somatic Experiencing. EMDR ist als zweite gute und mögliche Traumatherapieform zu nennen und wird im Rahmen der Richtlinienverfahren auch von der KK übernommen.

Ansonsten gibt es ab und an auch die Möglichkeit eine entsprechende Traumatherapie über eine Stiftung zu finanzieren. Zu nennen wäre hier z.B. der Fonds Sexueller Missbrauch . Allerdings muss die komplette Antragstellung, die sehr aufwändig ist, bis Ende April diesen Jahres erfolgen.

https://www.fonds-missbrauch.de/antragstellung/

Soweit. Bleiben Sie dran und geben Sie nicht auf! Es gibt immer wieder Lösungen, die wir im ersten Moment nicht sehen, auch was die Finanzierung betrifft!

Herzliche Grüße

Christine Lemmrich

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