Noch nie in all den Jahren, in denen ich spirituell ausgerichtete Reisegruppen in die entlegenen Himalayaregionen Indien und Tibets führte, war ich jemandem begegnet, der technisch besser ausgerüstet gewesen wäre für diese abenteuerliche Unternehmung als Klaus. Irgendwann aber galt es, diese Perfektion zu überwinden…
Von Evelyn Stierle
„Du hast wie eine Seidenraupe
einen Kokon um dich gewebt.
Wer sollte Dich retten?
Zersprenge Deinen eigenen Kokon
und schlüpfe als schöner Schmetterling
heraus, als freie Seele.“
(Swami Vivekananda)
Klaus war Manager in jeglicher Hinsicht. Er leitete ein bekanntes Großunternehmen, hatte viele unter ihm arbeitende Koryphäen ihres Faches in gehobener Stellung und war der Dreh und Angelpunkt des sehr erfolgreichen Unternehmens, das er mit dem Einsatz all seiner Kräfte am Laufen hielt.
In Leh, der Hauptstadt Ladakhs angekommen und in Vorbereitung für die vor uns liegenden herausfordernden Passüberquerungen durch die Bergwelt des Himalaya zeigte mir Klaus all die Hilfsmittel, die er sorgfältig für seine Reise ausgesucht hatte und die auf dem neuesten Stand der Technik waren: Stöcke mit Spezialabfederung zur Schonung der Gelenke, ein immer bereites Handy für Notfälle in seinem Großunternehmen, ein Höhenmesser zur permanenten Überprüfung der überwundenen Pässe, Pulsmesser zum Check seiner Herzfrequenz und der daraus eventuell abzuleitenden Gabe von entsprechenden Medikamenten wie etwa Diamox zur besseren Anpassung an die Höhe oder gar der Vermeidung von Lungen? oder Gehirnödemen, die bisweilen in Form von lebensbedrohlicher Höhenkrankheit einen im schlimmsten Fall tödlichen Ausgang haben können. Klaus schien für alle Fälle gerüstet für die vor ihm liegenden 350 km quer durch die Höhen und Tiefen des Himalaya und seiner Selbst.
„Diese Reise liegt mir sehr am Herzen“, offenbarte sich mir Klaus bei einer Tasse tibetischem Buttertee. „Ich habe mich lange und intensiv auf sie vorbereitet! Schon seit ich zurückdenken kann, wollte ich immer einmal in die Bergwelt des Himalayas! Weg von all dem Stress zuhause, den täglichen Anforderungen meines Jobs – einfach mal an nichts denken müssen und alles loslassen!“
Schon gleich nach einem Tag in Leh – das zwar bereits auf um die dreieinhalbtausend Meter Höhe liegt, aber noch lange nicht auf der Höhe mancher vor ihm liegenden Pässe – ging es Klaus zunehmend schlecht. Es war offensichtlich, dass sein Körper Mühe hatte, sich der Höhe und all den neuen Eindrücken anzupassen.
Er litt an Atemnot und Kopfweh und äußerte viele Ängste bezüglich der vor ihm liegenden hohen Pässe. Auch einige der problematischen Emails und Telefonate, die er mit seinem Unternehmen führte, ließen ihn innerlich nicht los.
Es schien mir unverantwortlich, ihn in diesem Zustand mit auf die am nächsten Tag beginnende Große Zanskar Durchquerung mitzunehmen. Ich besprach mich mit Bernd. Wir hatten gemeinsam schon unzählige Trekkingtouren geleitet und viele Erfahrungen gesammelt. Dabei erlebten wir sehr oft, dass Menschen wundersame Kräfte zuzufließen schienen sobald sie der Bergwelt des Himalaya und seiner spirituellen Energien begegneten. Andere wiederum kämpften gerade mit dem Gegenteil und ihre Kräfte schwanden dahin – zumindest solange, bis sie eine innere geistige und emotionale Wende durch eine Veränderung ihrer Haltung und ihres Bewusstseins herbeiführen konnten.
Wir setzten uns zusammen und holten auch unseren indischen Guide mit in unsere Runde, der ebenso jahrelange Erfahrung mit Höhenkrankheit und all ihren Symptomen und Auswirkungen hatte. Auch verließen wir uns wie immer in solchen Krisensituationen auf unsere innere Stimme, die oftmals sehr klare und eindeutige Vorgaben machte.
Am nächsten Morgen, bevor die Gruppe gegen Mittag bereit war aufzubrechen, sprach ich Klaus an. Er hatte eine weitere unruhige Nacht hinter sich und schien erschöpft. „Ich weiß wohl, wie sehr Dir diese Reise am Herzen liegt, Klaus. Trotzdem zeigen Dir bestimmte Hindernisse, dass es Dir im Moment nicht möglich ist, sie in der Weise anzutreten, wie Du es Dir vorstellst. Ich empfehle Dir, sämtliche mitgebrachten technischen Utensilien auszuschalten und mehr auf die Stimme Deines Herzens zu hören. Mache Dich für eine geraume Zeit unerreichbar für Dein Unternehmen, verlasse Dich auf Deine Fähigkeit, Dich der Höhe anzupassen und lasse alle Ängste los, so gut es eben geht. Verzichte auf alle technischen Hilfsmittel und vertraue ausschließlich auf die Kraft Deines Traumes und der Sehnsucht Deines Herzens, diese Reise anzutreten. Schon so lange hegst Du diesen Wunsch! Lass alles andere los! Wenn sich dies für Dich als ein gangbarer Weg erweisen sollte, treffen wir Dich in einer Woche auf der Mitte des Treks, zu dem Dich ein Jeep über viele holprige
Tages? und manche Nachtfahrt wird bringen können. Falls sich Deine Symptome jedoch verstärken, wäre es angebracht, innerhalb der nächsten Tage nach Delhi zurückzufliegen.“
Klaus reagierte zutiefst betroffen. Er fühlte sich so außerordentlich gut vorbereitet und hatte sich mit allem Erdenklichen so perfekt ausgerüstet für diese Reise – und hatte doch sich selbst und seine wirklichen Wünsche fast dabei vergessen. Er war bereit, über unsere Vorschläge nachzudenken und nahm auch dankbar an, dass wir einen unserer erfahrenen indischen Guides an seine Seite stellten.
Eine Woche später holte Klaus die Gruppe am verabredeten Platz wieder ein. Er hatte alle Technik abgelegt, sein Handy ausgeschaltet und all seine Höhensymptome schienen völlig verschwunden. Er ging mit der Gruppe die ganze zweite Hälfte des Treks – ohne Höhenmesser, ohne jegliche Technik, ohne Stöcke – und ohne jegliche Höhenprobleme – selbst über die weit über die Fünftausendergrenze hinausgehenden Pässe.
Noch Jahre später schrieb Klaus mir einmal im Jahr – immer zu Beginn des damaligen Reisebeginns – dass diese Reise seinem Leben eine neue Orientierung gab. Er fühlte sich mehr und mehr getragen von der Magie des Lebens und es erschien ihm immer noch wie ein Wunder, dass er ohne all seine üblichen Hilfsmittel, die ihm immer unentbehrlich schienen, über seine ängstlich gesetzten Grenzen hinauswachsen konnte. Ja – dass ihm ohne sie sogar
Flügel wuchsen.
Wir unterschätzen nur allzu gerne und allzu voreilig die Kraft und das Potenzial unserer Herzenswünsche. Wir greifen vorschnell auf Krücken zurück, die uns mehr schwächen als stärken.
Die Sehnsucht unserer Seele nach Grenzüberschreitung lässt uns viele Hindernisse überwinden. Magisch anmutende Erlebnisse verstärken den einmal eingeschlagenen Weg, dem Willen unseres Herzens Folge zu leisten.
Von Evelyn Stierle, www.evelynstierle.com
Ein Auszug aus dem Buch:
Evelyn Stierle: “Magic is real”
2017
Umfang: 240 Seiten
Preis: 15,99 Euro
ISBN: 9783962400545
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