Der Segen des Dalai Lama – Evelyn Stierle

von Thomas

Manchmal geschieht Unvorhergesehenes und glückliche Zufälle führen Menschen zusammen. Solche Begegnungen können ein „Segen“ für die Beteiligten sein und ihnen als unvergessliche Momente in Erinnerung bleiben. Eine solche nicht alltägliche Begegnung machte auch Evelyn Stierle, als sie im fernen Indien eines Morgens auf den Dalai Lama traf. Hier erzählt sie ihre Geschichte…

von Evelyn Stierle

 

„Die Mächte, die den Kosmos bewegen,

sind nicht verschieden von jenen,

die die menschliche Seele bewegen.“

(Lama Anagarika Govinda)

 

Ich schaute auf die Uhr. Es war vier Uhr in der Nacht. Ich wusste nicht, wodurch ich wach wurde, aber ich war plötzlich putzmunter. Eine innere Stimme flüsterte mir eindringlich zu, ich solle mich sofort auf den Weg in das nahe gelegene  Kloster machen. Ich hatte mich hierher nach Mirik im indischen Distrikt Darjeeling in West Bengalen zurückgezogen, nachdem ich für viele Tage in Salugara eine Kalachakra Initiation des Dalai Lama miterleben konnte. Weit über zweihunderttausend tibetische Mönche und Pilger waren nach Salugara gekommen, das etwa eine Tagesreise von Mirik entfernt lag, um an der Einweihung in die Überlieferung dieser machtvollen und geheimnisvollen Lehre teilzuhaben und nicht zuletzt, um den damit verbundenen Segen des Dalai Lama zu empfangen.

Kalachakra wird oft mit ‚Rad der Zeit’ übersetzt und ist eng mit dem Mythos von Shambhala verknüpft, jenem mystischen Ort, an dem alle Hindernisse auf dem Weg zu Erleuchtung und Befreiung überwunden sind. Alle Menschen sind an diesem paradiesisch erscheinenden Ort glücklich und es herrscht Frieden. Danach gefragt, ob dieses sagenumwobene Reich Shambhala denn ein tatsächlich existierender Ort auf unserem Planeten sei, antwortete der Dalai Lama einmal, es sei völlig gleichgültig, ob Shambhala als Ort tatsächlich existiere oder nicht, könne er doch nur von jenen gesehen werden, deren Geist und karmische Tendenzen rein seien. So ist es auch das Ziel der Kalachakra Praxis, ebenso wie einer jeden anderen tibetisch buddhistischen Überlieferung, diese Reinheit des Geistes herbeizuführen, Erleuchtung zu erlangen und aus dem Rad des Karma und der Zeit auszusteigen. Ich hatte mich nach West Bengalen aufgemacht, um Teil dieses komplexen Rituals zu sein, mich mit seiner Magie zu verbinden und in sein Kraftfeld einzutauchen.

Mirik ist ein beschaulicher Ort. Ein kleiner See lädt zwischen sanften Hügeln zum verweilen ein und am entfernten Horizont ist der Kanchenjunga zu sehen, einer der faszinierenden Achttausendergipfel unter den Himalayariesen. Ich fühlte mich verbunden mit diesem Ort, beherbergte er doch das Kloster von Bokar Rinpoche, der zu diesem Zeitpunkt einer meiner Lehrer war.

In genau dieses Kloster dirigierte mich meine innere Stimme zu dieser unwirtlichen Zeit. Ich hatte eine einfache Unterkunft in einem der Guesthouses von Mirik gefunden. Das Kloster aber lag einen ordentlichen Fußmarsch entfernt auf der Kuppe eines Hügels. Es wollte sich mir rational nicht erschließen, warum ich in aller Herrgottsfrüh dieses Beschwernis auf mich nehmen sollte. Es war dunkel und der Weg führte durch einsame Waldpfade, die mir nach einigen wenigen Besuchen noch nicht so vertraut waren als dass ich sie blindlings hätte finden können. Und darüber hinaus, so argumentierte mein immer klarer denkender Kopf, was in aller Welt hätte ich mitten in der Nacht im Kloster verloren? Sogar die eifrigsten und dienstbeflissensten aller Mönche würden nicht weit vor sechs Uhr morgens den Tag damit beginnen, Tee für alle zu kochen. Außerdem hatte ich mir für diesen Tag vorgenommen, mein Tagebuch zu vervollständigen und die überwältigenden Eindrücke der Kalachakra Initiation und den erteilten Segen des Dalai Lama darin festzuhalten.

Aber so sehr ich mich auch bemühte, ich fand keinen Schlaf mehr. Immer dringlicher erschien mir die unerklärliche Aufforderung, hoch in das Kloster zu gehen. Nach einer Weile kapitulierte ich, gab der inneren Stimme nach, stand auf, zog mich an und machte mich auf den Weg- innerlich den Kopf über mich selber schüttelnd. Vielleicht sollte ich einen grandiosen Sonnenaufgang miterleben oder auf dem Weg einen Schatz bergen.

Der Weg zum Kloster schien mir in der Dunkelheit beschwerlicher und länger als sonst. Immer wieder stolperte ich über Äste, Steine und meine inneren Zweifel. Ich war froh, irgendwann oben angekommen zu sein. Es zog mich zum Innenhof des Klosters. Dieser bot nach einer Seite hin einen offenen Blick über das Tal und die umliegenden Berge. Von dort aus, so malte ich mir aus, könnte ich auf den Sonnenaufgang warten. Etwas anderes wollte sich mir nicht an Sinnhaftem erschließen, was ich zu dieser Zeit hier oben verloren haben könnte.

Zu meinem Erstaunen waren schon ein paar wenige Mönche wach und eilten geschäftig über den Hof von der Klosterküche in die reich geschmückte Gompa, das Zentrum des Kosters, in dem alle Pujas, Belehrungen und Meditationen abgehalten wurden. Einer der Mönche kam auf mich zu und fragte, ob ich einen Tee wolle. Dankbar nahm ich an. Als er ihn mir brachte, fragte er mich, warum ich hier sei. Ich antwortete ihm wahrheitsgemäß, dass ich das selbst nicht so recht wüsste. Er lächelte und sagte, ich solle in aller Ruhe meinen Tee trinken.

Ich genoss die Wärme der Tasse, an der ich mich festhalten konnte und den wohlschmeckenden süßen chai. Vielleicht war es das, was ich erleben sollte: eine Begegnung mit einem freundlichen Mönch, der mir Tee anbot und mich damit zu einem kleinen Teil des Klosters werden ließ, das langsam immer mehr zum Leben zu erwachen schien. Meine inneren Zweifel verschwanden mehr und mehr und machten einer tiefen Dankbarkeit Platz für diese Tasse Tee und das herzliche Willkommen des Mönchs.

Vielleicht wäre es jetzt an der Zeit, wieder den Heimweg hinunter in mein Guesthouse anzutreten, so dachte ich mir, nachdem ich den Tee getrunken und mit meinem nächtlichen Ausflug hierher meinen inneren Frieden gemacht hatte. Ich wollte dem freundlichen Mönch die Tasse zurückbringen, da kam er mir schon mit einer Kanne entgegen, füllte ungefragt nach, schaute mir direkt in die Augen und gebot mir sehr deutlich, zu bleiben: „You stay here. Not go!“

Ich wunderte mich über die fast streng erscheinende Ansage des Mönches. Einen solchen Ton war ich von tibetischen Mönchen nicht  gewohnt. Ich war verunsichert und wusste nicht so recht, wie ich ihn einschätzen sollte. Ich dachte nicht länger darüber nach, genoss meine zweite Tasse Tee und blickte erwartungsvoll hinaus auf die umliegenden Hügel.  Die aufgehende Sonne schickte eine allererste Ahnung ihrer Strahlen in die noch fast dunkle Nacht. Es würde sicher ein traumhaft schöner Sonnenaufgang werden. Die Klarheit des Himmels und einiger Sterne, die immer noch zu sehen waren, versprachen einen sonnigen Tag mit glasklar blauem Himmel. Verträumt schaute ich dem Horizont entgegen und hatte mich für einige Zeit vergessen.

Hinter mir schien das geschäftige Treiben über den Hof zuzunehmen. Ein paar laute Rufe einiger Mönche brachten meine Aufmerksamkeit wieder in den Hof des Klosters zurück.

Ich drehte mich um und konnte kaum glauben, was ich sah: quer über den Innenhof war ein schöner wertvoller roter Teppich ausgerollt. Zu beiden Seiten des Teppichs hatten sich die Mönche des Klosters in ordentlichen Reihen aufgestellt. Jeder hielt einen Katak in den Händen, den weißen Schal, den Tibeter als Zeichen des Respekts, des Dankes, als Willkommens- oder Abschiedsgruß überreichten. In einem von ihnen erkannte ich den Mönch, der mir den Tee anbot. Mit einem Wink gebot er mir, mich einzureihen.

Ich folgte dieser Aufforderung mit klopfendem Herzen. Ich wusste von vielen Klosterbesuchen, dass angesichts dieser Vorbereitungen ein hoch angesehener Lehrer, ein Rinpoche, zu erwarten war. Ich vermutete, dass vielleicht mein Lehrer Bokar Rinpoche, der Abt des Klosters, von der Kalachakra Initiation zurückkam und er von seinen Mönchen freudig empfangen werden sollte.

Plötzlich herrschte absolute Stille, die dann von Muschelhörnern, Trommeln und den typischen Klängen der tibetischen Trompeten, die nicht selten aus Knochen gefertigt waren, durchbrochen wurde. Aus einer der mit tibetischen Glücksornamenten reich verzierten Türen eines Nebengebäudes traten zwei Mönche heraus, die zwei jener wunderschönen tibetischen riesigen Stoffschirme trugen, unter denen ehrwürdige Rinpoches Schutz fanden vor Wind, Regen und Sonne, die aber gleichzeitig auch ein Zeichen der Würdigung und des Respekts waren. Ich wollte meinen Augen kaum trauen, als ich in Richtung der Mönche mit den bunt bestickten Schirmen blickte. Es war wirklich und wahrhaftig der Dalai Lama, der in Begleitung von Bokar Rinpoche aus der Tür trat!

Die Mönche verbeugten sich und übergaben ihre Kataks sobald der Dalai Lama und Bokar an ihnen vorbei schritten. Der Dalai Lama lachte sein typisches Lachen, segnete die sich beugenden Häupter und gab die weißen Schals an die Mönche zurück. Es wurde mir peinlich bewusst, dass ich ohne Katak da stand –  und das angesichts meines Lehrers und des Dalai Lama! Unsere Blicke begegneten sich und für einen Moment glaubte ich, in dem freundlichen Lachen ein kurzes Erstaunen zu erhaschen – war ich doch die einzige Frau aus dem Westen in der Reihe der Mönche. Auch sonst hatte sich kein Westler zu dieser Stunde hierher verirrt. Ich beugte mein Haupt, empfing des Segen des Dalai Lama und Bokar Rinpoches, der mich wieder erkannte und mir zuflüsterte, ich solle gleich den Mönchen mit in die Gompa folgen.

Dort fand ich einen Platz inmitten der Mönche, setzte mich auf einen der vorgesehenen Plätze auf dem Boden. Der Dalai Lama zelebrierte eine Puja, begleitet von den kraftvollen Stimmen der Mönche, die in die Silben der heiligen Mantren mit einstimmten. Ich schloss meine Augen und überließ mich der Magie und inneren Berührung dieser unvorhersehbaren und wunderbaren Begegnung.

Der Dalai Lama schloss mit einem weiteren Segen und mit der Austeilung von kleinen abgepackten Gaben tibetischer Kräutermedizin, die von ihm gesegnet wurden und der viel heilende Wirkung nachgesagt wird. Beim Verlassen des Klosters gab es noch einmal die Gelegenheit, an ihm vorbeizugehen, die Medizin zu empfangen, sowie einer der roten Segensbändel, in denen Mönche einen glücksbringenden Knoten flechten, die dann von ihm gesegnet und die traditionsgemäß so lange um den Hals tragen werden, bis sie von selbst wieder abfallen. Ich nahm alle Segnungen an und erhielt dazu einen der vielen Kataks, die um den Dalai Lama und den ganzen Altar herumlagen.

Ich verließ die Gompa und setzte mich wie benommen an eine der Klostermauern. Die Sonne war inzwischen aufgegangen. Ich verbrachte fast den ganzen Tag an dieser Mauer. Der freundliche Mönch versorgte mich Stunde um Stunde mit frischem Tee. Für eine lange Weile wollte ich mich nicht mehr weg bewegen. Der Segen des Dalai Lama und Bokar Rinpoches klang in mir nach wie ein kraftvoller Strom von Energie, die meine Seele berührte, mein Herz öffneten, meinen Geist zähmte und meine Gedanken zum Stillstand brachten. Ich empfand tiefes Glück. Es herrschte Frieden. Fast so wie in Shambhala.

Später erfuhr ich, dass der Dalai Lama nach der Kalachakra Initiation in Salugara einigen Verpflichtungen nachging und dann die Einladung Bokar Rinpoches annahm, nach Mirik in dessen Kloster zu kommen. Dies geschah inoffiziell und stand nicht auf dem immer öffentlich zugänglichen Reiseplan des Dalai Lama. Deshalb waren keine Menschenmassen und nicht einmal bodyguards im Kloster zu sehen gewesen. Dieser persönliche Besuch war sehr außergewöhnlich und sprach für das tiefe Band, das Bokar Rinpoche und den Dalai Lama verband.

 

Ein Auszug aus dem Buch:


Evelyn Stierle: “Magic is real”

Kamphausen, 2017
Umfang: 240 Seiten
Preis: 15,99 Euro
ISBN: 9783962400545

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Über Evelyn Stierle:

Grundlage ihrer Arbeit sind die Methoden und energetischen Prinzipien von Core Energetics und Pathwork. In dieser körperbezogenen Energie- und Bewusstseinsarbeit können emotionale, körperliche sowie geistige Blockaden erkannt und gelöst, gestaute und zurückgehaltene Lebensenergie befreit werden. Sie versteht ihre Arbeit als Begleitung und Unterstützung auf dem Weg zu sich, dem innewohnenden Potential und Ihrem Höheren Selbst. Dafür hat sie sich in vielfältigen Ausbildungen weitergebildet. Sie hat langjährige Erfahrung im Begleiten vieler Menschen auf inneren und äußeren Reisen.

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