Kunst ist ihrem Wesen nach ein zutiefst spiritueller Akt. Doch der zeitgenössische Kunstbetrieb macht es Künstlern schwer, die transformative Kraft der Kunst zu entfalten. Statt Kunst als Erleuchtungsweg zu feiern wird sie unter das Diktat des Marktes gezwungen. Eine kritische Bestandsaufnahme der Roman-Autorin Liane Dirks
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von Liane Dirks
Wann es angefangen hat, lässt sich schwer sagen, wahrscheinlich schon als Kind. Dieser Wunsch kam auf, etwas auszudrücken, das man mit Worten nicht sagen kann und wofür man doch die Worte braucht. Als Kind habe ich das freilich nicht so gedacht. Aber die Sehnsucht war schon da. Es ist die Sehnsucht des Künstlers. Ob singend, malend, tanzend oder schreibend, man will etwas ausdrücken, das das Wie des Ausdrucks übersteigt. Das mehr ist, etwas, das da ist und doch nicht da ist. Etwas, das man nur so und nicht anders sagen kann. Etwas, das genau diese Farben braucht und diese Formen und diese Töne, und nichts darf falsch sein daran und nichts fehlen und nichts zu viel sein; und noch bevor es geschaffen ist, gibt es diese Begeisterung, denn es ist etwas Geistiges, etwas gefühlt Geistiges, das erlebbar werden will und vor allem, das geteilt werden will: mit anderen, mit der Welt.
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Ungeheure Wucht
Kunst machen zu wollen, schreiben zu wollen, singen zu müssen, das kommt mit einer ungeheuren Wucht daher. Es haut einen um. Es fordert, es verlangt, es will in die Welt, es ist ein Auftrag. Und es lässt nicht mehr locker. Wild, bedingungslos, sehr oft gnadenlos, hart und lustvoll, unglaublich schön, nichts verleugnend, alles umarmend und immer im Werden. Kunst zu machen fordert den Menschen ganz und: Es fordert einen ganzen Menschen.
Was aber ist ein ganzer Mensch? Wo hat er seine Grenzen, wie weit darf er sie überschreiten? Welchen Intensitätsgrad halten wir aus? – denn hier geht es um Intensität, um Losgelöstheit, die auf Gestaltungswillen trifft. Das ist etwas Ähnliches wie ein Gewitter.
Dafür bewundern wir sie doch, die Künstler, nicht wahr? – dass sie exzessiv leben, dass sie aufs Ganze gehen, wie es so schön heißt, (ach, die kluge Sprache) und dass sie sich dabei vergessen können, das bewundern wir auch. Und ist all das, was ich hier beschreibe, nicht vergleichbar, ja nahezu identisch mit einem Bewusstseinsweg, einem spirituellen Weg?
Und ist es nicht eine Erinnerung und zugleich eine Ausrichtung, eine Vision, die wir alle haben? Uns dem Werden hinzugeben, jenseits des kleinen begrenzten Egos, jenseits unserer vermeintlichen Grenzen.
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Der Erleuchtungsweg des Westens
Es ist lange her, aber ich war bereits das, was man eine anerkannte Schriftstellerin nennt, als ich im „Stern“ ein Interview mit dem Dalai Lama las. Gefragt nach all den Unterschieden zwischen Ost und West von einem devot wirkenden Reporter, antwortete er auf die Frage, was wir denn tun könnten, um zu entspannen, in seiner bekannt humorvollen und verblüffenden Manier: „Trinken Sie!“ Und dann empfahl er tatsächlich ein Glas Wein zum Entspannen und verscheuchte damit das ganze heilige Getue. Auf die Frage, ob es denn bei uns auch so etwas wie einen Weg zur Erleuchtung gäbe, formulierte er einen Satz, den ich ebenfalls nie vergessen habe und der im Gegensatz zum eben erwähnten eine Art Auftrag für mich wurde: Ja, war die Antwort, der Erleuchtungsweg des Westens sei die Kunst, aber die Künstler seien nicht erleuchtet.
Was für ein Satz!
Aber stimmte er, ging das überhaupt, Erleuchtetes zu schaffen, ohne erleuchtet zu sein? Mir ließ diese Behauptung keine Ruhe mehr, eine solche Spaltung konnte ich mir in den beiden mir heiligen Angelegenheiten, der Kunst/Literatur und der Erleuchtung, einfach nicht vorstellen, besser gesagt: Ich wollte sie mir nicht vorstellen.
Doch wir kennen genügend Beispiele: Meisterwerke – ob Bilder, Sinfonien oder Gedichte –, die uns ein Tor ins Jenseits öffneten und von Menschen gemacht wurden, die rücksichtslos und egoistisch durch das Leben gingen. Das Suspekte an diesem Vorgang hatte dem Künstler seit eh und je den Stempel des Außenseiters verpasst. Dem Narren gleich hat der Künstler eine eigene Freiheit. Man billigte ihm zu, Wahrheiten ans Licht zu bringen, machte er es aber zu oft und waren sie zu unangenehm, dann konnte es, und das ist bis heute so geblieben, das Leben, das „Ganze“ kosten.
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Verhängnisvoller Geniekult
Je mehr die Gesellschaft den Einzelnen in den Vordergrund stellte, das Individuelle bewunderte, desto mehr Anerkennung erfuhr dieser „einsame“ Weg des Künstlers. Narr, das war nun kein passendes Wort mehr, Außenseiter auch nicht, nun betitelte man den großen Künstler als Genie und hob besagten Kult in die Welt: das Genie, das sich alles erlauben darf, denn es wird allein an seinem Werk gemessen und nicht an seinem Leben und schon gar nicht an seiner Verbundenheit mit anderen Leben. Am Geniekult leiden wir noch heute und es ist schwer, gegen ihn anzugehen.
Denn er hat so etwas Beruhigendes, für die Bewunderer und für die Künstler auch. Bedeutet er doch nichts anderes, als dass es zwar etwas Größeres gibt, das gelegentlich in die Welt will, man aber doch ein ganz normaler Mensch sein und bleiben, der status quo also getrost unangetastet bleiben darf. Ein Modell, das man außerdem aus anderen Zusammenhängen schon sehr gut kannte: dort das Göttliche, hier der Mensch – schon immer eine der besten Freikarten für, nennen wir es einmal vorsichtig: „schlechtes Betragen“. Denn in diesem Modell muss man keine Verantwortung übernehmen.
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Die Spaltung überwinden
Aber es waren nicht alle beruhigt. Manche Künstler litten gerade unter diesem Paradigma umso mehr. Rilke war so einer. Sicher, er hatte auch seine exzentrischen Allüren, aber worum es ihm ging, war das Ganze: ein ganzer Mensch zu werden, durch und durch, nichts ließ er aus, seine Sexualität nicht, seinen Glauben, seine Ängste, seine Wünsche, alles bezog er in sein Werden, sein Wachsen und somit auch in sein Schaffen ein. Sein Werk zeugt davon. Es ist radikal. (Ein Aspekt, der leider noch immer zu wenig gesehen wird.)
Die Spaltung überwinden. Den Erleuchtungsmoment ausdehnen. Jene Momente des Schaffens, in denen man sich tatsächlich dem zu Entstehenden bedingungslos hingibt, mehr noch: preisgibt und zugleich auch noch die Gnade erfährt, die richtigen Mittel, den richtigen Ausdruck zu finden. Vergleichbar vielleicht am ehesten dem Liebesakt, mit seiner Hingabe und dem Einswerden im Wir.
Betrachtet man den künstlerischen Prozess auf diese Art (und mit künstlerisch meine ich hier alle Sparten der Kunst, auch die Literatur), dann leuchtet sehr schnell ein, welch hohes Aufforderungspotential ihm eigen ist. Sich selbst ganz infrage zu stellen, in den Dienst zu stellen: Kunst hat viel mit Demut zu tun und eben nicht mit Überheblichkeit und Ab- und Ausgrenzung.
Aber das macht Angst. Sowohl dem Künstler als auch der Gesellschaft: einer Gesellschaft, die sich dadurch bestimmt, die Entfaltung des Individuums als höchstes Ziel anzusehen. Und ist der Künstler, das Künstlergenie nicht das Top-Individuum schlechthin? Will der Künstler also Anerkennung in dieser Gesellschaft, dann muss er dieses Bild bedienen, er muss es nähren, und will die Gesellschaft ihrerseits ihr höchstes Ziel weiterhin verfolgen, dann muss sie es feiern und dafür sorgen, dass es nicht infrage gestellt wird.
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Marktwert statt Transzendenz
Genau dieses Bild erleben wir in dem, was man die Kunstszene nennen kann, den Kulturbetrieb, das Feuilleton. Das Egoauflösende der Kunst ist eine absolute Bedrohung und deshalb fährt man die ganze Sache lieber herunter, bleibt lieber bei dem alten Modell der Spaltung, bewundert, verehrt, genießt den Opernabend und die tolle Ausstellungseröffnung und verpasst der ganzen Sache das Bewertungskriterium, das nun einmal allgemein zu gelten scheint: den Marktwert. (Damit keine Missverständnisse aufkommen, ich rede hier nicht vom Kunstgenuss des Einzelnen, sondern von einem gesellschaftlichen Phänomen).
Das Egoauflösende der Kunst aber ist das Spirituelle in der Kunst. Und hier liegt das wahrhaft Verunsichernde. Es ist das Namenlose, das durch Kunst erfahrbar werden kann. Sowohl beim Akt der Entstehung als auch beim Akt der Wahrnehmung des Lesens, Schauens, Hörens.
Die Angst des Feuilletons, des Kulturbetriebs vor dieser Wirkung ist immens, und sie ist zu verstehen. Die Angst der Künstler ebenso. Sowohl vor ihrer eigenen Kunst als auch vor der Beurteilung. Denn Künstler wollen wirken, sie wollen teilen.
Aber es muss gesagt sein: Wer im System wirken will, der muss sich dem System anpassen. Und es gibt eindeutig sehr viele angepasste Künstler. Und wenn sie nicht angepasst sind, wenn es ihnen auch um diese Menschwerdung geht, um den ganzen Menschen, wenn sie das Spirituelle in ihrer Kunst erforschen und leben wollen, dann haben sie es oftmals schwer.
Ich habe Künstler kennengelernt, die sich zwei Namen geben, die peinlichst darauf bedacht sind, dass niemand erfährt, dass sie zugleich Zen-Lehrer sind, denen die Galeristen gesagt haben, sie mögen bitte nicht so sehr auf irgendwelche religiösen Bezüge in ihren Bildern aufmerksam machen, das schade dem Verkauf. Doch je mehr die Kunst ihr bewusstseinserweiterndes Potential versteckt oder verleugnet, desto weniger Wirkkraft hat sie. Sie wird dekorativ, oberflächlich. Dekorativ können übrigens auch Bilder des Schreckens sein.
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Wiederentdeckung des Geistigen?
Natürlich gibt es Gegenbeispiele und es kommt auch Gegenwind auf. Kurz vor seinem Tod formulierte Christoph Schlingensief in einem Fernsehinterview den Satz: „Was mich an der Kunst interessiert, ist das Spirituelle.“ Diesen Satz von einem zu hören, dessen Auftreten man zwar mit provokanten, aufrüttelnden Aktionen verbunden hat, aber nicht unbedingt mit Spiritualität, das ließ aufhorchen. Ungefähr zeitgleich meinte der Schriftsteller Martin Walser – ein Seismograph gesellschaftlich relevanter Themen – Literatur sei eigentlich Religion und es ginge darum, ihr diese eigentliche Bedeutung wieder zukommen zu lassen.
„Religio“ bedeutet Rückverbindung, und wer von Spiritualität spricht, der fragt wieder nach dem Geistigen in der Kunst, nach dem Bewusstsein, dem bewussten Sein.
Und jetzt erklärt auch noch die Leiterin der diesjährigen Documenta, Carolyn Christov-Bakargiev, in einem Interview mit der ZEIT, dass Kunst etwas mit Heilung zu tun habe. „Heilung, das meine ich ganz ernst. Die Kunst kann etwas verändern, sie kann uns verändern.“ Wie wunderbar. Das lässt hoffen!
Heilung ist Ganzwerdung, sie ist eben kein getrennter Prozess. Wie schön wäre es, könnten wir den Weg der Kunst wieder aktiver als Weg der Ganzwerdung verstehen, anschauen, begreifen und ihm noch mehr Wirkung zukommen lassen. Auch öffentlich. Wie schön wäre es, könnten wir Kunst wieder als „wesentlich“ begreifen, als Ausdrucksform von und für neue „Wesen“.
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Das Jetzt im Werden zeigen
Kunst zu machen, ist etwas zutiefst Menschliches. Vielleicht ist es sogar die Qualität des Menschseins schlechthin. Kunst zu machen, bedeutet, den Über-Fluss zu feiern, die Fülle, die Schönheit, das Leben. Und sind wir nicht der schönste Über-Fluss, den es gibt? (Ach, die Sprache! Man denke nur einmal über die tiefe, die eigentliche Bedeutung des Wortes „Über-Fluss“ nach …) Kunst und Literatur zu machen, bedeutet, das Jetzt im Werden zu zeigen.
Die viel zitierte Schwelle, an der wir stehen, die höhere Bewusstwerdung, sie gilt auch für die Kunst. Überschreitet man diese Schwelle, dann erfährt man, dass man gar nicht so viel Angst haben musste, auf der anderen Seite wartet seit eh und je die Schönheit. Die Schönheit und die Freiheit. Was ein und dasselbe ist, ihr Spiegel ist die Kunst, die Musik, die Literatur, der Tanz.
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Von Liane Dirks
Liane Dirks hat bisher sechs Romane veröffentlicht, 21 Bücher herausgegeben, für Film und Funk geschrieben. In ihren Seminaren vermittelt sie Menschen die tiefere Bedeutung des Schreibens. Gemeinsam mit den Malerinnen Detel Aurand (Berlin) und Zora Berweger (Leipzig) hat Liane Dirks das Projekt „Schöpfen I“ initiiert, ein Begegnungsfeld für Künstler, die Kunst und Spiritualität nicht länger als etwas Getrenntes begreifen wollen. Das erste Treffen findet vom 28. bis 30. September 2012 in der Villa Unspunnen in der Schweiz statt. Interessierte Künstler wenden sich bitte an die Villa Unspunnen.
Nähere Informationen unter www.villaunspunnen.ch
Der Artikel erschien erstmals in dem empfehlenswerten Magazin WIR – Menschen im Wandel (www.wir-menschen-im-wandel.de)
4 Kommentare
Ich habe es doch immer geahnt, gewusst, gewollt!
Doch ich war verwirrt, verängstigt, verzweifelt.
Zu unbegabt, zu sehr Frau, zu klein…..
Aber jetzt freue ich mich.
Vielen Dank für diesen grossartigen Artikel und die darin enthaltenen Wahrnehmungen und Erfahrungen, die ich teile.
Von diesem Artikel bin ich schlicht und ergreifend begeistert, möchte am liebsten jeden einzelnen Satz vergolden und der Verfasserin eine wohlverdiente Krone aufsetzen :-))
Esist wirklich sehr schön, was diese Frau schreibt, aber Technik braucht es auch. Und bei vielen, die spontan aus dem Bauch heraus gestalten könnten, fehlt es an der Geduld, die Technik zu lernen. Diejenigen, die die Technik beherrschen, sind wie gute Handwerker und wollen damit ihr Leben verdienen.
Erleuchtung heisst, die Freiheit zu besitzen, sich weder von Konventionen noch von finanziellen Gründen leiten zu lassen und auch nicht von Denkprozessen. Wer kann das schon?
Liebe Diane – liebe Redaktion von Mystica
Wie schön diese Klarheit betreff des Themas „Kunst als spiritueller Weg“ zu lesen. Ein Bild-Bilde Prozeß als kreativ-schöpferischer Akt der Bewußtwerdung – einmal in der Tat, dann in der Anschauung und zuletzt im Verbleiben im Jetzt ist im neuen Jahrtausend die einzig wahrhafte Art des künstlerischen Schaffens.
Leider sind viele KünstlerInnen und Künstler oft nicht bereit durch Denken, Anschauen und Kommunikation diesen Weg zu gehen und so bleiben viele Inseln…
Vielleicht hilft dieser Artikel Netzwerke entstehen zu lassen oder Brücken zu bauen, Netzwerke von Menschen, die im Künstlerischen-Feld mit erweitertem Bewußtsein tätig sind.
Alles Liebe Stanko