Der Zauber des Wir – Dr. Christoph Quarch

von Redaktion

Gemeinschaften gelingen dann, wenn Menschen gemeinsam etwas Sinnvolles tun.

Eine Sehnsucht geht um in unseren Breiten. Sie ergreift immer mehr Menschen, junge Menschen vor allem: die Sehnsucht nach Gemeinschaft, nach Miteinander; die Sehnsucht nach dem, was in den einschlägigen Szenen gerne als „Neue Wir-Kultur“ diskutiert wird. Diese Sehnsucht ist groß. Ich kenne kaum jemanden meiner Generation der zwischen 1960 und 1975 Geborenen, der oder die sie nicht teilen würde. Oft verdichtet sie sich zu Zukunftsphantasien wie Alten-WGs, Landkommunen oder klosterartigen Communities – eine bemerkenswerte Signatur des Zeitgeistes!

Was ist hier los? Wer aufmerksam hinschaut, entdeckt zwei treibende Faktoren dieser Sehnsucht. Da ist erstens ein gewaltiger Überdruss an der Überindividualisierung der vergangenen dreißig Jahre. Die Menschen, die heute in der Mitte des Lebens stehen, sind müde und erschöpft. Sie sind es leid, alles selbst machen zu müssen. Sie zermahlen sich zwischen Beruf und Familie, zwischen E-Mails und Ikea-Bauanleitungen. Sie fühlen sich wie die Houlbequeschen Elementarteilchen: allein, ausgebrannt, abgekapselt. Depression und Burnout sind die Folge. Diese Menschen leiden unter dem modernen Leben.

Gleichwohl käme von ihnen wohl niemand auf die Idee, die Sehnsucht nach Gemeinschaft in einer der traditionellen gesellschaftlichen Organisationen zu stillen. Kaum jemand zumindest. Das liegt nicht nur daran, dass Menschen in der Mitte des Lebens die Zeit dafür nicht haben. Es liegt vor allem an der Vertrauenserosion, die Kirchen, Parteien, Gewerkschaften, Vereine seit Jahrzehnten heimsucht. Und es liegt daran, dass diese Institutionen einfach nicht sexy sind: graue Kolosse, deren Erscheinungsbild meist nicht in Aussicht stellt, sich in ihnen entfalten zu können; Dinosaurier, die interne Machtstrukturen ausgebildet haben und zu einem gnadenlosen Konformismus neigen, der für Spontaneität keinen Raum lässt.

Genau hier liegt das Problem der Wir-Sehnsüchtigen: Sie sehnen sich einerseits nach Gemeinschaft, wollen andererseits aber den erreichten Standard von Individualität, Originalität und Spontaneität nicht aufgeben. Das klingt nach der Quadratur des Kreises – und ist es auch. Jedenfalls ist das prägende Modell für die Neue Wir-Kultur noch nicht gefunden; das Gemeinschaftsmodell des Sowohl-als-auch, das Freiheit und Verbindlichkeit ebenso wie Individualität und Verbundenheit zusammenspannt.

Damit ist nicht gesagt, dass eine solche, neue Wir-Kultur nicht möglich wäre. Sie ist möglich – und sie ist notwendig. Deshalb lohnt es, nach neuen Wegen zum Wir Ausschau zu halten; oder nach alten Wegen, denn tatsächlich hat es auch zu früheren Zeiten Generationen gegeben, die sich nach neuen Formen des Miteinanders gesehnt haben. Ihr Rat kann uns kostbar sein, wenn wir heute neu danach fragen: Wie entsteht Wir? Wie entsteht aus vielen Elementarteilchen eine Gemeinschaft? Wie können Individualität und Zugehörigkeit in einer neuen Wir-Kultur austariert werden?

Einer, der sich viele Gedanken über das Geheimnis des Wir gemacht hat, war der Philosoph Hans-Georg Gadamer. Seine Interesse galt vor allem dem Wunder des Sich-Verstehens, und er investierte viel geistige Energie darin zu ergründen, wie aus Ich und Du ein Wir entsteht. Der Schlüssel zur Lösung dieses Rätsels, so Gadamer, ist der Dialog: das fragende und zuhörende Wechselspiel zwischen Menschen, bei dem idealerweise so etwas wie Einverständnis erzielt wird. Einverständnis– das ist für unseren Zusammenhang die großartige Einsicht Gadamers – stiftet ein Wir.

Ein Beispiel: Acht ganz unterschiedliche Menschen treffen sich. Sie kennen einander nicht, nur der Einladende kennt alle. Diese Menschen kommen ins Gespräch. Sie erzählen von sich, geben ihre individuellen Horizonte zu erkennen. Sie hören einander zu und fragen nach. Ihre Fragen sind ernst, sie wollen wirklich etwas verstehen. Ihre Antworten sind wahrhaftig. Sie lassen sich aufeinander ein. Bis irgendwann das Wunder geschieht und Einverständnis erzielt ist. Die Menschen verstehen sich. Sie erleben ihr Miteinander als sinnvoll. Und wo das geschieht, da entsteht plötzlich das Wir.

Wir – das hat, wenn wir Gadamer folgen – etwas mit Einverständnis zu tun; etwas damit, dass diejenigen, die dieses Wir bilden, eine gemeinsame Erfahrung von Sinn machen. Einverständnis und Sinn, so Gadamer, sind die bindenden Kräfte des Wir; und zwar eines Wir, bei dem individuelle Perspektive und geteilter Sinn im rechten Gleichgewicht sind. Oder anders gesagt: bei dem die verbundenen Einzelnen ganz sie selbst sein können und sich dabei doch in ihrer Besonderheit als Teil eines größeren Ganzen erleben können. Die Alten nannten diesen Zustand Harmonie. Und auch sie wussten: Nur wo Menschen in Harmonie zusammen finden, kann es ein Wir geben.

Eine hinreißend schöne Geschichte einer solchen Wir-Werdung erzählt der schwedische Film „Wie im Himmel“: In einem Provinznest auf dem Lande singt ein dutzend äußerst unterschiedlicher und eigenwilliger Menschen in einem Kirchenchor. Der Zuschauer sieht so fort: Ein Wir ist das nicht. Das ändert sich aber mit dem Erscheinen des vormaligen Star-Dirigenten Daniel, der sich nach einer Herzattacke in dieses Dorf seiner Kindheit zurück zieht – und sich breitschlagen lässt, die Chorleitung zu übernehmen. Und nun wird man Zeuge der Genese eines Wir – eines Wir, das seinen schönsten und unvergleichlichen Ausdruck darin findet, dass diese Menschen zuletzt in vollkommener Harmonie miteinander singen: jeder so wie er ist, jede so wie sie kann. Individuell und doch zu einem höheren Wir verbunden. Zu einem Wir, das stimmt.

Dass es stimmt zwischen Menschen – das ist der eigentliche Zauber des Wir. Und das Großartige an „Wie im Himmel“ ist, dass der Film die Entstehung dieses Wir genau beschreibt: Daniel kommt in diese Ansammlung von versprengten Einzelkämpfern. Und was tut er? Er hört genau hin. Er achtet genau auf jeden Einzelnen. Er öffnet sein (krankes) Herz für diese verstrickten, verdrehten Seelen und hilft ihnen dabei, ihren individuellen Ton zu finden. Und dann fügt er diese Töne wie ein Komponist zu einer wundervollen Fuge. Jede und jeder darf sie selbst sein; und schwingt dabei doch der vollkommenen Harmonie eines in sich stimmigen Wir.

Eine schönere Metapher auf den Zauber des Wir als dieser harmonische Chor, der zuletzt sogar ohne seinen Leiter auskommt, lässt sich nicht finden. Zumal die Geschichte von „Wie im Himmel“ zugleich zu erkennen gibt, aus welcher Kraft dieses zauberhafte Wir entsteht: Da ist die Achtsamkeit des Hinhörens, das Gelten-Lassen der Individualitäten, das offene Fragen und gemeinsame Tun. Da ist die starke Erfahrung, gemeinsam etwas Sinnvolles zu tun: etwas das stimmt. Und das alles gibt es deshalb, weil Chorleiter Daniel sein Herz für die Menschen öffnet und ihnen im Herzen zugewandt ist. Liebe – so zeigt sich – ist der Gravitationskern echter Gemeinschaft: Liebe, die hinhört, die gelten lässt, die achtsam ist.

Die Liebe, die Daniel in „Wie im Himmel“ seinem Chor zuwendet, verdankt sich der schönen Anna, in die er sich verliebt. Das ist sehr schön, heißt aber nicht, dass sich immer erst einer verlieben muss, bevor ein stimmiges Wir entstehen kann. Aber es heißt doch, dass offene Herzen und die Begeisterung für etwas, das eine gemeinsame Erfahrung von Sinn verspricht, das beste Bindemittel eines jeden kraftvollen Wir sind. Ohne Liebe und Begeisterung gibt es so etwas nicht. Wenn heute so viele Menschen der althergebrachten Institutionen überdrüssig sind, dürfte das nicht zuletzt daran liegen, dass sie dort weder Liebe noch Begeisterung finden.

Das ist schade, besonders im Blick auf die Kirchen. Denn wie schon der Theologe Friedrich Schleiermacher am Anfang des 19. Jahrhunderts sagte, gilt noch heute: Nirgends entsteht ein solcher Zauber der Verbundenheit wie dort, wo Menschen gemeinsam die Erfahrung des allumfassenden Sinns machen – wo sie dem Göttlichen so nahe kommen, dass sie zu sich, der Welt und dem Leben „Ja“ sagen können; und wo sie aus dieser Erfahrung einander in Liebe und Achtsamkeit zuwenden. Spirituelle Gemeinschaften, in denen Menschen ihre Besonderheit leben können, entfalten tatsächlich auf besondere Weise den Zauber des Wir. In ihnen könnte die Quadratur des Kreises gelingen, nach der sich heute so viele Menschen sehnen.

Autor: Dr. Christoph Quarch. Er beschäftigt sich mit Philosophie und Lebenskunst, Eros und den Weltreligionen, www.lumen-naturale.de

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1 Kommentar

tine 20. Juni 2011 - 20:23

Mein Traum so ein Zauberdorf, so ein Kreisdorf. Aber das ist nicht mal eben zu verwirklichen und folgt wieder der Frust, wieder die Leistungssehnsucht.

Ich finde es wäre viel einfach sofort im „Kleinen“ ganz groß zu beginnen. Umdenken, umfühlen. Wir sehen Menschen immer in Zahlen, Einkommen, Zugehörigkeiten in Berufsgruppen, teilen sie ein in Angestellte, Arbeiter, Selbstständige, in Arbeitslose und Harz4-Empfänger, werten und packen in Schubladen. In diesem Format leben wir, sind wir groß geworden.

Wie wäre es, sich von Herz zu Herz, Seele zu Seele begegnen ? Wir wäre es die Potentiale des anderen zu suchen, zu erkennen, anzuerkennen, sie zu würdigen, zu ehren?

Leiden wir nicht BurnOuts weil wir uns nicht mehr ehren, weil unsere Potentiale im Alltagsstress brach liegen, weil wir leisten und nichts zum Ausruhen und Anlehnen haben. Weil der Stress mehr gilt als die Pause? Die Ablenkung mehr als die Stille?

Verwenden wir nicht zuviele Gedanken aufs Aussen, auf das was wir haben oder nicht haben, suchen wir nicht lieber Fehler anstatt Potentiale?

Netzwerke der gegenseitigen Wertschätzung und seine es virtuelle Dörfer wären schon hilfreich, diese Idee hab ich schon länger.

Sollten wir nicht Schöpfer sein und nicht erschöpft sein? Die Fülle die uns umgibt geniessen anstatt im Mangel zu verzweifeln?

tine

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