Manchmal warten und hoffen wir auf ein Zeichen „von oben“ – doch sobald wir es erhalten, kommt Unsicherheit auf und wir versuchen uns in Interpretationen. So ging es auch der asien-begeisterten Evelyn Stierle, deren intuitive Signale sich auf Anhieb nicht deuten ließen. In ihrer Geschichte, die im Himalaya beginnt, zeigt sich, wie meilenweit die eigene Intuition dem logischen Denken und Wünschen voraus sein kann.
von Evelyn Stierle
Ich dachte, meine Reise sei zu Ende,
meine Kräfte versiegt, der Weg versperrt,
die Vorräte erschöpft und die Zeit gekommen,
sich leise im Dunkel zu verstecken.
Aber ich sah, dass Dein Wille kein Ende in mir kennt,
dass neue Lieder aus dem Herzen sprießen,
wenn alte Worte auf der Zunge sterben,
und sich zeigt ein neues wunderbares Land,
wenn alte Spuren sich verlaufen.
(Rabindranath Tagore)
Ich spürte, es geht um Abschied. Jahr für Jahr war ich in Indien und Tibet unterwegs – quer durch die Täler und Passhöhen des Himalaya. Mal alleine. Mal mit in der Leitung spirituell ausgerichteter Reisegruppen. Retreats durchführen, Menschen an heilige Orte leiten, in Klöstern meditieren, Kraftorte aufsuchen, eine Brücke bauen zwischen Ost und West. Viele tief bewegende Begegnungen mit Mönchen, Rinpoches, buddhistischen Ritualen hatte ich während dieser Reisen erfahren und die Lebens- und Glaubenswelt Indiens und Tibets kennengelernt. Unendlich viele magische Momente hatte ich hier erlebt.
Und dennoch klopfte immer wieder eine leise innere Stimme in mir an, die mich dazu veranlasste, mir zu überlegen, ob diese Form von Reisen immer noch zu meinem gegenwärtigen Lebensplan gehörte. Diese innere Stimme bekam manchmal Unterstützung durch äußere Geschehnisse, wie die unerträgliche politische Situation in Tibet oder meine physische und psychische Erschöpfung nach einer weiteren Passüberquerung. Aber letztlich hing mein Herz doch so sehr an diesem Teil der Welt und auch meiner Arbeit dort, dass ich mir einen Abschied in keinster Weise auch nur vorstellen konnte und noch weniger wollte.
Diese Reise jetzt führte mich einmal mehr durch Zanskar, jenem weit abgelegenen Teil des nordindischen Himalaya in Ladakh, das einst ein eigenständiges Königreich war und als „Klein Tibet“ gesehen wird. Buddhistisches Leben in all seinen Facetten ist dort alltäglich erlebbar und noch ganz selbstverständlich und natürlich verankert. Der Magie dieses Lebens wollte ich erneut begegnen und eintauchen in den Zauber der Bergwelt, der Menschen und der Klöster.
Die Gruppe, die ich auch diesmal wieder mit leitete, war guter Dinge. Es waren spirituell interessierte Menschen, die sich zusammengefunden hatten, um Land und Leute, die Kultur und vor allem den tibetischen Buddhismus näher kennenzulernen. Wir hatten einige Passhöhen schon hinter uns und wir waren alle inzwischen an die Höhe angepasst und dem Himmel näher. Auch uns selbst und der Magie des Seins, den Menschen in ihren Dörfern und all den Mönchen, denen wir hier begegneten, waren wir näher.
Auf langen Wandertagen entlang des Zanskarflusses wurden wir manchmal zu Buttertee eingeladen und saßen mit den Familien in ihren von den offenen Feuerstellen verrußten Küchen – oder mit den Mönchen bei den ausgedehnten Pujas und manchen wie Zauber anmutenden Ritualen. Hier wurden Boddhisattvas und Glück bringende Mächte angerufen und Dämonen und Negatives mithilfe der magischen Kraft der Mantren und rituellen Handlungen verbannt. Hier wurde die eigene innere Buddhanatur immer wieder visualisiert und im tiefsten Inneren verankert. All die inneren und äußeren Begegnungen vertieften das Gefühl, Anteil zu haben an einer ganz anderen Sicht der Dinge und nicht alltäglicher Wahrnehmungen der Welt und in gemeinsamen Meditationen mit den Mönchen für manch magische Momente sogar Teil davon zu werden.
Noch ein paar wunderschöne und herausfordernde Trekkingtage lagen vor uns, bis wir nach Manali, einem idyllischen kleinen Städtchen mit einem ganz bezaubernden Bazar, kamen, dort das Zelt mit einem Hotelzimmer tauschten und die erste warme Dusche nach vielen Wochen lang und ausgiebig genossen. Von dort aus ging es dann in einer langen Nachtfahrt zurück nach Delhi und dann zum Rückflug nach Deutschland. Es war also eigentlich alles in bester Ordnung. Und trotz all dem konnte ich diese innere Ahnung einfach nicht aus meiner Wahrnehmung verbannen. Ich spürte immer nur, es geht um Abschied. Irgendwie schien ich mich innerlich auf eine neue Zeit zuzubewegen. Einiges war die letzten Jahre passiert, was den sonst immer so reibungslosen Ablauf der Reisen durcheinanderbrachte.
Ich spürte die Magie des Lebens am Werk, mit all ihren Zeichen und Hinweisen – allerdings auf eine Art und Weise, die mir überhaupt nicht angenehm war, denn Abschied zu nehmen und Gewohntes loszulassen fiel mir schwer. Ich konnte mir nicht erklären, warum ich immer wieder stehen blieb, mich umdrehte, als ob ich noch einmal einen letzten Blick erhaschen und festhalten wollte. Ein letztes Mal das Kloster aus genau dieser Perspektive sehen? Ein letztes Mal den blauen Mohn entdecken – in seiner ätherischen Schönheit und in totalem Kontrast zu den riesigen massiven Felsblöcken, hinter denen er sich so oft zu verbergen schien? Ein letztes Mal in die Augen der vielen Kinder blicken, die sich wie eine Weintraube vor meinem Zelt sammelten und durch nichts wegzubewegen war? Ein letztes Mal auf Wiesen von Edelweiß zelten, Buttertee schlürfen und dem Rinpoche einen Katak überreichen?
All das war über so viele Jahre doch zu meiner zweiten Heimat geworden. Und weitere Aufenthalte waren in Planung. Es war also eigentlich doch alles in bester Ordnung. Ich konnte mir einfach partout nicht meine Tränen und diese intuitive Wahrnehmung erklären … ich spürte einfach eben nur weiterhin ganz tief in mir, es geht um Abschied. Aber wovon? Und wofür? Und warum eigentlich überhaupt? Es war doch alles in Ordnung. Und auch wenn ich mir all das noch so oft herunterbetete und gebetsmühlenartig ständig wiederholte, änderte es doch rein gar nichts an der Beharrlichkeit meiner inneren Stimme.
Gegen Ende der geplanten Zeit mit der Reisegruppe fasste ich den Entschluss, mich für ein paar Tage in ein Kloster zur Meditation zurückzuziehen. Ich wollte mir Klarheit verschaffen, was sich da eigentlich in mir bewegt, ohne dass ich es recht fassen konnte. Ich wollte wirklich erkunden, warum das Gefühl des Abschieds in mir so stark war und mich nicht mehr losließ. Ich ging in eines der Klöster, das mir über all die Jahre sehr ans Herz gewachsen war. Ich kannte die Mönche und wusste, ich war willkommen. Viele magische Momente hatte ich dort erlebt und einen solchen Moment erhoffte ich mir natürlich auch dieses Mal wieder. Mein Entschluss stand fest. Ich bleibe so lange im Kloster, bis ich innerlich Klarheit gefunden hätte, was die undefinierte Trauer in mir war und eine klare Botschaft, warum und wieso und wohin. Eine Vision eben. Nichts mehr und nichts weniger. Ich machte mich also auf Visionssuche. Die Gruppe war in guten Händen und ich würde sie mit einem der Pferde einholen und das letzte Stück des Weges wieder begleiten können.
Ich bat die Mönche um eine der einfachen Klausen, brachte meine Trinkschale für den Buttertee und Tsampa mit. Damit war ich Teil des Klosterablaufes. Eingecheckt sozusagen. Morgens früh in die Gompa, Rituale, Meditationen, Gesänge, Mantrarezitationen. In der freien Zeit blieb ich sitzen. Mein Meditationskissen war der Ort, von dem aus ich mir erhoffte, eine klare Vision zu erhalten, wie mein Leben weitergehen sollte.
Die intuitiven Eindrücke und Empfindungen der letzten Wochen auf meinem Weg durch Zanskar, dass es für mich auf meinem persönlichen Weg um Abschied gehe, waren einfach zu stark, als dass ich sie hätte ignorieren können oder auch wollen. Denn das ist es doch letztlich, warum Menschen in den Himalaya aufbrechen, nämlich angesichts seiner überwältigenden Größe wieder zu dem zurückfinden, was die eigene Essenz ist. Sich der Grandiosität der Berge und Ausstrahlung hingeben. Die spirituelle Botschaft wahrnehmen und verstehen, die über Jahrtausende Millionen von Pilgern in die Schwingung des Himalaya eingegerbt haben – sich wieder für die Magie des Lebens zu öffnen. Sich seiner Ausstrahlung hingeben und das eigene übergroß gewordene Ego mehr und mehr loslassen. Sich gesundschrumpfen sozusagen. Um dann von dort aus in die eigene wirklich wahrhaftigere Größe hineinwachsen zu können. So war der Plan. Meiner zumindest.
Und deshalb saß ich also hier. Und wollte auch nicht eher aufstehen, bis der Himalaya als einer meiner großen Lehrer, oder Rinpoche, der Abt des Klosters oder meine eigene Intuition sich in einer glasklaren Botschaft verdeutlichte oder aber der Himmel gleich ganz persönlich und direkt zu mir sprach und meine Fragen beantwortete. Und mir eine Vision schickte.
Aber all das passierte nicht. Keine Intuition. Keine Inspiration. Keine Magie. Nichts von all dem. Ich empfand wohl immer wieder die Tiefe meiner Meditation, den Segen der Mönche, tiefe Dankbarkeit für mein Dasein in diesen wertvollen Momenten. Aber es wollte sich mir einfach keine Vision eröffnen auf meine grundlegende Fragestellung hin. Ich empfand nur weiter und immer tiefer das Gefühl von Abschied. Meine Tränen blieben unbeantwortet. Ich blieb sitzen. Ich ignorierte die Schmerzen in meinen Knien. Es musste mir doch etwas offenbart werden, was Sinn macht. Ich war verzweifelt. Ich ignorierte die Stiche in meiner Wirbelsäule. Es musste doch Antworten geben. Ich blieb einfach sitzen. Stunde um Stunde. Alles tat nur noch weh.
Und dann plötzlich: ‚Go West!’
Es war keine Vision, wie ich sie mir vorstellte: innere klare Bilder mit Strahlkraft oder zumindest von Engelszungen eingehauchte liebliche Worte. Oder so etwas in der Art. Es waren einfach nur diese beiden Worte. Und ich wollte sie auch gar nicht wahrnehmen. Ich schob sie weg, bis die ‚eigentliche’ Vision vor meinem geistigen Auge endlich auftauchen müsste.
‚Go West!’
Das Bewusstsein ließ sich nicht mehr wegschieben. Keine anderen Botschaften oder Bilder oder Gedanken hatten mehr Platz. Es gab keinen Raum mehr in meinem Kopf oder Herz oder Bauch oder Meditationskissen. Nichts blieb oder ereignete sich mehr, außer diesen beiden Worten, die ich nicht zu deuten wusste. Und die rein gar nichts mit irgendwas zu tun hatten, was ich mir unter ‚Vision’ vorstellte. Ich war enttäuscht. Und immer noch traurig. Eigentlich noch trauriger als vor meinem persönlichen Retreat. Und alles tat nur weh. Ich verließ mein Kissen und das Kloster.
Das ist doch keine Antwort! Was soll denn das heißen, ‚Go West’!!!??? Okay, ich bin hier in Indien. Also heißt ‚Go West!’ vielleicht so viel wie einfach nur ‚Geh nach Hause, in den Westen.’ Geh dahin zurück, wo Du herkommst? Das war nun auf gar keinen Fall, was ich hören wollte. Ich fühlte mich zutiefst verbunden mit Indien und Tibet und Nepal und Thailand und Bali. Und östlicher Spiritualität. Eigentlich war doch ganz Asien fast schon eine Art zweite Heimat geworden.
Und jetzt will mir die geistige Welt oder meine eigene Intuition – oder wer oder was spricht denn eigentlich hier? – eintrichtern, die Zeit des Abschieds sei gekommen und ich solle einfach im Westen bleiben? Also daheim? In Deutschland? Zuhause rumhocken? Nie wieder über die Berge ziehen? Nie wieder eintauchen in all das, was über viele Jahre spirituelle Nahrung und Inspiration war? Ich war im Krieg mit mir selbst. Weder konnte ich meine intensive Erfahrung im Kloster und die intuitive Botschaft total ignorieren – noch meinen Frieden mit ihr machen. Ich konnte sie auch nicht wirklich verstehen.
Im Lauf der Zeit verblasste die Botschaft etwas, aber immer wieder, sobald ich innehielt und in mich hörte, tauchte sie wieder auf. ‚Go West!’ begleitete mich im Grunde immer und überall hin. Wie ein persönliches Mantra machte es sich – ob mir das nun passte oder nicht – zu einem magischen Begleiter und schlich sich immer wieder in mein Bewusstsein. Ich malte mir immer wieder aus, was sie wohl real bedeuten könnte … nicht mehr in den Himalaya reisen? Eine Neuorientierung in meinem Leben? Im ‚Westen’? Wo in aller Welt sollte das denn sein? Ich konnte – und wollte! – die Zeichen nicht wirklich verstehen. Bis mir dann noch einige weitere klare Hinweise gegeben wurden, die ich aber anfänglich auch versuchte, so gut wie irgendwie möglich zu ignorieren oder umzudeuten. So kam mir Monate später in Tibet mein gesamtes Gepäck auf ominöse Weise abhanden und bei einer der nächsten Reisen durch Zanskar sollten mir buchstäblich die Sohlen von den Schuhen fallen und ich ziemlich krank werden.
Erst einige Jahre später, nachdem ich der Einladung eines Freundes nach New York folgte, sollte sich meine intuitive Wahrnehmung von Abschied und meine Vision von ‚Go West!’ zu einem stimmigen Bild fügen.
Als ich dann das erste Mal über den Atlantik Richtung Westen flog, hatte ich eines der Bordmagazine in der Hand. Ich studierte die Weltkarte und all die Flugverbindungen, die mit klaren Linien die großen Airports dieser Welt verbanden. All diese langen Jahre vorher hatte ich mich nur für Asien interessiert und mein Blick war nur gen Osten gewandert. Meine ganze innere Orientierung war nach diesem Teil der Welt ausgerichtet. Doch nun erkannte ich: Natürlich gibt es ein Westen über Deutschland hinaus! Nur dieser Teil der Welt war bisher in keinster Weise in meinem Blickfeld gewesen.
Es eröffnete sich mir eine total neue Dimension. Ich entdeckte wirklich so etwas wie einen neuen Planeten in meiner eigenen offenbar bis dahin doch ziemlich begrenzten Galaxie: New York City! Manhattan eröffnete mir tatsächlich eine völlig neue und andere Welt. Die Schluchten des Himalaya verblassten mehr und mehr. Ich verlor mich in den Straßenschluchten der Stadt – nur um mich neu zu finden.
Die Botschaft ‚Go West!’, die sich mir über eine Eingebung vermittelte, machte endlich Sinn!
Eine innere intuitive Stimme tat mir die Botschaft von einem bedeutenden Wandel in meinem Leben kund lange bevor ‚Ich’ und mein rationaler Verstand es wussten und wahrhaben wollten. Nie hätte ich mir ausdenken können und je damit gerechnet, mich im Dschungel dieser Großstadt zurecht zu finden – geschweige denn dort vielen Seelenverwandten zu begegnen, mich gar heimisch zu fühlen und im Lauf der Jahre New York für mich als einen wesentlichen Ort spirituellen Retreats zu erleben.
Oftmals sind wir uns mit unserer Intuition selbst voraus. Es dauert dann einfach nur etwas länger, bis sich die Magie des Lebens entfaltet und wir sie als solche erkennen und verstehen können.
Auszug aus „Magic is real“ von Evelyn Stierle
Buch zum Thema:
Evelyn Stierle: “Magic is real”
Verlag: Kamphausen, 2017
Umfang: 240 Seiten
Preis: 15,99 €
ISBN: 9783962400545
Hier können Sie das Buch bestellen
Über Evelyn Stierle:
Grundlage ihrer Arbeit sind die Methoden und energetischen Prinzipien von Core Energetics und Pathwork. In dieser körperbezogenen Energie- und Bewusstseinsarbeit können emotionale, körperliche sowie geistige Blockaden erkannt und gelöst, gestaute und zurückgehaltene Lebensenergie befreit werden. Sie versteht ihre Arbeit als Begleitung und Unterstützung auf dem Weg zu sich, dem innewohnenden Potential und Ihrem Höheren Selbst. Dafür hat sie sich in vielfältigen Ausbildungen weitergebildet. Sie hat langjährige Erfahrung im Begleiten vieler Menschen auf inneren und äußeren Reisen.