Die Weihnachtsgeschichte lenkt das Verständnis auf ein historisches Geschehen. Aber es gibt auch eine spirituelle Dimension von Weihnachten. Sie lenkt den Blick auf die Geburt des Lichtes im menschlichen Herzen und einen alchemischen Prozess, der im Menschen einen tiefgreifenden Wandel vollzieht.
von Ortrun Göbel
Weihnachten als Beginn einer Transformation – Vom Geheimnis der inneren Alchemie
In jedem menschlichen Leben gibt es größere oder kleinere Veränderungen. Einen besonders tiefgehenden Impuls kann man mit dem Begriff “Weihnachten” bezeichnen: die Geburt des Lichts im menschlichen Herzen. Sie ist die Basis für einen Weg, der über mehrere Stufen der Wandlung zum wahren göttlichen Selbst führt. In der christlichen Tradition waren diese Stufen immer bekannt. Die innere Alchemie ist ein universelles Thema und jedem spirituell ausgerichteten Menschen zugänglich. Das Verständnis dafür setzt einen Prozess im eigenen Innern in Gang. Es ermöglicht das Erwachen eines neuen Bewusstseins.
Äußeres und inneres Christentum
Das Thema Weihnachten ist aus spiritueller Sicht stark verknüpft mit einem wichtigen Aspekt der Transformation des menschlichen Bewusstseins und des gesamten menschlichen Lebens. Man kann es andeuten als „das Geheimnis der inneren Alchemie“. Die inneren Dimensionen des Christentums sind Teil einer Universellen Lehre. Überall auf der Welt, in allen Kulturen, wurde der Menschheit befreiende Weisheit überbracht, die sich – insgesamt gesehen – auf erstaunliche Weise ergänzt und vervollständigt. Das Christentum ist eine dieser verschiedenen Traditionen.
Wir können es von einem äußeren und einem inneren Blickwinkel aus betrachten. Dazu dienen seit jeher die beiden Begriffe „exoterisch“ und „esoterisch“. Es sind der äußerliche oder der innere Aspekt einer jeden Tradition, die zur Universellen Lehre gehört.
Wenn wir von Weihnachten sprechen, kann man darin ein Symbol für die Geburt des Lichtes sowohl in der Welt, als auch im Menschen sehen.
Weihnachten und drei weitere Schritte
Im Christentum gibt es vier Hauptfestlichkeiten. Drei davon sind den meisten Menschen bekannt. Die vierte entwickelte sich im Mittelalter unter dem Einfluss der Katharer in Europa. Diese vier Festlichkeiten repräsentieren die vier verschiedenen Aspekte eines inneren Wandlungsprozesses.
Es handelt sich um:
Weihnachten, Ostern, Pfingsten und die sogenannte Manisola.
Weihnachten steht für den Beginn und die Tür zur Entfaltung eines tief ins Innere gehenden Impulses. Deshalb ist die Zeit um die Sonnenwende im Winter der passende Zeitraum für dieses Geschehen.
Ostern, um die Zeit des Frühlingsäquinoktium herum gefeiert, steht für einen großen Transformationsschritt in dem inneren Prozess: das Entstehen einer Energie, die sich hingibt, um den gesamten natürlichen Zustand zum seelisch gereiften Zustand zu verwandeln.
Pfingsten steht in engem Zusammenhang mit der Sommersonnenwende. Dieses Fest deutet an, wie sich das seelisch Entwickelte weiter transformiert hin zum geistigen Aspekt, der hinter dem Seelischen schwingt.
Dies sind die bekannten Feiertage des traditionellen Christentums. Die Katharer kannten noch ein viertes Fest. Ihr höchster Feiertag war die Manisola, das Fest des Parakleten, des Trösters, also eine weitere Feierlichkeit, die in Zusammenhang mit dem Geist zu sehen ist. Die katharische Kirche wurde auch die Kirche des Parakleten genannt.
Das höchste Ziel war es, das Seelische und das Geistige vollkommen zu verbinden. Diese Verbindung wurde in der Zeit um die Herbst-Tag-und Nachtgleiche gefeiert.
Die beschriebenen Feiertage haben auch einen Bezug zu den vier Jahreszeiten Winter, Frühling, Sommer und Herbst als den vier “Türen” der Wandlung. Wir sehen sie in der Natur als konkrete Andeutung für den Wandlungsprozess im Inneren des Menschen: als Samen, als neue Knospe, als Blüte eines absolut neuen Bewusstseins und als Frucht, die der Baum schließlich in einem reifen Stadium seiner Entwicklung hervorbringt – nicht allein für sich selbst, sondern für alles Leben um ihn herum.
Die vier Stufen der Verwandlung
In den Evangelien des Neuen Testamentes finden sich ebenfalls Parallelen anhand verschiedener Charaktere. Für den geschilderten Transformationsprozess stehen vier zentrale Charaktere:
Herodes, Johannes der Täufer, Jesus und Christus.
Aus der esoterisch-christlichen Perspektive – also aus dem Blickwinkel der inneren Wandlung – stehen diese vier Charaktere für vier verschiedene Aspekte innerhalb eines Bewusstseins in ein und demselben Menschen. Sie beschreiben, wie man den inneren Wandlungsprozess mit einem bestimmten Bewusstseinszustand beginnt und während der Transformation verschiedene Spiralen oder Stufen der Verwandlung durchläuft.
Die erste Stufe – Die Grenze des Egos
Der erste Charakter, Herodes, weist hin auf das irdische, sich selbst behauptende Ego, auf den sich seiner selbst bewussten Ich-Zustand. In diesem besonderen Bewusstseinszustand hat der Mensch das volle Potenzial seines irdischen Ego ausgeschöpft. Er ist zu den äußersten Grenzen dessen vorgestoßen, was er von einem egozentrischen Standpunkt aus tun kann. Wenn König Ich seine Grenze erreicht hat, kann etwas komplett Neues und fundamental Anderes erwachen. Das Samenkorn in der Wintererde wartet darauf, sich entfalten zu können. Im übertragenen Sinn bedeutet dies, dass das Samenkorn des göttlichen Prinzips im menschlichen Herzen aktiv werden kann.
Dadurch ändert sich das Leben. Alles, was bisher Erfüllung brachte, wird plötzlich schal. Der betreffende Mensch sucht nach neuen Antworten auf innerlich drängende Fragen. Er wird zum Sucher: Sucher nach der Wahrheit, Sucher nach der wahren Bedeutung des Lebens.
Die zweite Stufe – Ein neues Bewusstsein
Als Wahrheitssucher manifestiert sich das Bewusstsein nun – symbolisch gesprochen – als Johannes der Täufer. Dieser Wechsel bedeutet, dass der Mensch beginnt, durch die Wüste zu ziehen, denn er nimmt das Leben jetzt als “Wüste” wahr. Er führt weiterhin sein äußerliches Leben mit all der Liebe und Zuwendung, die er aufbringen kann, aber innerlich fühlt es sich an, als würde er durch eine Wüste laufen, angesichts der Tatsache, dass die wirkliche Bedeutung seiner Existenz noch als sehr weit entfernt erscheint. Aber er setzt seinen Weg fort. Er sucht und stößt dabei vor zu den äußersten Grenzen seines Bewusstseins. Diese äußerste Grenze wird in den verschiedenen Traditionen symbolisch beschrieben als See oder als Fluss. In der christlichen Tradition ist es der Jordan. So wandert Johannes der Täufer zu den äußersten Grenzen, dem Jordan. Dort begegnet er der Wahrheit, nach der er sich so lange gesehnt hat. Sie wird repräsentiert durch Jesus. Johannes nimmt das weit über seinen eigenen Bewusstseinszustand hinausreichende Bewusstsein Jesu wahr, ein Bewusstsein, das vom universellen Geistprinzip berührt und erleuchtet wird. Johannes spürt innerlich diese ureigene und doch völlig andere Hälfte seines Selbstes auf sich zukommen. Das Ergebnis der Begegnung von Johannes und Jesus am Jordan wird symbolhaft beschrieben als die Berührung durch die Taube. Diese Berührung Jesu durch die Taube ist ein Zeichen dafür, dass der neue Bewusstseinszustand nun vom Geist durchdrungen wird.
Die dritte Stufe – Fundamentale Veränderungen
Von diesem dritten Bewusstseinszustand, den man als Jesus bezeichnen kann, geht eine vollständige Revolution innerhalb des menschlichen Wesens aus, unter anderem durch den Wechsel der zwölf magnetischen Kräfte, die das menschliche Leben bestimmen. Es ist ein Hinweis auf die zwölf Jünger, die von jetzt an Jesus begleiten und sich im Verlauf dieses Weges verwandeln. In dieser Phase ist von Wundern die Rede, von Heilungen und von der Auferweckung Toter. Aus dem inneren Blickwinkel betrachtet, stehen all diese Wunder für fundamentale Veränderungen innerhalb des menschlichen Wesens, Veränderungen im Herzen, im Haupt und in den Lebensprozessen. Dieser dritte Bewusstseinszustand ist wahrhaftig ein Bewusstseinszustand, der über die Grenze des normalen menschlichen Bewusstseinszustandes hinausgeht. Daher wird er beschrieben als etwas, das unser Leben komplett verwandeln kann.
Die vierte Stufe – Die Vollendung der Transformationen
Wenn der dritte Bewusstseinszustand mit seinen Verwandlungen durchlaufen wird, mit allen Aspekten der eigenen Existenz, reift ein vierter heran, repräsentiert durch Christus, der auch für den Geist selbst steht. Dieser vierte Bewusstseinszustand, basierend auf einem neuen spirituellen Bewusstsein, bewirkt eine körperliche Veränderung. Die physische Gestalt mit all ihren Organen und Lebensprozessen wird in die Verwandlung einbezogen. Innerhalb der physischen Gestalt – noch während des stofflichen Lebens – entsteht ein neuer Geistleib. Dies ist die spirituelle Bedeutung der Auferstehung nach drei Tagen. Diese drei Tage können für die Verwandlung der drei Aspekte des menschlichen Wesens stehen: das Herz (die Empfindung), das Haupt (das Denken) und die Hände (die Tatkraft).
So kann man mithilfe der Symbole des Christentums einen Transformationsprozess beschreiben, der auch für das Geheimnis der inneren Alchemie steht. Dieser Prozess ist jedem Menschen sehr nahe. Alle tragen den Samen, den Funken des göttlichen Geistes in sich. In dem Moment, in dem dieser Funke aktiv werden kann, öffnet sich ein völlig neuer Blickwinkel auf das Leben und der Verwandlungsprozess beginnt. Er kann von außen nicht unterbunden werden und führt im Menschen zu einer Kettenreaktion von inneren Schritten.
In Geistesschulen aller Zeiten wurde ein solcher Prozess durchgeführt. Er bedarf der Gemeinschaft, in der alle notwendigen Erklärungen und begleitenden Hilfen gewährt werden, und in der die geistigen Kräfte für die Verwandlung wirksam sind.
Ich selbst gehöre seit vielen Jahren der Schule des Rosenkreuzes an.
Die Autorin:
Ortrun Göbel hat sich als ehemalige Grundschullehrerin mit dem Studienfach Deutsch nach ihrer Pensionierung mit Textarbeit beschäftigt. Seit 2008 war sie am Relaunch der Website des Goldenen Rosenkreuzes beteiligt. Ab 2015 gehörte sie zum redaktionellen Leitungsteam dieser Website. Einige ihrer Artikel wurden in verschiedenen Anthologien veröffentlicht.