Die Wanderin – Interview mit Marina Abramović

von Thomas

skorpio1Eine der faszinierendsten Künstlerinnen unserer Zeit ist zugleich hoch spirituell. Immer wieder überrascht sie durch ungewöhnliche Performances. So war sie 2010 drei Monate lang im New Yorker MOMA anwesend: An jedem Öffnungstag konnte sich ihr ein Besucher gegenüber setzen und ihr in die Augen blicken. Nicht mehr und nicht weniger. In diesem spannenden Interview, das erstmals in evolve, dem Magazin für Bewusstsein und Kultur erschienen war, spricht sie über ihre künstlerische Spiritualität.

Ein Interview von Ruth Golan und Carol Ann Raphael



Die Zeit nannte sie „Die größte Extremistin unter den Gegenwartskünstlern“, und tatsächlich lotet Marina Abramović in ihren Performances immer wieder die Grenzen der menschlichen Möglichkeiten aus. Dabei wird ihre Arbeit auch aus dem Ernstnehmen spiritueller Erfahrungen inspiriert. In diesem Interview lässt uns die „Grande Dame der Performance-Kunst“ an dieser Tiefendimension ihrer Arbeit teilhaben.


In einem Textbeitrag für das Buch Art meets Science and Spirituality schreiben Sie, Sie seien spirituell „noch in den Kinderschuhen“. Würden Sie das immer noch sagen?

Naja, ich sage nicht mehr, dass ich die „Großmutter der Performance-Kunst“ bin, weil das die Leute schon vor 30 Jahren gesagt haben. Jetzt, da ich tatsächlich im Alter einer Großmutter bin, sage ich das nicht mehr. Aber doch, ja, ich denke immer noch von mir, dass ich spirituell in den Kinderschuhen stecke. Es kann gefährlich sein, über Spiritualität zu sprechen, weil man dann sofort den New-Age-Stempel aufgedrückt bekommt. Als ich ein Kind war, ging meine Großmutter oft zur Kirche, sie war sehr spirituell und betete viel. Mein Gefühl für Rituale im Leben begann dort, mit all den Zeremonien, Kerzen und Gerüchen. So oft in der Kirche gewesen zu sein hat mich stark beeinflusst. Später wendete ich mich dem tibetischen Buddhismus zu.

Sie praktizieren tibetische Meditation?

Ja, schon seit mehr als 30 Jahren. Sogar schon, bevor ich nach Indien ging, wo ich dem Dalai Lama begegnete. Ich las Bücher über den Zen-Buddhismus, fühlte mich aber nie angezogen davon, weil im Zen alles mit einer weißen Wand beginnt. Aber unser Geist ist so barock und die Tibeter folgen eher einem barocken Ansatz.
Ich denke, der Unterschied zwischen mir und anderen ist, dass ich Dinge tue, über die andere nur lesen. Für mich ist die unmittelbare Erfahrung wichtig, ich möchte die Dinge selbst erleben. In Indien nahm ich an verschiedenen Retreats teil, z. B. an Vipassana- und Grüne-Tara-Retreats. Ich verbrachte drei Monate allein in einem Raum im Dschungel und bekam einmal am Tag etwas zu essen. Ein Jahr verbrachte ich auch bei den Aborigines. Diese Kultur ist meiner Meinung nach die höchstentwickelte, der ich je begegnet bin. Wir denken oft, die Aborigines sind ein primitives Volk, aber sie haben eine ausgezeichnete sinnliche Wahrnehmungsfähigkeit. Sie haben unglaublich weit entwickelte mentale Fähigkeiten, von denen wir nichts wissen, wie Telepathie oder Steuerung von Ereignissen durch das Bewusstsein.
Nach der Performance anlässlich meiner großen Retrospektive im MOMA im Jahre 2010 habe ich viele interessante Erfahrungen gemacht. Performance-Kunst findet in Echtzeit statt und ist immateriell, es geht dabei nur um Energie. Ein Bild kannst du an die Wand hängen und es gehört dir, du kannst es jeden Tag anschauen, aber Energie kannst du nicht anfassen. Um meine Erfahrungen zu verifizieren und mehr über den Umgang mit Energien zu lernen, ging ich nach Brasilien, wo ich mit Schamanen arbeitete. Ich suchte nach Menschen, die die Geister verkörpern, und wollte herausfinden, wie sie die Brücken in die unsichtbare Welt herstellen und was ich davon lernen kann. Ich habe auch Kraftplätze in der Natur aufgesucht, Wasserfälle, besondere Felsformationen – Energieplätze. Allein dadurch, dass man an solch einem Platz ist, spürt man eine tiefe Verbundenheit.

Danach sind Sie in die westliche Zivilisation zurückgekehrt. Sie machen Ihre Performances hier. Sie drücken alles, was Sie gelernt haben, innerhalb dieser Kultur aus. Wie stellen Sie diese Verbindung her?

Wissen Sie, in dem einen Jahr bei den Aborigines war ich so glücklich – ohne Geld, weil man dort keines braucht. Man isst einfach alles, sei es Ameisen oder Wüstenratten. Die wichtigsten Augenblicke des Tages waren Sonnenaufgang und Sonnenuntergang. Sie können sich nicht vorstellen, wie viel Glück ich dabei erlebt habe. Aber irgendwann habe ich verstanden, dass ich dort nicht bleiben konnte, nach einem Jahr musste ich zurückkommen.
Die wichtigste Erkenntnis, die ich seit meiner Kindheit habe, ist ein Sinn, ein Auftrag: Was ist mein Sinn? Sinn ist lebenswichtig für mich. Mein Sinn und Auftrag ist es, Künstlerin zu sein. Daran habe ich nie gezweifelt. Mein Auftrag ist, alles was ich gelernt habe, zu übersetzen und in eine Gesellschaft zu bringen, die so in der Trennung lebt.

Um die Welt zu transformieren, in der Sie leben.

Wissen Sie, ich verstehe eine einfache Sache, nämlich dass alles Neue immer mit dem ersten Schritt anfängt. Es ist so einfach, zu kritisieren, was falsch ist. Ich will einfach wissen, was ich selbst tun kann. Das ist alles. Wenn ich bei einigen wenigen Menschen das Bewusstsein verändere, dann ist das schon ein Anfang.

Abramovic2Das scheint ja bei der MOMA-Performance passiert zu sein, wo Sie drei Monate lang an jedem Öffnungstag still je einem Besucher gegenübergesessen haben. Als Sie da saßen, als Sie die Performance gemacht haben, was haben Sie erlebt?

Das Einzige, was ich da tun musste, war gegenwärtig zu sein. Wenn man ganz still sitzt, gehen einem Hunderte von Gedanken durch den Kopf. Für mich ging es darum, in die Lücke zwischen dem einen Gedanken, der geht, und dem Gedanken, der kommt, zu gelangen. Wie komme ich da hinein? Das ist die schwerste Aufgabe. Im Grunde muss man da einsteigen, wo die Lücken größer und größer werden. Und dann kommst du in den Raum des Nicht-Denkens. Dieser Raum ist nicht der Geist selbst, es ist ein Raum des Nicht-Denkens, in dem wir den Verstand, jedes Mal, wenn er sich wieder zeigt, aufs Neue loslassen. Das erfordert eine ungeheure Konzentration. Wenn du in diesem nicht-denkenden Raum, in der Gegenwart, bist, dann gibt es keine Zeit. Und du machst eine außerkörperliche Erfahrung, du bist überall, 360 Grad. Das ist die höchste Erfahrung, ein Zustand strahlenden Lichts, von Frieden und Glück. Die Zeit finden wir nur in der Vergangenheit und in der Zukunft, aber in der Gegenwart gibt es keine Zeit, da ist Nichts. Und wenn ich in diesem leeren Raum bin, dann kann ich dich auch dahin mitnehmen. Deswegen wird es so emotional bewegend für die Menschen.

Das ist eine spirituelle Erfahrung. Wie verbinden Sie diese mit der Kunst?

Ganz einfach. Sie ist der Kontext.

Weil es im Museum passiert?

Nein, es kann überall geschehen. Aber weil ich Künstlerin bin, ist dies der Kontext. Ich bin keine Nonne. Wenn du Brot in der Bäckerei herstellst und das beste Brot bäckst, ist das keine Kunst. Aber wenn du Brot in einem Museum bäckst, dann bist du Joseph Beuys. Der Kontext macht den Unterschied. Der Gedanke des Kontextes ist unheimlich wichtig. Ein Philosoph kann eine solche Erfahrung machen, aber er ist ein Philosoph. Mein Kontext ist die Kunst. Es ist Kunst, weil ich mit diesem Material umgehe.
In der Kunst geht es um eine Übertragung von Energie, das ist die Zukunft. Das habe ich schon vor langer Zeit gesagt. Aber es hat lange gedauert, bis ich an diesen Punkt kam. Vor 20 oder 30 Jahren hätte ich niemals eine so einfache Performance wie im MOMA machen können. Man muss so viel Wissen und Verständnis für die eigenen Energien haben.
Deshalb habe ich all diese Rituale gemacht und alles getan, um zu lernen. Wenn du Künstlerin bist, brauchst du oft so viele Dinge, um deine Unsicherheiten zu verbergen. Ich brauchte nichts, denn was passiert schon in dieser Performance? Es gibt keine Entwicklung, kein Anfang, kein Ende, kein Crescendo. Nichts. Nur uns.

Alles und Nichts. Sie sprechen über die Verbindung zum Absoluten, eine Verbindung zum Göttlichen, mit der heiligen Dimension des Lebens.

Ja, und es verändert die Menschen wirklich. 72 Menschen kamen mehr als 21 Mal, um bei mir im MOMA zu sitzen. Jetzt haben sie sich zu einer Gruppe zusammengefunden und treffen sich einmal im Monat und essen zusammen, weil sie dieses Erlebnis so verändert hat. Sie haben ihre eigene Gemeinschaft gegründet.
Ein Mann saß am ersten Tag sieben Stunden lang bei mir. Er kam noch weitere 21 Mal und ließ sich die 21 auf seine Hand tätowieren. Wir sind wirklich Freunde geworden. Ich kenne diesen Mann besser, als jeden aus meiner Familie. Es ist unglaublich, seine Seele ist wie ein offenes Buch für mich. Wissen Sie, in den östlichen Philosophien und Religionen gibt es drei Wege für den Meister oder die Meisterin, Wissen weiterzugeben. Einer ist der gewöhnlichste, über Worte. Der zweite bedient sich der Geste und der dritte ist Stille.

Das ist die tiefste Begegnung. Wenn man ein Retreat mit Schweigemeditation macht, kommt man nach zehn Tagen den Menschen, mit denen man zusammen ist, so nahe, obwohl man kein Wort gesprochen hat.

Aber das Wichtige ist, dass man dabei auch ständig Anhaftungen aufbrechen muss. Trungpa Rinpoche, der tibetische Lama schrieb das wunderbare Buch Spirituellen Materialismus durchschneiden. Das Interessante daran: Wenn du denkst, dass du wirklich etwas erreicht hast und an dieser Errungenschaft anhaftest, dann entsteht in gewisser Weise wieder eine materialistische Haltung. Du musst alles, was du lernst, beständig wieder loslassen.

Sie arbeiten momentan an der Gründung des Marina-Abramovi?-Instituts. Was sind Ihre Pläne für dieses Institut?

Das Institut wird sich auf Langzeit-Performances konzentrieren – Tanz, Theater, Film, Video, Oper, Musik und andere performative Formen der Kunst, die sich vielleicht in der Zukunft noch entwickeln und für die wir noch nicht einmal einen Namen haben. Der Auftrag des Institutes ist es, das Denken und das Bewusstsein der Menschen durch eine kreative Verbindung von Bildung, Kultur, Spiritualität, Wissenschaft und Technik zu verändern. Wenn Sie das Institut betreten, unterzeichnen Sie einen Vertrag mit mir und verpflichten sich, sechs Stunden da zu bleiben. Dann packen Sie alle persönlichen Dinge, auch das Smartphone, in einen Spind. Sie bekommen schalldichte Kopfhörer und gehen zuerst in den Wassertrinkraum. In Behältern ist Wasser mit unterschiedlichen Mineralien. Jedes Mineral hat eine bestimmte Eigenschaft und Wirkung, und Sie trinken mit geschlossenen Augen. Dann setzen Sie sich in das Kristallzimmer, einen kristallenen Tunnel. Dann kommen Sie in einen Raum, in dem Sie einem Fremden gegenübersitzen und in die Augen schauen.

Es werden also alle Sinne einbezogen?

Ja, und auch die drei grundlegenden Haltungen des menschlichen Körpers: sitzen, liegen und stehen. Es gibt zum Beispiel das magnetische Zimmer mit Magnettürmen, die ein Energiefeld für Sie schaffen. Oder den Schweberaum, dort gibt es ein Podest, zu dem drei Stufen führen. Sie gehen die Stufen nach unten, legen sich auf das Bett und dann bewegt sich der ganze Boden nach unten und Sie bleiben in der Luft. Wenn Sie das alles durchlaufen haben – Sie müssen mir Zeit geben, damit Sie davon profitieren können –, dann kommen Sie in einen Raum, in dem wir einen subtilen Energiestrom wirken lassen. In diesem Raum wird ein Medium arbeiten, wie ich es in Brasilien erlebt habe. Man braucht ein Medium oder einen Schamanen, um subtile Energien strömen zu lassen.
Meine neueste Idee ist die Blutbank. Jeder Tropfen Blut, den Sie aus Ihrem Körper nehmen, ist mit Ihnen durch die Lebensenergie verbunden. Sie können hier sein und Ihr Blutstropfen in Tasmanien und trotzdem wird es eine energetische Verbindung geben. So heilen die Schamanen auch über weite Entfernungen. Ich werde also einen Glasraum gestalten, der komplett verschlossen ist. Und darin werden etwa 250 Tropfen Blut von wichtigen Menschen dieses Jahrhunderts sein, die zur menschlichen Entwicklung beitragen, sei es in der Wissenschaft, in der Technik, in der Kunst, in jedem erdenklichen Bereich. Ich bitte diese Menschen um einen Tropfen Blut und versehe ihn mit dem entsprechenden Namen. Zweimal im Jahr lade ich dann den bedeutendsten Schamanen ein, den ich finden kann, und er oder sie wird in diesen Raum gehen und die Bluttropfen energetisch aufladen, damit die Menschen, von denen sie stammen, der Gesellschaft noch mehr geben können.
Wenn Sie alle Räume erlebt haben und wirklich darauf eingestimmt sind, dann gehen Sie in die großen Bereiche. Das sind die Räume für die Performances, wo es Theater gibt oder Videoaufführungen oder was auch immer. Und dann gehen Sie in die kleineren Performance-Räume, und wenn Sie einschlafen, werden Sie zum „Schlafparkplatz“ gebracht.

Das ist beeindruckend, ein wirklich visionärer Plan. Haben Sie ein Team, das daran arbeitet?

Ich plane das alles mit zwei Leuten zusammen. Wissen Sie, ich bin wirklich wie ein Soldat. Ich wache jeden Morgen um sechs Uhr auf und fange an zu arbeiten. Das ist es, keine Beziehungen, geschieden, ich eigne mich nicht als Material für eine Ehe. Ich bin so glücklich mit mir selbst. Ich wache morgens auf und muss mich nicht schuldig fühlen, weil jemand auf mich wartet. Ich bin einfach frei.


Marina Abramović entwickelt seit den 70er Jahren wegweisende Performances, die die zeitgenössische Kunst nachhaltig prägen. Gegenwärtig plant sie die Eröffnung des Marina Abramović Instituts und ist in diesem Zusammenhang bis Ende Januar mit einem „Prototyp“ im Museum Tinguely Basel zu Gast.

www.marinaabramovicinstitute.org


Der Artikel erschien mit freundlicher Genehmigung des wunderbaren evolve – Magazins.

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