Von der Philosophiegeschichte nun als Pseudo-Dionysios Areopagita bezeichnet, gilt er als Vater der östlichen wie westlichen → Mystik. Die Arbeit einer Forschungsgruppe hat nachgewiesen, dass die ihm zugeschriebenen Texte nicht auf Dionysios zurückgehen. Lange Zeit wurde der angebliche Verfasser von neuplatonischen Schriften (→ Neuplatoniker), die angeblich im 6. Jh. auftauchten und ihn zum Heiligen der Kirche machten, mit dem von Paulus auf dem Areopag bekehrten Ratsherrn gleichgesetzt. Die Forscher fanden indes in akribischer Arbeit heraus, dass Dionysios’ Texte von einem Abt Hilduin um 830 „zur größeren Ehre seines Klosters“ geschrieben wurden. Er fixierte damit eine Legende von einzigartiger Wirkung. Der Theologe Kurt Flasch schreibt dazu:
„Die Schriften des Dionysios bilden ein relativ einheitliches Chorus, zusammengehalten von einer formelreich-geheimnisvollen Diktion und von dem Versuch einer Philosophie des Christentums. Diese Philosophie läuft darauf hinaus, alles Irdische als Bild des Unbildlichen zu sehen und zuletzt jeden positiven Inhalt und jede bejahende Aussage abzustreifen. Sie leitet an, durch Nichterkennen zu erkennen – den ‚überseienden Strahl des göttlichen Dunkels’ …“ (Kurt Flasch 1992, FAZ v. 8. 2. Rezension zum Buch von Suchla, Beate et.al. 1991)
Die Schriften zeigten sich als Adaption der Philosophie des nichtchristlichen Denkers Proklos an Vorstellungen und Lebensformen des östlichen Christentums, besonders syrischer Zirkel in Byzanz.
„Es war kein Zufall, dass Hilduin den Heiligen mit den → Engeln in Verbindung brachte. Denn außer den Mönchen von St. Denis (der Kirche auf Montmartre in Paris) ist ihm niemand so zu Dank verpflichtet wie die Engel. Er hat sie als erster zu reinen Geistern erhoben – bei Augustinus besaßen sie noch einen Körper, freilich einen von besonderer Feinheit –, und er hat sie als erster in eine übersichtliche Reihung gebracht. Seitdem gibt es, bis hin zu Rilke, den ‚Engel der Ordnungen‘. Genau genommen teilte Dionysios die unübersehbaren Heerscharen ein in drei Ränge mit je drei Ordnungen. Seitdem gibt es die ‚Hierarchie’.“ (Kurt Flasch 1992, FAZ)
Der Begriff wanderte nicht nur durch die Kirchengeschichte, sondern wurde auch von der neuzeitlichen → Theosophie aufgenommen, die von einer „Hierarchie der Meister“ spricht. Die Theosophen übernahmen übrigens auch die gnostische Vorstellung der Aufeinanderfolge der Generationen, durch die sich die Seele im Menschen nach und nach vervollkommnet (was in eine Rassentheorie mündete).
Die „Mystische Theologie“ des Dionysios hebt wie die → Gnosis die Andersartigkeit Gottes hervor und stellt ihn jenseits des Guten und des Seins. Dieser Gott wird im „lichten Dunkel“ geehrt, einfach und unwandelbar bleibt er im Schweigen verborgen. Der Mensch kann sich mit ihm vereinen, indem er sich von allen Bildern, Wörtern und Begriffen löst. Gott wird erkannt durch Nichterkennen. Einswerden heißt verstummen.
Die Philosophie des Pseudo-Dionysios beeinflusste das ganze christliche Mittelalter und Generationen von Theologen und Philosophen.
„Im 13. Jahrhundert kamen Aristoteles und die arabischen Philosophen auf, und in diese so andersgeartete Welt wirkte Dionysios als Korrektur und Anreiz. Gerade hatte man sich den Aristoteles und seine arabischen Erklärer angeeignet, da ereignete sich auch eine Renaissance des Dionysios und Proklos. Dies löste eine dramatische Entwicklung aus. Das mittelalterliche Denken wurde eine faszinierende Szenenfolge mit dem Thema: die Vernunft und ihre Grenzen. Wie sollte man es denken: das Unbestimmbare als der Grund alles Bestimmten? Die wichtigsten Namen treten in diesem Schauspiel auf: Robert Grosseste, Albertus Magnus, Thomas von Aquino, Meister → Eckehart, Berthold von Moosburg, Nikolaus von → Kues, Ambrogio Traversari und Marsilio Ficino.“ (Kurt Flasch 1992)