In diesem persönlichen Essay beschreibt die Autorin Ihre Gedanken zum Thema Unsterblichkeit und Tod. Hat sie sich bisher eher theoretisch damit beschäftigt, wird für sie das Thema plötzlich intensiv und aktuell, als einer ihrer besten Freunde im Sterben liegt.
Von Ayten Sürgün
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Die Unsterblichkeit als Rettung gegen die tickende Zeitbombe Tod: Ein Wunsch, der wohl auch den immensen Erfolg von unsterblichen Vampiren auf der Leinwand erklärt. Die tiefe Sehnsucht nach dem ewigen Leben, ohne Zeitdruck alles auskosten. Ohne den Alterungsprozess das Leben genießen.
Ich bin keine Verfechterin der begrenzten Dauer, die unser Leben umspannt. Unter Druck kann ich mich nicht entfalten. Sätze wie: „Lebe im Augenblick, nutze den Tag, lebe bewusst, jeder Tag ist ein Geschenk, mache dir den Tod stets bewusst, befasse dich mit dem Unvermeidlichen, wir alle müssen irgendwann gehen“, helfen mir überhaupt nicht. Ganz im Gegenteil sorgen diese Weisheiten eher dafür, dass mir die Bedeutung des Lebens abhanden kommt. Gehetzt von nicht tot Sein, werde ich immer tiefer in die Materie eintauchen, handlungsunfähig. Paralysiert starre ich in meine imaginäre Vita und stelle die Bedeutungslosigkeit allen irdischen Bemühens fest. Lächerlich und profan erscheinen alle Absichten, die unserem Lebensplan dienen sollen.
Die Geburt ist inzwischen ein genauestens wissenschaftlich untersuchter Vorgang. Doch was beim Enden des Lebens mit dem Körper und der Psyche geschieht, ist bei weitem nicht so erforscht. Mitunter weil der Beginn der Sterbeprozedur nicht eindeutig festgelegt werden kann.
Der Biologe definiert das Sterben in erbarmungsloser Präzision: Hirnaktivität lässt nach, Atmung wird flacher, das Sehvermögen verschlechtert sich zunehmend, das Hörvermögen funktioniert nur noch partiell, die Sehfähigkeit geht restlos verloren. Tritt dann der Herzstillstand ein, folgt unmittelbar, innerhalb weniger Minuten, der Hirntod und anschließend beginnt die Zersetzung des Körpers. Biologisch gesehen ist das Sterben der Verlust von immer mehr Organfunktionen. Der Körper als Kunstwerk aus Dominosteinen erschaffen, findet seinen Umsturz in der letzten Stunde.
Nach und Nach.
Sofort macht sich bei mir ein mulmiges Gefühl breit. Ich fühle mich als Lebensreisende. Als würde ich in einer langsam verfaulenden Hülle wohnen. Ich. Wer bin ich? Bin ich weg, wenn ich sterbe? Stirbt auch meine Seele? Habe ich überhaupt eine Seele?
Im Laufe der Geschichte haben sich Menschen aller Kulturkreise Gedanken gemacht, wie es nach dem Tode weitergehen könnte. Fünf Weltreligionen, um die inzwischen kontroverse bewaffnete Gruppierungen ein Blutvergießen zelebrieren, haben eine gemeinsame Basis. Sie empfinden den Endzustand als Erlösung. Wo all das weltliche Leiden aufhört. Ironie par excellence!
Während im Hinduismus das Ende als der Anfang des nächsten Lebens gesehen wird und man daher immer auf sein Karma (Taten) achten sollte, wird im Buddhismus an das „endgültige Nirvana“ als die Erlösung geglaubt. Im Judentum spielt das „ewige Leben“ eine zentrale Rolle. Das Leben vergeht nicht mit dem Tod, sondern wird beim dem Erschaffer weitergeführt. Die Chinesen glauben an eine obere Welt, zu der die „Geistesseele“, die dann zum „Geist“ geworden ist, aufsteigt. Im Islam wird von der „Güte und Barmherzigkeit Allahs“ erzählt, der seine Gläubigen in die „Gärten der Wonne“, in denen nicht älter werdende „Paradiesmädchen“ leben, aufnimmt.
Im Christentum ist die Vorstellung über den Himmel die Vollendung des Lebens. Im Himmel erhält jeder durch Gottes Gnade seinen „Lohn“. Auch wenn das dann unterschiedliche Grade der himmlischen Seligkeit bedeutet, werden auf ihre Weise alle im Frieden sein.
Und die Atheisten? Sie glauben an das Nichts. Aus voller Überzeugung. Gläubige Nichtgläubige sozusagen.
Jugend bewahrt uns vor dem Vergehen, nachzudenken. Essentielle Themen sind in diesen erlesenen Kreis der Faltenfreiheit ausgeschlossen. Jedenfalls an der Oberfläche. Denn wie die biologische Uhr einer Frau immer lauter tickt, so wird mit der Geburt neben allen wichtigen Organen der Mensch mit einem Sprengkörper ausgestattet, dass ihn im Laufe seines Lebens in eine immer größer werdende Panik versetzt. Die Feinsinnigen unter uns bereitet dieser explosive Zustand großen Kummer. Allerspätestens bis der Tod uns selber betrifft. Die lebensbedrohliche Krankheit oder der Tod der eigenen Eltern, naher Angehöriger, Bekannter oder Nachbarn zetteln erst das Nachdenken über das letzte Stündchen an. Der Stein kommt ins rollen und macht uns die Hölle heiß um uns das Draufgängertum auszutreiben. Sozusagen als Vorführeffekt.
So auch bei mir. Mein Freund Peter S., Jahrgang 1939, ist kürzlich, notgedrungen in ein Pflegeheim gezogen. Seine Wohnung mit all den Büchern, CDs und Fotografien, die subjektiv seine Individualität preisgaben, wurde ohne weiteres gekündigt. Von seiner Tochter, die seitdem die cart blanche gereicht bekommen hat. Die Zeugnisse seines Lebens sind entsorgt und übrig ist ein kleines Zimmer mit Habseligkeiten. Das letzte Hemd hat keine Taschen. Wohl daher das gezwungene Abwerfen von Ballast.
„Hast du Angst?“, frage ich unbeholfen. „Der Tod ist etwas Natürliches meine Liebe. Es gehört zum Leben dazu.“ Typische Peterantwort. Er ist ein Professor der Lebensgestaltung. Damals, als ich ihn vor 15 Jahren im Eiscafé kennenlernte, dümpelte ich zwischen Halbwissen und Rebellion vor mich hin. Alle Glaubensansätze meiner Eltern in Frage stellend, drohte ich zu jener Zeit in einem luftleeren Raum zu ersticken. Zwischen Schuldgefühlen und Wissensdurst, gab mir Peter eine geistige Heimat. Mit seinem Wissen über die Welt, die Menschen, die Gebräuche, die Religionen über das wie und warum. Intuition und die Gabe der Empathie beflügelten seine Schleifmethoden.
Auf der ersten Postkarte an mich war die Zeichnung einer jungen Frau, die auf dem Wüstensand schlief. Auf der Rückseite stand, „Meine Liebe, Zeit aufzuwachen!“ Daraufhin folgten noch viele verborgene Botschaften, die mich mit dem Existieren vertraut machen sollten.
„Ich bin hier in einem aktiven Sterbeprozess, meine Liebe.“ Im Gegensatz zu der Masse gehört Peter zu denen, die sich zeitlebens mit Leben und Tod auseinandergesetzt haben. Ein äußerst spiritueller Zeitgenosse, der mich da aus seinem Bett in dem Pflegeheim beguckt. Schläuche, die aus einem Beatmungsgerät kommen, verleihen Peter einen sterbenskranken Anstrich. Abgemagert, fast durchsichtig bewegt er seine knochige, zittrige Hand, um mich auf das dicke schwarze Buch neben sich auf einem Basthocker, aufmerksam zu machen. Ich bin 34 Jahre alt, habe zwei Kinder und bin daher lückenlos in der Tretmühle des Alltags gefangen. Ausser jetzt.
Die Zeit scheint, nicht nur wegen den altmodischen Möbeln stehengeblieben zu sein. An solchen Orten scheint der Tod sich eingenistet zu haben. Ein sicheres Geschäft sozusagen. Draußen simulieren wir das Leben. Kolossal banal leuchten all die scheinbar wichtigen Aufgaben des Alltages im Rampenlicht der letzten Stunden, Tagen oder Monaten.
Manchmal in meinen masochistischen Momenten spiele ich das Thema „tödliche Diagnose“ durch. Ich würde mich wie ein Alien fühlen, weil ich wüsste, dass es schon sehr bald zu Ende gehen würde. Absurd. Würde ich mich mit 70, aber ohne diese Diagnose auch so fühlen, oder könnte ich den Tod weiterhin als fern ignorieren?
„Nimm ruhig. Das ist ein Album von meiner Balireise.“ Als ich die erste Seite aufklappe, fällt mir ein Zeitungsartikel aus der „Zeit“ vom 02. Februar 1996 in den Schoß. Er handelt von der mystischen Insel mit all ihren Schreckgespenstern. Auf der nächsten Seite schaut mich Peter an. Beinahe hätte ich ihn als Fremden abgetan. Sein fülliges Gesicht ließ den Peter in diesem Zimmer inkognito erscheinen. Vergänglichkeit als Synonym für den Pfad zum Sarg. Die Grabesstille umhüllt das einzig laute Blättern der Seiten. Immer wieder zwischen ein paar Bildern schaue ich zu dem ausgemergelten Körper auf und versuche amateurhaft den Seelenschmerz über das Stadium des noch am Leben Seins vor ihm zu maskieren. Unter Gleichmut und Freundlichkeit. Wohlwissend, dass er meine Darbietung durchschaut.
Könnte wir im Angesicht dieser Knechtschaft nicht drei Kreuze machen, wenn es gewiss wäre, für immer zu Leben? Ohne zu altern. Gesund und munter das Leben feiern. Keine Imagination mehr über das „Leben danach“. Keine Erdichtung von Ammenmärchen zur Beruhigung vor dem Unbekannten.
Stattdessen immer im Scheinwerfer, immer bereit zu spielen. Die Rolle des Lebens. Fortdauernd präsent zu sein. Aber was anfangen mit der irdischen Ewigkeit? Eine unerschöpflichen Leere ohne Finale. Eine düstere Vision. Oder eine andere Utopie. Er, Sie, Es oder Nichts hätten uns vor der Geburt die Spritze des Nichtvergessens verabreicht und wir wären im Bilde. Wären Eingeweiht über das warum, weshalb, wie und allen voran wohin wir gehen. Das wäre nur sportlich, seine Schöpfung aufgeklärt ins Leben zu entlassen.
Jetzt zur tatsächlichen Lage: Wir wissen gar nichts! Können nur mutmaßen, müssen blind vertrauen, uns auf das Unvermeidliche vorbereiten, gefasst dem Tod ins Auge schauen. Wenn man das mal nüchtern betrachtet und Vergleiche zieht, kommt einem doch ein gehässiger Gedanke: Wir sind dem Lieben Gott egal. So sieht die Realität unserer Existenz aus.
Und Peter? Nun der bedankt sich für die Taschentücher und die Magnesium Brausetabletten. „ Die könnten mir bis zu meinem Tod reichen.“ Es sind drei Schachteln. Schwarzer Humor? Nein, Peter. Hinter der Fassade an Gelassenheit kann man die Hochspannung wittern.
Neugier ist ein gute Kraftquelle gegen die Todesangst. Denn wer weiß, vielleicht kommen wir wieder. Vielleicht bleiben wir dort. Vielleicht sind wir im Nichtsein erlöst. Der Gedanke, dass wir auch nicht wissen, wo wir vor unsere Geburt waren, oder was wir waren, oder ob wir überhaupt waren, beruhigt mich. Die Zeit vor der Geburt ist wie Todsein. Wenn das funktioniert hat, müsste man sich an das Heimgehen auch gewöhnen können.
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Ayten Sürgün geboren 1978 in Stuttgart ist als freie Texterin, Journalistin und Bloggerin tätig. Die Vielfalt, die durch die Migrationsbewegung ihrer lasischen Familie, einem südkaukasischem Bergvolk im Osten der Türkei entstanden ist, nutzt sie als Inspirationsquelle für Romane und Essays.
http://aytensuerguensblog.wordpress.com
1 Kommentar
Meine Liebe, ich bin 30 Jahre älter, habe mir auch immer wieder diese Fragen gestellt..Heute habe ich,-tatsächlich mal einen Ruhetag, weil Kinder und Enkelkinder ausgeflogen,- ich mich mit Dingen ganz ohne Stress beschäftigen konnte, es fiel mir ein Buch in die Hand, dass ich( damals sehr aufgerüttelt wg. des 11.Septembers 2001 )gekauft hatte mit dem Titel „letzte Tanz der Tyrannen“ heute habe ich aus Zeitgründen nur das Ende gelesen…Und ich habe mir die Rosinen ausgepickt: Vorrausgesetzt wir überwinden unser verändertes Ego (für mein Begiff den reinen körperlichen Verstand) der Wächter in uns ist…damit wir nicht erkennen können, dass wir“ Alles was ist „,-also göttliche Wesen sind, könnten wir durch das siebte Siegel öffnen und dann würden keine Todeshormone mehr aus der Thymusdrüse fließen…Es hört sich alles sehr interessant un des geht um das Superbewusstsein, vorher müssen wir noch über einige irdischen Katastrophen mit Hunger und Durst überwinden,…Das Buch ist von 1990 und gechannelt von Judi Pope Koten…Ich habe mich damit beschäftigt, weil ich ansonsten auch “ spirituell unterwegs bin“ Und es auch mit Deiner Frage nach dem Sinn des Lebens zusammenpasst… Es gibt neuerdings seit 2013 die These des harmonischen Wandels in das neue Zeitalter… Einfach nur ein paar Anregungen !
Sei lieb gegrüsst von Marlen