Von der Mystik der Untiefe handelt dieser dritte und abschließende Teil der Essay-Reihe. Welche Geschichte hat der „Abgrund der Seele“ und was hat er mit dem Meeresboden zu tun? Auch hierüber philosophiert die Autorin in folgendem Text.
von Claudia S. Dorchain
Die Untiefen des Ozeans – sie beleben seit alter Zeit unsere Fantasie, sie ängstigen auch die Mutigsten unter uns, die ein tief wurzelndes Unbehagen angesichts dieser Urgewalt verspüren, das auch den Kulturmenschen betroffen macht ähnlich wie vor Jahrtausenden noch unseren archaischen Vorfahren, der die ungestüme Macht der See durch Magie zu bannen versuchte. Die Risiken der unauslotbaren Tiefe des Meeres sind seit alter Zeit Sinnbild für das Unergründliche schlechthin, für das Uferlose im Kosmos, in dem der Mensch rettungslos untergeht, und auch für die anonyme Gewalt an sich, deren brachiales Hereinbrechen alle menschliche Technik als die Errungenschaft eines nur vermeintlichen Siegs über die Natur in einem bloßen Augenblick zunichtemachen kann.
In unserer medialen Kultur werden Ängste wie diese filmisch inszeniert; man gibt der Angst ein Bild oder eine Bilderfolge, um sie greifbar zu machen und somit ein Stück weit aus dem vagen Dunkel des Unterbewussten zu rücken ins grelle Licht der Scheinwerfer einer Studioproduktion. Es gibt zwei monumentale Filmwerke, die diese bis in die Frühzeit der Zivilisation reichende, gefährliche Faszination des Menschen für die unermessliche See in den Mittelpunkt rücken: das neunfach für den Oscar nominierte Filmdrama „Titanic“ von 1997, das den Untergang des luxuriösen Ozeandampfers gleichen Namens aus dem Jahr 1912 in berückend eleganten und doch fatalistisch-verlorenen Bildern ins Bewusstsein drängt, und der Filmklassiker „Das Boot“ aus dem Jahr 1981, der unter der Regie von Wolfgang Petersen mit bedrückenden Motiven den hoffnungslosen letzten Kampf einer deutschen U-Boot-Mannschaft im U-Boot-Krieg aus dem Jahr 1941 beschreibt.
Filme vom Untergang in den Untiefen des Meeres – gleich, ob sie sozialkritisch sind wie „Titanic“ oder ein militärisches Desaster zeigen wie „Das Boot“ – sind stets auch eins: Sinnbilder für die menschlich-allzumenschliche Hybris, mit Mitteln der technischen Vernunft gegen die Urgewalten der Natur anzukämpfen, wie sie im abgründigen Ozean verkörpert sind. Unser Ich als die winzige „Nussschale der Individuation“, wie Friedrich Nietzsche einmal sagte, sei stets von den wild brandenden Wogen des Anderen, des Fremden, des Nicht-Ichs umgeben, und oft genug vom Untergang bedroht. Die Dramen, die sich tatsächlich an Bord der „Titanic“ oder im Kessel des deutschen U-Boots abgespielt haben mögen, berühren die gesamte Bandbreite des menschlichen Seins: vom Versagen der Technik über die Frage nach dem Sinn der eigenen Individualität bis hin zu einer tieferen spirituellen Dimension, vielmehr der bangen Hoffnung, dass unser oft vergängliches Tun doch nicht vergeblich sei, dass Menschenleben nicht einfach sinnlos geopfert würden in einen Strom der Zerstörung, der katastrophenhaft über jeden von uns hereinbrechen kann.
Es ist genau diese unermessliche Bandbreite der Gefühle und Reflexionen, die uns angesichts der See-Katastrophen überkommen, welche die Abgründe des Meeres schon in der Antike zu einem Sinnbild für die nicht auslotbare Tiefe der menschlichen Seele gemacht haben. Das griechische Altertum kennt den Begriff des „Abyssos“ als Sinnbild für das Abgründige, welches sowohl naturhaft in den Untiefen des Meeres lauert, um alle Errungenschaften des Einzelnen und ganzer Kulturen zu verschlingen – dem dräuenden Chaos gleich, welches in der Mythologie als „gähnender Schlund“ das Weltall zu zerstören und neu zu schaffen vermag – und auch für die Unbestimmbarkeit der menschliche Seele, für jene Geheimnisse der Psyche, die unauslotbar, unverständlich, schwer mitteilbar, mit einem Wort: abgründig sind.
Die Abgründigkeit der menschlichen Seele war auch ein Zentralthema christlicher Mystiker im Mittelalter, die in ihrem Bemühen, antike Philosophie mit der biblischen Heilslehre in Verbindung zu bringen, alte Motive wiederaufnahmen und mit einem neuen spirituellen Gehalt füllten; dieses Vorgehen nannte man Konkordanz, das Streben nach Vereinbarkeit griechischer und römischer Philosophen mit der Lehre von Jesus Christus. Wir finden hier, in den Werken der Mystiker aus dem 13. und 14. Jahrhundert, einen starken Wiederaufgriff der antiken Redeweise vom „Abyss“, vom seelischen Abgrund und der Unauslotbarkeit des menschlichen Seins, als einer Metapher für jenen gedachten tiefsten Punkt der Seele, in dem Gott selbst wohne und erfahrbar bliebe. Der sogenannte Abgrund der Psyche ist hier, in der malerisch-poetischen Bildsprache der christlichen Mystik, nichts Schauerliches mehr, denn er zerstört nicht – oder doch? In der menschlichen Seele, glaubten Theologen (nicht nur) des Mittelalter, beziehungsweise in ihrem „Abgrund“ als dem tiefsten und rein verstandesgemäß nicht mehr erreichbaren Punkt, könnten Mensch und Gott, Ich und Universum in Eins zusammenfallen. Zerstört wird bei diesem mystischen Prozess das Ich, sofern es sich als Individuum und somit als endlich, sterblich und begrenzt begreift; es verfällt jedoch nicht dem Schlund des Chaos, wie der antike Mensch glaubte, sondern könne sich – mit dem christlichen Glauben – in einem größeren Zusammenhang mit Gott geborgen fühlen. Der Abgrund, antik als katastrophale Erfahrung des Fremden, des riskanten Nicht-Ichs an sich, wird im christlichen Mittelalter zu einer bildhaften Erfahrungsdimension Gottes im Leben der Menschen, und nimmt solcherart eine zentrale Stellung im Reden über die Psyche und ihre Möglichkeiten ein. Die Redeweise vom Abgrund in der Mystik ist aus dem europäischen Geistesleben des Mittelalters nicht wegzudenken und leitet über zu (post-)modernen Studien über die Chancen und Grenzen des Ichs, mit einem späten Nachhall bei Sigmund Freud, der das tiefe Unbehagen am Unauslotbar-Abgründigen der menschlichen Seele derart formulierte: „Das Ich ist nicht Herr im eigenen Haus.“ Wer Hausherr ist, mag Wissenschaft oder Glaube bestimmen.
Ein Abgrund kann generell aus zwei Perspektiven betrachtet werden: von Unten, gleichsam auf dem Boden des Abgrunds stehend und nach Oben blickend, und von Oben, hinabschauend in Schwindel erregende Tiefen. Beide Blickrichtungen mögen erschüttern und uns die Kleinheit der eigenen Existenz deutlich zu Bewusstsein bringen, doch es ist unmöglich, beide Perspektiven zugleich einzunehmen; man muss sich entscheiden. Diese Ambivalenz der Perspektive mag es gewesen sein, die die Notion des Abgründigen in der Mystik so vielschichtig und beliebt gemacht hat, um Worte zu finden für etwas, was sich naturgemäß kaum in Worte fassen lässt: das spirituelle Erleben des Menschen, tief wie ein Abgrund und gefährlich wie das Meer. Die Mystik vom Abgrund ist eine Frauenmystik, in der Namen wie Mechthild von Magdeburg, Hadewijch von Brabant oder Beatrijs van Nazareth aufleuchten. Es ist bis heute ungeklärt bei Historikern, Philosophen und Gender-Forschern, warum hauptsächlich Frauen die Redeweise vom Abgrund der Seele als bevorzugte Metapher für den imaginären Ort der tiefsten Erkenntnis wählen. Tatsächlich suchten die prominenten Männer, deren mystisches Werk uns überliefert ist – Personen wie Nikolaus von Kues und auch Johannes vom Kreuz – Jahrhunderte lang nicht den sogenannten tiefen Abgrund der Seele, sondern im Gegenteil die „Seelenspitze“. Nicht das Tiefste, sondern das Höchste der Seele sei auch die Möglichkeit zur Erkenntnis des Höchsten, argumentieren gern – nicht ohne eine gewisse Plausibilität seitens der Logik – die gelehrten Männer unter den mittelalterlichen Theologen.
Doch warum hat sich die plakativ-poetische Redeweise vom Abgrund der Seele hartnäckig gehalten, und warum, wenn man das überhaupt fragen darf, ist sie offenbar eine Spezialdomäne jener begabten Frauen, die Mystik betrieben haben? Es gibt keine einfache Antwort auf diese Frage. Wir können lediglich feststellen, dass die Mehrzahl der mittelalterlichen Mystiker, die vom nicht auslotbaren „Abgrund“ als tiefster Erkenntnisinstanz reden, weiblich sind, die Verfechter einer „Seelenspitze“ des erkennenden Intellekts jedoch mehrheitlich männlich. Vielleicht entsprach die Verbildlichung des spirituellen Erkenntnisprozesses hin auf einen ozeantiefen Ursprung des Seins eher dem natürlich sensiblen Empfinden jener Frauen, die sich als Wortführerinnen etwa der flämischen Mystik profilieren konnten. Womöglich hat es auch eine bedeutende Rolle gespielt, dass die Mystikerinnen des Abgrunds, wie wir sie zugespitzt nennen mögen, künstlerisch begabt waren und in der mystischen Versenkung Inspiration für ihre wunderbare Dichtung und Musik fanden, während die männlichen Verfechter einer Erkenntnis der Seelenspitze eher intellektuell als künstlerisch, eher logisch als ästhetisierend orientiert waren. Ob Abgrund oder Seelenspitze – es ist jedoch stets dasselbe Phänomen, nur aus zwei Perspektiven betrachtet, entweder von der Entfremdung mit dem eigenen Ich hin zu seiner höchsten Entfaltung im Göttlichen (Mystik des Abgrunds), oder vom höchsten Potential der Seele ausgehend hin zum Absoluten (Mystik der Seelenspitze). Die mystische Rede vom Abgrund, jenem Bild, das seit dem Altertum Ur-Ängste weckt, ist Wahrnehmungsprogramm, Erkenntnisformel und Kunst. Doch die größte Kunst ist es, zu überleben. Im Abgrund.
Buch zum Thema:
Claudia Altmeyer, Claudia Simone Dorchain: „Grund und Erkennen in den deutschen Predigten von Meister Eckhart“
Verlag: Königshausen u. Neumann, 2005
Umfang: 304 Seiten
Preis: 45,-
ISBN: 978-3826029783
Hier können Sie das Buch versandkostenfrei bestellen
Weiteres Buch der Autorin:
Claudia Simone Dorchain „Die Gewalt des Heiligen. Legitimation souveräner Macht“
Verlag: Königshausen & Neumann 2012
Umfang: Kartoniert, 490 Seiten
Preis: 68,00€
ISBN: 978-3-8260-4806-7
Über Dr. Claudia Simone Dorchain, M.A.:
Philosophin und Psychologin, Promotion über Meister Eckharts Erkenntnislehre, Postdoc-Studie über Legitimationen von Gewalt, arbeitet in eigener philosophischer Praxis und in der Fortbildung für Rechtsberufe und Mediatoren, Beiträge für öffentlich-rechtlichen Rundfunk in Bildungsformaten über Philosophie, Religion und Ethik