Der zweite Essay aus unserer philosophischen Reihe behandelt das Mysterium eines alten Alleskönners, dem IGing. Den Meisten dürfte es bereits als Orakel bekannt sein. Seinen Ursprung, seine Bedeutung und was es noch zu bieten hat erfahren wir hier von der Psychologin und Philosophin Claudia Simone Dorchain.
von Claudia S. Dorchain
Worte für die Wolken. Begriffe für die Schönheit des Seienden, die uns unvermittelt und fast wie schmerzhaft zufällt, wenn wir einmal von der uns umgebenden Alltagshektik plötzlich innehalten, aufsehen und in den kühlen Winterhimmel blicken, der sein türkishelles Blau überraschend klar über uns entfaltet. Wir sind, wo wir auch sind, von Schönheit umgeben, von einer Schönheit, die nicht das Dekorative ist, als welches sie uns fassbar und konsumierbar gemacht wird von denen, die daran verdienen, sondern von einer viel tieferen Ästhetik des Seienden, die eine unfassbare Harmonie ausstrahlt, die uns im Inneren berührt. Das Schöne, das uns belehrt – die Natur, die uns in Harmonie mit uns selbst bringen kann – das sind keine zeitgeistigen Floskeln, vom Diktat des kaufmännischen Trends in ein passendes „wording“ gepresst, es sind philosophische Sinnformeln aus dem Kanon einer uralten Weisheitslehre, die seit einigen Jahrzehnten auch in Europa entdeckt wird. Nirgendwo ist der Zusammenhang zwischen Himmel und Erde, Makrokosmos und Mikrokosmos so überaus poetisch und treffend beschrieben worden wie im chinesischen „I GING“. Das I GING findet Worte für die Wolken:
„Was vom Himmel stammt, fühlt sich verwandt mit dem, was droben ist. Was von der Erde stammt, fühlt sich verwandt mit dem, was drunten ist. Jedes folgt seiner Art.“
Die innere Verwandtschaft dessen, was vom Himmel stammt, mit sich selbst oder die Identität dessen, was von der Erde stammt, mit seinesgleichen – das ist ein tiefes Seinsgleichnis für den Menschen, der, zwischen Himmel und Erde stehend, sich in einem Kosmos scheinbar widerstreitender Kräfte eingespannt fühlt und dennoch Harmonie verspüren kann, sofern er diese wirkenden Kräfte versteht. Doch was ist das I GING eigentlich, welches diese dichterischen und unverkennbar auch philosophischen Gedanken über die „condition humaine“ formuliert?
Das chinesische I GING ist in erster Linie ein großer Klassiker der sogenannten Weisheitslehren der Welt, zu denen zum Beispiel auch die indischen Upanischaden, das ägyptische Totenbuch, das sogenannte Dhammapada des Buddha, die Texte mancher christlicher Mystiker wie Bonaventura und Meister Eckhart und die Bhagavadgita gehören. Das I GING in seiner Urform entstand vermutlich zwischen dem 10. und 2. Jahrhundert vor Christus in China, wobei die ersten philosophischen Kommentare zu diesem Werk im 2. vorchristlichen Jahrhundert beginnen, was auf eine frühe Verfassung der Originale hindeutet. Es ist zugleich ein kanonischer, also heiliger Text des Konfuzianismus, und als solcher wurde er dem legenden Kaiser Fu Hsi zugeschrieben, welcher um 2.800 vor Christus gelebt haben soll – ein Mythos, der nicht mehr zu verifizieren ist, aber der bekannten Legendenbildung um sogenannte heilige Texte entspricht, die man gern berühmten Verfassern zuschreibt, auch wenn die tatsächliche Autorenschaft sich im Dunkel der Geschichte verliert. Das I GING wurde jedoch nicht nur wegen seiner Philosophie und seiner vermutlich staatstragenden Gedanken über das beste Zusammenspiel von Familie und Kaisertum geschätzt, welche im Konfuzianismus höchstes Gewicht hatten, sondern auch als Orakel und als Psychogramm. Insbesondere auch in seiner letztgenannten Funktion, als Hilfe für psychotherapeutische Arbeiten, wurde es im 20. Jahrhundert vom Schweizer Tiefenpsychologen Carl Gustav Jung wiederentdeckt, der sich mit dem Begriff der Zeitlichkeit und der sogenannten Synchronizität auseinandersetzte. Wie aber kann ein einziges Werk so viele Facetten beinhalten – Weisheitsklassiker sein, was bereits genug wäre, und zugleich Orakel und Psychogramm?
„Mit unendlichem Gespür vernimmt die Seele Töne, die das Ohr nicht hört,
und sieht, was den Augen verborgen bleibt, durch alle Zeiten, Räume hin und über sie hinaus. Grenzenlos, ursprünglich ist ihr Wissen – ihre Erinnerung.“
Das I GING geht von einem erhabenen Grundgedanken aus: alles, was „im Himmel“ geschieht, hat seine unmittelbare Entsprechung „auf der Erde“. Der Himmel ist hierbei Synonym für den natürlichen Himmel als Symbol des Makrokosmos, aber auch für das geistige Leben des Menschen; die Erde ist Synonym für die natürliche Erde als Repräsentanz unseres Grundes, auf dem wir stehen und den wir buchstäblich kultivieren, den Mikrokosmos, sowie auch für das materielle Leben des Menschen, zu dem, neben seinen Finanzen, auch Körper und Seelenleben gehören. Die Wechselwirkungen zwischen „Himmel“ und „Erde“, Oben und Unten, Geist und Materie in unendlich wandelbarer Verquickung, sind das Kernstück des I GING, welches übersetzt „Das Buch der Wandlungen“ bedeutet. Unter der Wandlung sei hier das stetige, unverkennbare Wechselspiel zwischen dem Wollen und Wissen des Menschen und dessen tatsächlicher Manifestation gemeint, und als Orakel kann das I GING deshalb fungieren, weil es davon ausgeht, dass die Zukunft bereits in der Gegenwart angelegt ist wie die vollständig entwickelte Pflanze im Samenkorn. Das Samenkorn der Zukunft sei hier der gegenwärtige Impuls, der Gedanke des Moments, der seine Strahl- und Formkraft in die Zukunft projiziert; und diesen Erstimpuls des Werdenden zu erfassen, hieße, das Künftige richtig vorauszusagen, und es bedeutete zugleich, sich selbst als Erkennender besser verstehen zu lernen. Deshalb kann das I GING Weisheitslehre, Orakel und zugleich auch Psychogramm sein, da es der – für uns im Westen gerade erst wiederentdeckten – Wahrheit der Wissenschaftstheorie folgt, dass der Beobachter eines Systems niemals außerhalb dessen steht, sondern stets ein Teil des Beobachteten ist und sich insofern auch selbst analysiert, wenn er vermeint, nur das Andere zu erkennen. Und dieses Andere, das im Selbst auf rätselvolle Art konvergiert, ist sich selbst gleich und doch ungleich – es wandelt unaufhörlich seine Form, ohne dabei sein inneres Wesen zu verlieren:
„Der an sein Ende gelangte Erfolg ist an dem Punkt, wieder in Verfall zu geraten, wie die Erde eines Erdwalls in den Graben stürzt und dahin zurückfällt.“
Das philosophische „Buch der Wandlungen“ hat eine praktische Nutzanwendung, ohne dass es zur bloßen Funktion verflacht: es kann als spielerisches Orakel aufgefasst werden, wobei es auf persönliche Fragen zur eigenen Zukunft einen individuellen Rat zu geben vermag, der aber stets das Eigene mit dem Universellen verbindet. Jenes Orakelspiel, welches C.G. Jung so fasziniert hat, ist in China seit Jahrtausenden beliebt und besteht im Werfen von drei Münzen, deren Ergebnis man in Strichzeichnungen kodifiziert, bis sogenannte Hexagramme (Bilder aus sechs Schriftzeichen) entstehen, deren spezifische Deutung man dann wiederum im I GING nachlesen kann. Die Deutung ist hierbei stets ein Vers, der auf die gegenwärtige und zukünftige Situation passt, indem diese in symbolischer Form dargestellt und auch auf die psychologische Ebene eingegangen wird.
Auf die Frage eines Geschäftsmanns, ob ein neuer Vertragsabschluss erfolgreich sein wird, könnte beim Wurf der Münzen zum Beispiel das Hexagramm 54 des I GING entstehen, überschrieben als „Das heiratende Mädchen“, welches bedeutet, dass ein Vertrag in irgendeiner Form geschlossen wird, der nicht zwingend die Ehe betrifft, sondern konkrete Übereinkommen jeglicher Art. Das I GING wird hier Fragen stellen: ist der Vertrag auch richtig vorbereitet? Sind die Partner zuverlässig? Eine Liebende, die an das I GING die Frage richtet, ob ihr Liebster auch treu ist, könnte als Antwort Hexagramm 36 erhalten, „Die Verfinsterung des Lichts“, welche symbolisch bedeutet, dass der eigene Erkenntnisstand der Ratsuchenden noch nicht ausreicht, um mit der Komplexität des Anliegens umgehen zu können, und es wird Fragen stellen, wie diesem empfundenen Mangel an Licht begegnet werden kann durch das eigene Handeln.
Das I GING, weit davon entfernt, „nur“ Zukunftsdeutungen zu geben, umfasst die ganze Bandbreite menschlicher Empfindungen und Gedanken hin zu einer ganzheitlichen Sicht auf den Kosmos, in den der Fragende immer auch sinnstiftend eingebunden ist. Ein weiterer Grundgedanke des I GING ist zudem, dass ein Extrem sich an seinem Gipfelpunkt stets in das gegensätzliche Extrem umwandelt, dass also Erfolg und Misserfolg, Glück und Unglück nicht von langer Dauer sind, sondern sich vielmehr wechselseitig durchdringen wie Strömungen unterschiedlich temperierten Wassers – ein Sinnbild, welches oft in der Verbindung der polaren Gegensatzkräfte Yin und Yang gesehen wird, jedoch einen noch viel tieferen kosmischen Zusammenhang eröffnet, den wir hier nur streifen können. Jener zentrale Gedanke des I GING von den wandelbaren Erscheinungen des Seins und ihrer Vergänglichkeit (nicht Vergeblichkeit) ist zugleich auch emotional gesehen tröstend, und rückt daher das uralte chinesische „Buch der Wandlungen“ gleichsam in den Bereich des Seelsorgerischen:
„Jeder scheinbar unersetzliche Verlust offenbart am Ende eine heilende Kraft.“
Womöglich können wir gar nichts verlieren, sofern uns gewiss ist, dass wir den Himmel stets in uns tragen.
Zitate:
I GING, Übersetzung Richard Wilhelm (1924)
Deutsche Online-Ausgabe im Projekt Gutenberg
Quellenangabe: reuters@abc.de, created: 20120718
Buch zum Thema:
„Das I-Ging und Ihr Unterbewußtsein“ von Jorseph Murphy
Verlag: Ariston 2008
Umfang: Gebunden, 221 Seiten
Preis: 19,95€
ISBN: 978-3-7205-4040-7
Literatur der Autorin:
Claudia Simone Dorchain „Die Gewalt des Heiligen. Legitimation souveräner Macht“
Verlag: Königshausen & Neumann 2012
Umfang: Kartoniert, 490 Seiten
Preis: 68,00€
ISBN: 978-3-8260-4806-7
Über Dr. Claudia Simone Dorchain, M.A.:
Philosophin und Psychologin, Promotion über Meister Eckharts Erkenntnislehre, Postdoc-Studie über Legitimationen von Gewalt, arbeitet in eigener philosophischer Praxis und in der Fortbildung für Rechtsberufe und Mediatoren, Beiträge für öffentlich-rechtlichen Rundfunk in Bildungsformaten über Philosophie, Religion und Ethik