Der erste Teil unserer Reihe philosophischer Essays von der Philosophin Claudia Simone Dorchain deckt auf, wie eine missverständliche Übersetzung ins Deutsche den „Sinn“ zum „Weg“ machte.
von Claudia S. Dorchain
„Auch ein Weg von tausend Meilen beginnt mit dem ersten Schritt“. Kaum ein Satz aus dem berühmten chinesischen Weisheitsklassiker „Dao-de-Djing“, dem Kernstück der religiös-philosophischen Lebenslehre des Daoismus, zeitlos gültig übersetzt vom deutschen Missionar Richard Wilhelm in einer sprachlich und philosophisch einfühlsamen Sonderleistung aus dem Jahre 1918, ist im Westen so häufig zitiert – und zugleich so oft falsch verstanden worden. Wenig ist jedoch so brauchbar in der systematischen Philosophie von heute wie ein populäres Vorurteil, denn es vermag, zum Aufhänger der Forschung gemacht, in der schrittweisen Analyse seiner selbst zum tieferen Verständnis jener Denkprämissen beizutragen, die uns bewogen haben, zu jenem falschen Schluss zu gelangen.
Jenes Missverständnis um das Wesen des „Dao“, welches als Zentralbegriff des Daoismus für uns heute nur schwer erfassbar ist, eröffnet in exemplarisch plakativer Weiser die Kluft zwischen westlicher und östlicher Philosophie, die Spannung zwischen einem europäisch geprägten Seinsverständnis und dem Begriff der Gelassenheit, wie er aus chinesischen Quellen entsprang. Möchten wir uns also der Herausforderung stellen, jene innere Spannung zwischen zwei grundverschiedenen Kulturen der Erkenntnis auszuhalten und zu erforschen, so wartet ein wahrer Denkgenuss als Gewinn auf uns, der unser tagtägliches Leben in einer unscheinbaren, doch äußerst wirksamen Art und Weise bereichern kann.
Das Dao-de-Djing, ein stark von Mystizismen umranktes Lehrwerk aus den unruhigen Jahrhunderten vor Christi Geburt, welches dem legendären chinesischen Weisen Lao-Tse zugeschrieben wird, enthält 81 sehr kurze Kapitel, unterteilt in zwei Kategorien, wobei die erste sich dem sogenannten „Dao“ widmet, die zweite dem „De“. Richard Wilhelm hat diese im Chinesischen äußerst vielschichtigen und facettenreichen Begriffe mit den prägnanten deutschen Begriffen von „Sinn“ und „Leben“ übersetzt, so dass das Dao-de-Djing selbst auch als das „Buch vom Sinn und vom Leben“ übersetzt werden kann. Beliebter ist heute jedoch die Übersetzung des Buchtitels als „Buch vom Weg und von der Tugend“, wobei das „Dao“ als Zentralbegriff derart mit dem Begriff des „Wegs“ im deutschen Sprachverständnis gleichgesetzt wird. Diese populäre Verschiebung der Übersetzung von „Dao“ als „Sinn“ hin zu „Weg“ ist jedoch mehr als eine zufällige Veränderung in der Akzentuierung, sondern eröffnet einen ganz anderen, problematischen Denkhorizont, der das Eigentliche im chinesischen Original verzerrt und stattdessen grelle, ja blendende Schlaglichter auf das europäische Verständnis vom Sein eröffnet. Gilt uns heute die metaphorische Aussage vom langen Weg und seinem immanenten Beginn einerseits als die spruchreife Quintessenz jener Jahrtausende alten chinesischen Weisheitslehre über das Rätsel umwobene Dao, welches allen Dingen zuinnerst sein soll, so wird sie doch gegenwärtig auch wie eine Zauberformel von jenen Marketing betreibenden Kaufleuten gehandhabt, die sich dem zeitgeistigen Kult um die „Achtsamkeit“ (und deren kommerzialisierbaren Produkten und Dienstleistungen) verschrieben haben. Jene angeblich für den Daoismus so charakteristische Aussage hat zunächst einen erheblichen Fehler, der nicht nur erfahrenen Sinologen, sondern jedem aufmerksamen Leser sofort in irritierender Weise auffallen wird: sie befindet sich überhaupt nicht im Kanon des Dao-de-Djing, und stattdessen finden wir dort die weitaus realistischere Aussage: „Ein Weg von tausend Meilen beginnt unter deinen Füßen.“
Der Weg, der direkt unter den eigenen Füßen beginnt, im Kontrast zu dem Weg, der mit dem ersten Schritt startet, beinhaltet nicht nur einen beachtlichen Wechsel der Perspektive vom Selbstbezug zur Dynamisierung, sondern auch – und das ist weitaus essentieller – einen grundlegenden Wechsel im philosophischen Seinsverständnis. Der Weg, das ist im europäischen Denkhorizont seit Jahrtausenden in erster Linie ein zielhaft verstandener Prozess, welcher uns sicher von A nach B geleiten soll, womöglich mit einer optimierten Auffassung von unseren eigenen Fähigkeiten, Fertigkeiten und Erkenntnissen an dessen Ende. Der Weg, derart immer schon zielhaft und funktionell interpretiert und auf ein Äußeres hin gerichtet, welches zugleich eine psychologische Projektionsfläche unserer Wünsche rund um das stets verbesserbare Projekt Ich sein soll, stellt eine pragmatische Anwendung der Arbeit am Eigenen ebenso dar wie eine Gebrauchsanweisung für den Umgang mit der von uns ergriffenen und geprägten Umwelt und Mitwelt. Der Weg ist hier gleichsam Metapher für eine Aneignung von Welt durch den Menschen, zunächst denkerisch wie bei Bonaventura oder Hermann Hesse, die das geistige Leben als Stufenfolge von Erkenntnisschritten verstehen und den Weg als System von linear aufeinander folgenden Entwicklungen im Denken des Seins, dann jedoch auch praktisch-technisch in der Entwicklung von Strategien der Urbarmachung dessen, was buchstäblich vor uns liegt – Strategien, welche in ihrer letzten Konsequenz in der Technikfolgenabschätzung und ihren Risiken gipfeln. Am Ende des sogenannten Weges steht, zielhaft in das spezifisch europäische Verständnis von Weltaneignung durch den Menschen eingeprägt, die bange Frage nach den Grenzen des Machbaren: Was ist überhaupt noch erlaubt, welcher Mittel dürfen wir uns bedienen, um unsere Herrschaft über Umwelt und Mitwelt zu verwirklichen, und wo beginnt der Punkt, ab dem wir uns selbst – und auch kommende Generationen im Sinn einer Fernverantwortung von Hans Jonas – gefährden könnten mit unserem Expansionsdrang?
Betrachten wir das strittige Original des Dao-de-Djing mit seiner so unscheinbar tiefen Aussage, dass der längste Weg direkt vor unseren Füßen beginnt, so erfahren wir hier, im nuancierten Kontrast der sprachlichen Differenzierung, zunächst eine radikale Umkehr der Betrachtungsweise und eine fühlbare Entschleunigung. Es geht überhaupt nicht darum, den ersten Schritt zu machen oder gar irgendwo „anzukommen“ und auf dem Weg dahin möglichst vieles dem suchenden und unternehmerischen Menschen ähnlich zu machen, in prometheischer Art und Weise Schöpfer zu spielen und dem Seienden hierbei den stets problematischen Stempel des Eigenen aufzuprägen. Das chinesische Original, überaus treffend und kenntnisreich übersetzt von Wilhelm, möchte auf einen ganz anderen Sinnzusammenhang hinweisen, welcher, richtig verstanden, zugleich das im Westen so schwer fassbare Wesen des Daoismus ausmacht. Nicht eine zielhaft-lineare Vorstellung vom Sein, das angeblich fern liegt und unter Mühen errungen werden muss, ist Ursprung jener Äußerung, sondern ein zirkuläres Seins- und Zeitverständnis vom unendlichen kosmischen Entstehen und Vergehen, welches sogar zusammenfallen kann in einen einzigen Punkt des spontanen Gewahrseins des Moments, welcher die zeitlose Gelassenheit des Mystikers ausstrahlt. Jener Satz vom Weg, der unmittelbar unter unseren Füßen beginnt, möchte in Wahrheit aussagen, dass das Wesentliche schon längst da ist, dass wir also nicht suchend nach Antworten auf unsere Fragen umherirren müssen, ja auch, dass wir uns nicht einem Zwang zur Perfektion und zur stetigen Verbesserung unserer Individualität und unserer Mitwelt anheimgeben müssen, weil das Seiende schon in einer Ordnung ist, in die es nicht erst unter Anstrengungen des Menschen gebracht werden muss.
Das „Dao“, philosophisch richtig übersetzt als Sinn, durchdringt im Verständnis des Sagen umwobenen Weisheitslehrers Lao-Tse alle Dinge, ohne mit diesen identisch zu sein und in Eins zu koinzidieren, es ist gleichsam die schlafende Melodie des Seins, die vom Kundigen geweckt und mitempfunden werden kann, indem er sich ohne eigenes Wollen und Dazutun vertrauensvoll dem Fluss des Lebens anheimgibt. Nicht anzukommen, sondern im Gegenteil schon längst da zu sein ist die Quintessenz des Dao, und zugleich das Grundgefühl des Daoismus, welcher als philosophisch-religiöse Strömung des kulturelle Leben in China durch Jahrtausende hindurch geprägt hat, ohne sich Modernismen zu versperren. Denn die Grundaussage des Dao ist modern, ohne zeitgeistig zu sein, es ist die Lehre von der Fähigkeit des Menschen, das Nahe als Metapher für das Ferne zu begreifen und selbst der Punkt der Erkenntnis zu werden, in dem sich Seiendes begegnet, ohne sich in Spannungsgegensätzen aufzulösen. Das Dao ist jene „prästabilierte Harmonie“, von der Leibniz träumte, und die uns Heutigen gewöhnlich so fremd ist, ahnen wir doch überall Unvollkommenes und Verbesserungsbedürftiges, welches unseres forschenden Verstandes und unserer tatkräftigen Hand angeblich bedarf, welches korrigierend auf den Weg gebracht werden muss – hier, im punktuellen Erfahren des Seins, welches schon geordnet ist vor jedem Eingreifen des Menschen, mögen wir die Nische des Ausruhens vom lärmigen Getriebe der Perfektibilität finden, die so schwer zu finden ist, obgleich sie direkt vor uns liegt.
Literatur der Autorin:
Claudia Simone Dorchain „Die Gewalt des Heiligen. Legitimation souveräner Macht“
Verlag: Königshausen & Neumann 2012
Umfang: Kartoniert, 490 Seiten
Preis: 68,00€
ISBN: 978-3-8260-4806-7
Über Dr. Claudia Simone Dorchain, M.A.:
Philosophin und Psychologin, Promotion über Meister Eckharts Erkenntnislehre, Postdoc-Studie über Legitimationen von Gewalt, arbeitet in eigener philosophischer Praxis und in der Fortbildung für Rechtsberufe und Mediatoren, Beiträge für öffentlich-rechtlichen Rundfunk in Bildungsformaten über Philosophie, Religion und Ethik