„Im Islam leben und sterben wir alle.“ (Goethe)
In der westlichen Welt setzen wir uns heutzutage verstärkt, mehr oder weniger freiwillig, mit der islamischen Religion auseinander. Aber wie neu ist die ernstgemeinte Auseinandersetzung denn wirklich? Glauben Sie, dass sich vielleicht schon Goethe mit dieser Religion in produktiver Weise befasst haben könnte, vielleicht sogar über viele Jahre hinweg? Wohl eher nein?! Das wäre nicht verwunderlich, denn „…die Hinwendung Goethes zum Islam ist bis heute für manche Goethe-Forscher wenn nicht ein Ärgernis, so zumindest eine Verlegenheit“, weiß die Literaturwissenschaftlerin Katharina Mommsen. Darum werden Sie durch ihr Buch sicher ins Staunen kommen. Denn in Wahrheit war für den herausragenden Dichter der Koran gleich nach der Bibel die ihm vertrauteste, religiöse Urkunde. „Als 23jähriger dichtete Goethe ein wundervolles Preislied auf den Propheten Mohammed, und noch der 70jährige Dichter bekennt in aller Öffentlichkeit, dass er sich mit dem Gedanken trage, ehrfurchtsvoll jene heilige Nacht zu feiern, wo der Koran vollständig dem Propheten von obenher gebracht ward’ “.
In dem vorgestellten Buch wird darum mit der traditionellen Goethe-Rezeption abgeschlossen und stattdessen geschildert, wie sich Hauptlehren des Islam als übereinstimmend mit Goethes persönlichen Überzeugungen darstellten, wodurch er sein positives Verhältnis zum Islam entwickelte. „Hauptpunkte waren: die Lehre von der Einheit Gottes, die Überzeugung, dass Gott sich in der Natur offenbare und diese Offenbarung durch verschiedene Abgesandte der Menschheit übermittle, das Abweisen von ‚Wundern’ und die Auffassung, dass der Glaube sich in wohltätigem Wirken erweisen müsse.“
Allerdings kann man über das Buch nicht eben mal drüber lesen. Denn bleibt man gedanklich nicht am Ball, verliert man möglicherweise den Faden und muss erst wieder einige Seiten zurück blättern. Warum? Weil hier fast im Stile einer wissenschaftlichen Arbeit erläutert, argumentiert und zitiert wird, sodass eine Vielzahl von großen und kleinen Zusammenhängen entsteht, die man Schritt für Schritt erfassen muss. Wer ein Vorwissen über Goethe, seine Werke oder seine Zeit mitbringt, hat sicher einen großen Vorteil, da für so jemanden die zahlreich erwähnten Werke und historischen Hintergründe kein Neuland sind. Der „West-östliche Divan“, die „Mahomet-Tragödie“ oder „Dichtung und Wahrheit“ sind nur ein paar der wichtigsten Stichworte diesbezüglich.
Ist man ein Laie auf diesem Gebiet, schildert die Professorin aber auch für solchen Fall behutsam und lückenlos alles, was es braucht, um dem Inhalt gut zu folgen. Im hinteren Buchteil findet man zusätzlich ein Nachwort, eine Bibliographie, wichtige Anmerkungen und ein Personen- und Sachregister. All dies trägt glücklicherweise dazu bei, dass man sich zurückgelehnt auf die gründliche Recherche der Autorin verlassen kann, statt Halbwahrheiten oder reine Vermutungen aufgetischt zu bekommen.
Wer also fundiert erklärt sehen möchte, wie dieses deutsche Allround-Talent den Islam verstand, welches außerordentliche Verhältnis er zu ihm besaß und welche Rolle diese Religion in seinem Privatleben spielte, liegt mit diesem Taschenbuch genau richtig. Man lernt hier mit großer Wahrscheinlichkeit etwas dazu, sei es auf intellektueller, religiöser oder spiritueller Ebene!
Zu guter Letzt noch jeweils zwei wunderbare Zitate von Goethe und der Buchautorin, die bei mir einen besonderen Eindruck hinterlassen und das ursprüngliche, ganzheitliche und allumfassende Wesen der islamischen Religion ausdrücken:
„Im Grunde liegt von diesem Glauben doch etwas in uns allen.“(Goethe)
„Der Koran lehrt, wie der Mensch die Natur in allen ihren Phänomenen betrachten soll: als Beweis göttlicher Gesetze. Durch die Wahrnehmung der Natur in ihrem Reichtum, ihrer Vielfalt und Gesetzlichkeit, wird der Mensch auf das göttliche Walten hingewiesen: auf den Einen Gott in der Vielheit der Erscheinungen. Goethe sah darin eine Bestätigung seiner unumstößlichen Überzeugung, daß das Göttliche sich in der Natur offenbare. Wie in dem Vers 159 der Sure 2 […]“ (Katharina Mommsen)
„Im Propheten Mohammed sah Goethe eine Persönlichkeit, die durch die Verkündigung des Glaubens an den einen Gott segensreich wirkte. In ähnlicher Weise erschien auch ihm seine eigene Sendung als Dichter letzten Endes unter einem religiösen Aspekt. In der Tat ist Goethe für viele Menschen zum inspirierenden Vorbild und Vermittler eines höheren geistigen Lebens geworden.“ (Katharina Mommsen)
„Das schönste Glück des denkenden Menschen ist, das Erforschliche erforscht zu haben und das Unerforschliche ruhig zu verehren.“ (Goethe)
Eine Rezension von Natascha Stevenson
Infos zum Buch:
Katharina Mommsen: „Goethe und der Islam“
Verlag: Insel Verlag, 2001
Umfang: 527 Seiten
Preis: 15,00 € (TB)
ISBN: 3458343504 und 978-3458343509
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