Mögen Sie Stille? Gewiss doch, gerne! Unterschwellig aber halten wir sie von uns ab – gerade auch, wenn wir sie bei Meistern und in Retreats so sehr suchen.
Von Martin Frischknecht (Redaktionsleiter von SPUREN)
Er hatte mit provozierenden Anzeigen auf sich aufmerksam gemacht. Darin hiess es, sein eben erschienenes Buch sei verboten worden, er werde aber einen Vortrag halten und das verfemte Werk bei der Gelegenheit weiter anbieten. Selbstverständlich kamen viele, um ihn zu erleben. Der Vortragsabend beeindruckte mich mässig. Über das Buch kamen wir ins Gespräch. Er lud mich zu sich ein, und so saßen wir uns bald gegenüber.
Natürlich wollte ich von ihm wissen, wie er auf das gekommen sei, was er da auf seine bauernschlaue Art verbreitete. So erzählte er mir aus seinem Leben, und es dauerte nicht lange, da verhakten sich unsere Blicke. Ich schaute ihm in die Augen. Er hielt es aus und blickte unverwandt zurück. Hm.
Wie lange? Ich würde sagen, sehr, sehr lange schauten wir uns in die Augen. Hätte ich auf eine Uhr geschaut, so hätte ich einem Sekundenzeiger dabei zugesehen, wie er einmal rundum geruckelt wäre. Einmal von senkrecht oben bis senkrecht oben, viel weiter wohl kaum. Gefühlt war es eine Ewigkeit. Die Zeit fiel aus, es wurde still. In dieser Stille verbanden sich die Seelen. Als hätten sich zwei Ritter zwischen den Zinnen ihrer Persönlichkeiten hindurch zugewunken, und mit einem Mal hausten sie in gläsernen Türmen.
Aus den Augen
Er arbeitete an einem neuen Buch. Keine Frage, ich nahm das Manuskript nach Hause und machte mich an die Arbeit. Kommata fehlten, Formulierungen wollten umgebaut sein, die Rechtschreibung schrie nach konzentrierter Aufmerksamkeit. Obwohl mir klar war, dass er auf solche Dinge nicht viel gab, legte ich mich ins Zeug, flickte und verbesserte Formulierungen und Sätze. Das tat ich gerne, hatten wir doch ein gemeinsames Ziel. Diese Stille, die ich mit ihm erfahren hatte, die sollte sich ausbreiten. Mehr Menschen, möglichst viele, sollten davon kosten, sich davon berühren lassen. Wenn diese Stille Platz nähme in der Welt, da war ich mir sicher, dann gingen wir guten Zeiten entgegen.
Von dem Buch, das damals entstanden ist, weiss ich nicht mehr viel; seit ich vor einiger Zeit sein letztes Werk rezensierte, haben wir uns aus den Augen verloren, buchstäblich. Doch die Begegnung von damals, jenes gemeinsame Versinken in Zeitlosigkeit und Stille, es klingt in mir nach. Ich habe es wieder erfahren mit anderen Menschen, Augenblicke der Gnade, die mir oft unverhofft zustiessen.
Leichtes Erschauern
Bei anderen Gelegenheiten waren die Begegnungen geradezu darauf angelegt. In Indien sass ich zu Füssen von Männern, die galten als Meister der Stille. Auf viele solche Lehrer traf ich in Tiruvannamalai im Umfeld des Ashrams von Ramana Maharshi (1879–1950). Ich war zu einer Zeit dort, als die sogenannte Satsang-Welle gerade dabei war, nach und nach in Schwung zu kommen, kurz bevor im Westen die ersten Lehrer des Erwachens in schweigender Kommunion auftauchten. Heute, da diese Welle merklich abgeflacht ist und sich manch eine grosse Leuchte von damals still und leise aus dem Rampenlicht gestohlen hat, lohnt es sich, einen Blick zurückzuwerfen in die Anfänge. Unternehmen wir eine Zeitreise in jene Tage, als der Heilige vom Berg Arunachala selber noch am Leben war und in seinem Ashram täglich Besucher empfing.
«Sein Gesichtsausdruck war heiter, lächelnd und höflich; er wirkte auf mich keinesfalls wie ein Gelehrter, sondern eher wie ein liebenswürdiger alter Bauer», schildert W. Somerset Maugham einen Besuch 1936 bei Ramana Maharshi. Dem renommierten britischen Schriftsteller war es beim Eintreffen im südindischen Ashram schlecht geworden, worauf er sich hinlegte. Der Weise kam vorbei und besuchte Maugham in seinem Zimmer. «Ein paar Minuten lang lag sein Blick sanft und wohlwollend auf meinem Gesicht, dann aber sah er nicht mehr mich an, sondern seine Augen waren merkwürdig starr seitwärts über meine Schulter gerichtet. Sein Körper war völlig reglos, nur ab und zu klopfte sein Fuss leicht auf den Boden. Etwa eine Viertelstunde lang verharrte er so, und man sagte mir später, er habe seine Meditation auf mich konzentriert. Als er – wenn ich so sagen darf – zurückkam, sah er mich wieder an. Er fragte mich, ob ich ihm etwas sagen wolle oder eine Frage an ihn hätte. Ich fühlte mich schwach und elend, und sagte ihm das, worauf er lächelte und meinte: ‚Schweigen ist auch ein Gespräch.’»
Später war es dem Gast aus Europa möglich, sich zu erheben. «Ich weiss nicht, war es auf die Ruhe zurückzuführen oder auf die Meditation des Swami, jedenfalls fühlte ich mich wesentlich besser, und nach kurzer Zeit ging es mir so gut, dass ich in den Versammlungsraum gehen konnte, wo er tagsüber sass und nachts auch schlief», notiert der Autor, der seine Eindrücke aus Tiruvannamalai später in seinem mehrfach verfilmten Erfolgsroman „Auf Messers Schneide“ verarbeitete. Maugham schliesst seinen Bericht mit den Worten: «Der Swami versenkte sich in die Meditation der seligen Unendlichkeit, die Samadhi genannt wird. Ein leichtes Erschauern schien durch die Anwesenden zu gehen. Die Stille war gespannt und überwältigend. Man hatte das Gefühl, dass sich etwas Geheimnisvolles ereigne, dass man den Atem anhalten müsse. Nach einer Weile schlich ich auf Zehenspitzen hinaus.»
Heftige Reaktion
So rasch sich Somerset Maugham damals auch davonmachte und so lange die Begegnung mit dem indischen Heiligen zurückliegt: In gewissem Sinne sitzt er noch dort, und wir sitzen mit ihm. Das liegt in der Natur der Stille. Weder zeitlich noch räumlich lässt sie sich eingrenzen. Haben wir einmal bewusst von ihr gekostet, so wissen wir Bescheid: Die Stille ist das Eigentliche. Sie bildet das, was uns trägt und nährt. Wohl mögen wir sie verdrängen und vergessen, vielleicht ein ganzes Leben lang lärmen wir gegen sie an und machen einen auf Aktivismus. Davon wird die Stille aber nicht kleiner, ihre umfassende Gegenwart wird kein bisschen weniger.
Und selbstverständlich reagieren wir heftig auf jede Berührung mit Stille. Ganz aus dem Verstand heraus, liesse sich behaupten, es liege eine Art von Hypnose vor, eine Trance, die ein selbsternannter Meister der Stille geschickt zu induzieren wisse. Er tue das, indem er einen anschaue oder indem er das gerade nicht tue und er dem anderen gezielt über die Schultern blicke. Dann hätten wir es mit einer Art Zaubertrick zu tun, auf den Leichtgläubige halt so reinfallen. So gesehen, wäre Stille ein Sonderzustand des Geistes, eine vorübergehende Störung des Normalbetriebs, eine Ausnahme, welche die Regel bestätigt. Die Regel wäre der Lärm des Denkens.
Eingrenzungen, Ausgrenzungen
Auch wer sich von ihr anstecken lässt und sich gewissermassen bewusst für die Stille entscheidet, um ihr in seinem Leben Raum zu geben, ist nicht vor Abwehrreaktionen gefeit. Eine Stunde lang Yogastellungen ausüben, sich drehen, recken und strecken in alle denkbaren Richtungen, und danach flach ausgestreckt in Savasana einfach nur ruhen, atmen, entspannen … die Stille, die dabei einkehrt, ist etwas Wunderbares. Einen Schweigeretreat besuchen, tagelang nicht reden, stundenlang mit verschränkten Beinen auf einem Meditationskissen sitzen, atmen, lauschen, Stille in sich wachsen lassen … Ein Konzert besuchen, Meditationsmusik hören, heilige Laute singen, beten, die Klänge abebben lassen, die Ohren weit offen halten für das, was danach kommt … Das sind nährende, kostbare Erfahrungen, die lange in einem nachglühen.
Erst recht, wenn sich Stille in der Begegnung mit einem Menschen ausbreitet, der ihr nicht aus dem Weg geht, sondern sie in sich und um sich richtiggehend kultiviert. Die Schlussfolgerung liegt auf der Hand: Dieser Mensch ist in sich zur Ruhe gekommen, er hat aufgehört, sich mit seinen Gedanken zu identifizieren, sein Ego hat sich aufgelöst wie ein Stück Zucker im Meer der Stille. Wie süss ist es, in seiner Nähe zu sein, wie labt sich die Seele des spirituellen Suchers an der Ausstrahlung eines Wesens, das mit sich in Frieden lebt – egal, ob es sich bei dem in sich Ruhenden um einen westlichen Yogalehrer, einen indischen Guru oder um einen Körpertherapeuten handelt.
Die Abwehr liegt paradoxerweise gerade in dem, was wir für die Stille tun. Besuchen wir einen Raum der Stille, heisst das zwar, dass wir uns dort dem Gesuchten zuwenden und uns darauf einlassen; für das Leben ausserhalb bedeutet es aber nicht, dass Stille auch darin Raum haben wird. Wenden wir uns einem Menschen zu, den wir für den Inbegriff der Stille halten, und tanken Seelenruhe zu dessen Füssen, so übergehen wir leicht die unzähligen Gelegenheiten, bei denen sich Stille in der Begegnung mit jenen vielen anderen Menschen anbietet, die das vielleicht gerade nicht in ihrem Angebot haben, potenziell dazu aber genauso in der Lage sind.
Schliesslich ereignet sich das alles nirgendwo anders als in uns selbst. Äussere Umstände, Meditationskissen, Orte der Stille und Meditationsmeister können für uns nichts weiter sein als Wegweiser. Sie weisen nach innen. Dort ist es still. Eigentlich. Der Affe, der Lärm macht und sich gross aufspielt, weiss das genau. Mit einem Stück Zucker lässt er sich locken. Schleckereien mit Namen wie Entspannung, Samadhi oder Erleuchtung reizen ihn enorm. Kommt er nahe, darf man ihn in den Arm nehmen und auch mal streicheln. Das beruhigt ihn ungemein.
Über Martin Frischknecht:
Er ist Redaktionsleiter der empfehlenswerten Printmagazins SPUREN. Von Beruf ursprünglich Buchhändler, hat er 2000 das Wagnis unternommen, selber Bücher zu verlegen. Das Abenteuer begann mit «Nichts tun – Am Ende der spirituellen Suche» des amerikanischen Autors Steven Harrison. Seitdem sind in der EDITION SPUREN rund 40 Titel erschienen.