In der alten indischen Philosophie werden Prakriti, der kosmischen Urnatur, drei Gunas oder Eigenschaften zugesprochen: Tamas, das träge, finstere und stoffliche Prinzip, Rajas, das Kraftprinzip, und Sattwa, das lichte, geistige und gütige Prinzip. Wir finden diese Einteilung wieder in der Dreiheit von Körper, Seele und Geist, oder von Materie, Energie und Information, oder von Haben, Tun und Sein. Auf diesen drei Ebenen spielt sich auch das Leben des Menschen ab, und auf allen drei Ebenen hat er Bedürfnisse, die immer auf der jeweiligen Ebene befriedigt werden müssen, zu der sie gehören. Wer physisch am verhungern ist, braucht ein Stück Brot und keine frommen Sprüche. Wer emotional unterernährt ist, dem hilft Brot nicht weiter, und Schokolade schon gar nicht – hier hilft nur Begegnung mit und Beziehung zu anderen Menschen. Und wem geistige Nahrung fehlt, der wird weder durch Schmausen noch durch Schmusen satt – sondern nur durch meditatives Eintauchen in die Welten des Geistes.
Wir sind in unserer heutigen Zeit eindeutig und einseitig allzu sehr auf die stofflichen Dinge, auf materiellen Besitz fixiert. “Hast du was, bist du was”, heißt die Parole – und wie man dazu kommt, möglichst viel zu haben, das spielt keine Rolle. Auch Diebstahl ist zulässig – der erlaubte sowieso, und der unerlaubte auch, wenn man sich nicht dabei erwischen lässt. Nirgendwo in der Natur spielt Besitz auch nur annähernd eine derartige Rolle, wie in der menschlichen Gesellschaft. Kein Vogel käme auf die Idee, mehrere Nester zu bauen und sie an andere Vögel zu vermieten. Kein Hirsch vererbt sein Revier an seine Nachkommen. Kein Eichhörnchen sammelt mehr Samen, als es für den Winter braucht, um den Überschuss an andere Eichhörnchen zu verkaufen. In der Natur ist der Austausch das Wesentliche: Geben und Nehmen – in einem ausgewogenen Verhältnis. Nur so bleibt das Lebendige lebendig. Horten und Festhalten führt zu Erstarrung und Tod. Unser Herz nimmt Blut auf und gibt es umgehend wieder ab – wenn es in bürgerlichem Besitzdenken das Blut horten und nicht wieder hergeben würde, dann wären wir im Handumdrehen tot. Eine Gemeinschaft von Lebewesen, egal ob biologisches oder soziales Biotop, in dem das Gleichgewicht von Geben und Nehmen über ein bestimmtes Maß hinaus gestört ist, geht zu Grunde – zahlreiche Beispiele aus der Geschichte ebenso wie aus der Naturbeobachtung zeigen das deutlich.
Auch in der spirituellen Szene sind viele Menschen heute von der Hast-du-was-bist-du-was-Mentalität infiziert. Sie wollen spirituelle Erfahrungen HABEN, sie wollen spirituelle Erfolge HABEN, sie wollen spirituelle Erleuchtungen HABEN, oder sie wollen ganz einfach materielle Dinge oder Beziehungen HABEN, und benutzen ihre geistigen Kräfte dazu, derartiges, mit mehr oder weniger Hokuspokus, an sich heranzuziehen und herbeizuzaubern. Natürlich kann man sich Dinge bestellen oder Ereignisse, beim Universum oder wo auch immer. Und oft bekommt man auch, was man bestellt hat, oder auch anderes, was man – zumindest bewusst – nicht unbedingt bestellt hat. Und manchmal ist man auch zufrieden, zumindest einige Zeit, mit dem, was man da bekommen hat. Aber früher oder später verliert man meist die Lust an dem, was man hat und braucht dann etwas Neues, und danach wieder etwas Neues, undsoweiter. Und das Universum schickt, wenn auch vielleicht nicht gleich, aber doch sicher nach einiger Zeit, eine Rechnung. Denn eines der zentralen Gesetze im Kosmos lautet: von Nichts kommt nichts.
Oder, anders gesagt: man muss für alles in irgendeiner Form bezahlen. Irgendwann (oder auch nicht) begreift man dann, dass es nicht so sehr darauf ankommt, was man HAT, sondern darauf, was man IST. Aber was man ist, oder sein möchte, kann man nicht bestellen, nicht kaufen oder stehlen, nicht besitzen. Also wie soll das gehen? Eine einfache Möglichkeit ist diese: frage (zur Abwechslung einmal) nicht, was das Universum für dich tun kann, sondern was Du für das Universum tun kannst. Klingt das absurd für Dich? Oder anmaßend? Denkst Du vielleicht: ich bin so klein, und das Universum ist so groß – was kann ich denn schon für das Universum tun? Mach Dir darüber keine Sorgen, glaub mir: Du kannst eine ganze Menge für das Universum tun. Du bist ein Teil des Universums. Alles, was Du denkst, fühlst oder tust, beeinflusst das Universum. Jeder liebevolle Gedanke, jedes liebevolle Gefühl, jede liebevolle Handlung macht das Universum liebevoller. Andererseits vermehrt jeder hasserfüllte Gedanke, jedes hasserfüllte Gefühl, jede hasserfüllte Tat den Hass im Universum. Und wo wollen wir lieber leben?
In einer hasserfüllten oder einer liebevollen Welt? Wir haben die Wahl. Denn wir selbst erschaffen und gestalten die Welt, in der wir leben: durch unsere Gedanken, durch unsere Gefühle, durch unserer Taten. Alle anderen Wesen, Steine und Blumen, Pflanzen und Tiere, Menschen und Engel sind ebenfalls ein Teil des Universums. Und alles, was Du ihnen antust, tust Du dem Universum an – und damit auch dir selbst. Denn im Universum ist alles mit allem verbunden, alles wirkt aufeinander ein. Wenn Du einem Tier, einer Pflanze, einem Menschen, einem Engel – wem oder was auch immer – hilfst, und diesem Wesen etwas Gutes tust, tust Du dem Universum etwas Gutes. Und wenn Du es tust, wirst Du feststellen, dass sich etwas in Dir verändert – in deinen Gefühlen, in Deinem Sein. Du wirst feststellen, dass Du dich besser fühlst, dass Du glücklich bist. Obwohl Du nicht mehr HAST, BIST Du mehr. Dein Sein hat sich verändert, verbessert, bereichert. Du musstest nichts bestellen, nichts kaufen, nichts dafür bezahlen, und trotzdem hast Du etwas ganz wichtiges gewonnen. Durch rechtes Tun bereicherst du dein Sein – über alle materiellen Besitztümer hinaus, und gewinnst damit ein Ausmaß an Glück und Zufriedenheit, dass diese dir niemals verschaffen können. So einfach ist das. Zu einfach, denkst Du? Probier es aus und schau, was passiert. Du wirst Dich wundern. Immer wieder versucht man uns einzureden, dass wir etwas besonders tun oder sein müssten, damit wir geschätzt und geachtet werden, und dass wir um so wertvoller und wichtiger sind, je mehr wir in dieser Hinsicht vorzuweisen haben. Aber das ist ein Irrglaube. Du bist was Du bist, und das ist völlig in Ordnung. Du brauchst nicht mehr zu sein – auch wenn Dir jemand dieses Gefühl vermittelt hat oder vermittelt.
Aber Du solltest auch nicht weniger sein. Du solltest all deine Möglichkeiten und Fähigkeiten zum Ausdruck bringen – auch wenn Dir jemand das Gefühl vermittelt hat oder immer noch vermittelt, dass sich das nicht gehört. Die Philosophia Perennis sagt: Jedes Ding und jedes Lebewesen ist ein Aspekt des einen göttlichen Prinzips. Es ist die spezielle Art und Weise in der es sich gerade jetzt zum Ausdruck bringt: als Du, als Ich, als Regenwurm, als Elefant, als Kilimandscharo, als Salatgurke, Sonne oder Schwarzes Loch. Und wer sind wir, dass wir das Recht hätten jenes unendliche, allgegenwärtige göttliche Eine dafür zu kritisieren dass es sich gerade in dieser und nicht in anderer Weise manifestiert? Jedes Lebewesen bereichert die Welt – durch seine bloße Anwesenheit: weil es das ist, was es ist. Die Blume bereichert die Welt indem sie blüht, indem sie sich entfaltet zu dem, was sie ist. Sie bereichert die Welt nicht durch ihre Leistung, sondern durch ihr Sein. “Sein” allerdings ist nie ein passiver, sondern ein aktiver Prozess. Es gibt in der Natur nichts Passives, alles ist Aktivität, alles ist in irgendeiner Weise in Bewegung, auch das, was gerade ruht. Der Gegenbegriff zu “aktiv” (was eine nach außen gerichtete Bewegung bezeichnet) ist nicht “passiv”, sondern “reaktiv” (womit eine nach innen gerichtete Bewegung gemeint ist). Sein ist immer auch Tun, Handeln, aktive oder reaktive Bewegung. Sein als Tun bedingt Erfolge ebenso wie Misserfolge, es schließt auch Irrtum und Fehler ein. Und auch das ist völlig in Ordnung so. Auch durch deine Fehler bereicherst Du die Welt – indem Du demonstrierst, was man besser nicht tun sollte. Da alles ein Teil des Einen, und somit auch alles mit allem verbunden ist, wirkt jede Handlung auf das Universum ein. Jeder Fehler, den Du machst, ist eine Warnung für das Universum, es so nicht zu machen. Und jedes Lebewesen im Kosmos kann aus deinen Fehlern lernen – wenn es das will. Die Mehrheit zieht es allerdings wohl vor, seine Fehler selbst zu machen. Anderseits steht auch jede Lösung, die Du für ein Problem gefunden hast, nunmehr dem ganzen Universum zur Verfügung.
Also denk daran: du bist wichtig! Das Universum braucht dich! Es braucht deine ganz besonderen Erfahrungen, die nur du, als ein ganz besonderes, einmaliges Individuum machen kannst. Egal, was du tust und wie du es tust, wichtig ist nur, dass du es auf deine eigene Weise tust. Dass du deine eigenen Erfahrungen machst, deinem eigenen Wesen entsprechend handelst, und nicht irgendwen nachahmst oder dich zu irgendwelchen Dingen überreden lässt, die dir nicht entsprechen, die du nicht wirklich willst. Was immer du tust: bleib deinem eigenen Wesen treu. In der “Bhagavadgita” heißt es: “Bleibst du dem eignen Wesen treu, so bleibst du frei von aller Schuld.” Aber vergiss dabei eines nicht: weil alles mit allem verbunden ist, kommt auch alles, was Du tust, zu Dir zurück. Das heißt: was Du einem anderen antust, das tust Du Dir selber an. Wenn Du anderen wehtust, tust Du Dir selber weh. Wenn Du anderen wohltust, tust Du Dir selber wohl. Daher die “Goldene Regel”, wie sie Jesus formulierte: “Was Du willst, dass ein anderer Dir tue, das tue Du ihm auch.” Du musst nicht mehr zum Ausdruck bringen, als Dich selbst, als das, was Du bist. Das aber so vollständig und umfassend wie möglich. Das ist dein Recht – und deine Pflicht. Also sei Dir deiner Einmaligkeit bewusst – und lebe sie. Und beteilige dich damit an jenem großen Abenteuer, dass wir Evolution nennen, oder Schöpfung, oder einfach: Leben auf der Erde. Die Erde, so wie wir sie heute vorfinden, ist ein Produkt der Lebewesen, das Ergebnis ihrer Milliarden Jahre langen Arbeit.
Auch der Kosmos, mit seinen Planeten, Sonnen und Galaxien ist ein Produkt von Lebewesen. Ein zentrales kosmisches Gesetz lautet: von Nichts kommt nichts. Alles was existiert, ist notwendigerweise gezeugt oder geschaffen. Gezeugt, geschaffen und gestaltet von Lebewesen, übermenschlichen ebenso wie untermenschlichen, denn nur das Lebendige kann zeugen, schaffen und gestalten. Dass wir als Menschen auf diesem Planeten leben können, verdanken wir anderen Lebewesen. Die Photosynthese der Pflanzen liefert uns den Sauerstoff, den wir zum Atmen brauchen, und die biologischen Makromoleküle, aus denen sie ihre Körper aufgebaut haben, versorgen uns mit Nahrung. Die Pflanzen wiederum bedürfen der Arbeit von Pilzen und Bakterien, die ihnen Nährstoffe aufbereiten, und die Pilze und Bakterien wiederum profitieren von den Ausscheidungen der Pflanzen und Tiere und von ihren toten Körpern, aus deren Zersetzung sie Nahrung und Energie beziehen. So greift eines ins andere, indem jedes Lebewesen gibt und nimmt, und am Ende muss unterm Strich die Bilanz ausgeglichen sein. In einem Universum, das unendlich und damit in sich geschlossen ist, wo nichts hinzukommt und nichts verschwindet, kann nur soviel genommen werden, wie gegeben wird, und nur soviel gegeben werden, wie genommen wird. Wir sollten das, was unsere menschlichen Belange angeht, nicht vergessen. Insbesondere in der heutigen Gesellschaft, wo man sich immer noch der Illusion hingibt, man könne etwas für nichts bekommen, und wo man darauf aus ist, möglich viel zu nehmen, und möglichst wenig dafür zu geben. Aber wer nehmen will, muss auch geben. Und wer gibt, darf auch nicht vergessen zu nehmen. Sonst funktioniert der irdische, der kosmische, der universelle Kreislauf nicht.
Es ist vorübergehend kein Problem, wenn jemand mehr gibt als nimmt oder mehr nimmt als gibt – aber am Ende muss das Verhältnis ausgeglichen sein. Denn, wie gesagt: in diesem in sich geschlossenen Kosmos geht nichts verloren und kommt nichts hinzu. Aber alles bewegt sich, und alles verwandelt sich. Aus Bakterien werden Pflanzen, aus Pflanzen Tiere und Menschen und aus Menschen – wer weiß was? Wem dienen wir zur Nahrung? Alle Lebewesen leisten ihren Beitrag zum großen Abenteuer des Lebens, und wir sind auch dazu verpflichtete, egal ob wir das nun wollen oder nicht. Aber diese Aufgabe ist im Grunde genommen weder schwierig noch übermäßig anstrengend – denn es wird nichts weiter von uns verlangt, als zu sein, was wir sind. Uns selbst zu verwirklichen. Unser wahres Wesen möglichst umfassend zum Ausdruck zu bringen. Und eben damit unseren Beitrag zur Schöpfung, zur Evolution, zur Geschichte der Menschheit zu leisten. Und wenn wir das tun, wenn wir wirklich das tun, was unserem Wesen entspricht, werden wir feststellen, das dies kein Arbeit oder Mühsal ist, sondern ein Vergnügen.
© Reinhard Eichelbeck Dieser Text ist Teil des Buches „Wirf Deine Fesseln ab und fliege“, das 2010 erscheinen wird.
Reinhard Eichelbeck arbeitete als Journalist, Autor, Redakteur, Regisseur und Produzent beim NDR, später ZDF. Dort realisierte er u.a. „Einblicke“ – eine Sendereihe, einige MYSTICA-Themen zum Inhalt hatte. Heute ist er tätig als freier Journalist, Schriftsteller und Fotograf.
1 Kommentar
Ein wirklich lesenswerter Beitrag zum Thema „Sinn des Lebens“, der nicht nur in die Weihnachtszeit passt!