Indische Reise – Christa Ritter

von Thomas

StyxBildMit „Styx – die Reise beginnt“ schrieb Christa Ritter, eine der fünf Frauen, die mit Rainer Langhans zusammen leben, die Erlebnisse aus einer verrückten Reise nach Indien auf, die zu Krisen, ungewöhnlichen Begegnungen und manchen Erkenntnissen führte. Ein bewegender Trip! Hier ein Auszug daraus.

Von Christa Ritter

 

Und dann steigen wir aus den Booten, wandern an den Feuern vorbei, ins Dunkel. Die wenigen Laternen schimmern, der Uferweg ist uneben und voller Löcher und Ritzen und fühlt sich unter meinen Stofflatschen wie geflickt an. Dazwischen immer wieder plötzliche Stufen. Brigitte verpasst eine davon und tritt in die Leere. Ein Schrei: Sie hat sich den rechten Fuß umgeknickt. Dabei eine Sehne gezerrt. Jedenfalls tut ihr der Fuß so weh, dass sie nur noch auf uns gestützt ins Hotel humpeln kann. Jetzt liegt sie, ihr Fuß von Jutta geschient und mit Eis umwickelt, in ihrem Zimmer und wird morgen nicht mit uns zur Kumbh Mela fahren können.

Sonntag, 3. Januar
Wir üben jeden Tag, unseren Bewegungsmodus diesem Land anzupassen. Die westliche Art der effizienten, also aggressive Sucht nach Vorwärts-Bewegung ein wenig zu verlernen, um eine intuitive, gelassenere, zärtlichere zuzulassen. Eigentlich ein bisschen wie seit Jahrzehnten schon zuhause. Und nun hard-core, als einen alltäglichen Rhythmus von sich unglaublich komplex gegenseitig auf den Straßen wahrnehmenden, die widersprüchlichsten Impulse integrierenden Way of Life. Wir individualisierte Reisende aus dem Westen bewegen uns hier in Indien möglicherweise in einer fortgeschrittenen Schwarm-Intelligenz (fortgeschrittener als bei den Piraten, meinte Rainer). Niemand schneidet dem anderen den Weg ab, fährt schneller oder grenzt ihn aus. Stattdessen freundliche Wahrnehmung unterschiedlichster Bedürfnisse: von der auf einer Schnellstraße parkenden Kuh oder dem eiligen Fußgänger bis zum ratternden Bus oder rasenden LKW, der rechts oder links oder seitlich überholt. Als wüssten die Menschen, dass Freundlichkeit alle voran kommen lässt, also allen hilft. Die Inder fahren sogar auf einer Schnellstraße (wie unsere Autobahn von Mittelstreifen getrennte Gegenfahrbahnen) ab und zu in gegengesetzter Fahrtrichtung, wenden die Fahrzeuge also wie Geisterfahrer bei uns, um beim nächsten U-Turn zu einem Ziel auf der anderen Seite zu finden. Klar? Ungewohntes Timing üben wir zum zweiten, indem wir uns immer wieder zu einer bestimmten Uhrzeit verabreden und weitaus später erst zusammen finden, um nochmal Stunden später abzufahren. Die Verlangsamung der Zeit als kleine aber feine Nahtoderfahrung? Komme ich so wirklich mehr zu mir? Bisher komme ich auf unserem Trip einfach nicht zu mir, oder nur sehr selten, meldet der unzärtliche Feldwebel. Ähnlich scheint es den anderen zu gehen. Durchfall, Kopfschmerzen, Kotzen, Halsweh, verstauchter Fuß, nächtliches Frieren, also rheumatische Schmerzen sind unsere Peiniger. Die Styx als unsere Pilgerreise gerät in diesem unverstellten Leben Indiens zu krasser Deutlichkeit, nichts lässt sich mehr verstecken. Raus aus der Komfortzone, dieser täuschenden Tünche – all gone.

Heute früh starten wir vor unserem Temple in Varanasi mit einem Kleinbus nach Allahabad und lassen die geh-eingeschränkte Brigitte auf ihrem kleinen Terrassenplatz im Hotel zurück. Sie scheint ganz froh zu sein, sich von uns zwei Tage lang ausruhen zu dürfen. Geschickte Inszenierung! Schon nach etwa 20 km fängt der Motor an zu stottern, bricht unser Bus zusammen. Erstmal durchatmen und Chai trinken. Vor einer der Hütten schlürfen wir jeder ein Glas davon, diesen überall jederzeit verfügbaren Tee. Als ich zum Grund meines Glases vorstoße, entdecke ich eine fette Fliege. Hat sich Krishna auch als Fliege gezeigt? Ich will mir seine Geschichte so erfinden und meinem Magen ein entsprechendes Signal senden. Easy… Dany telefoniert und organisiert und der Auto-Vermieter wird uns aus Varanasi einen Monteur schicken. Hinter der Imbiss-Hütte durchqueren wir den Hof eines ärmlichen Bauernhauses. Gibt es in diesem Land überhaupt reiche Bauernhäuser? Niemand ist zu sehen, nur eine magere Kuh steht im Schatten des einzigen Bäumchens. Ich: Dürfen wir hier einfach durch den Hof laufen? Rainer: Wir als Touristen, als die weißen Götter aus dem Himmelreich, dürfen alles. So viel Dreck und Armut wie hier verschlimmern den Krebs, nicht wahr, Jutta? Man muss das alles ganz anders sehen, mahnt Rainer. Hinter dem Hof beginnen die weiten Felder und wir lassen uns treiben. Landluft, warm, flirrend. Senfkornfelder, die mit ihren gelben Blüten unseren Rapsfeldern ähneln. Rainer und Jutta nutzen die heilige Stille, um ein Gespräch zu versuchen. Ich laufe wie die anderen gemächlich hinterher. Wir nähern uns einfachsten Hütten, gebaut aus getrocknetem Kuhdung.

Jutta: Diese Armut…? Rainer: Wir könnten diese ganze Hässlichkeit als das eigentlich Gesunde und Schöne sehen. Wir sind nur drauf trainiert, es als besonders hässlich und schmutzig zu deuten. Noch kommt uns so ein anderer Blick absurd vor, aber wir müssten das wieder lernen, glaube ich. Jutta: Ja, aber dein Meister sagt: Cleanliness is next to Holiness. Rainer: Es stellt sich die Frage, was Sauberkeit ist? Jutta: In allen Religionen führen sie Händewaschen ein und so weiter. Rainer: Stimmt. Ist aber nicht mit unserer sterilen Sauberkeit zu vergleichen.

Wir laufen an einer Schule vorbei, die aus einem einzigen Klassenzimmer besteht. Der Lehrer ist mit den Schülern vor die Tür getreten, als habe er uns erwartet. Ihre Augen staunen uns unverwandt an. Sie lachen und winken und wir winken zurück. Jutta: Wir exportieren auch noch diesen ganzen Plastik-Müll. Rainer: Unsere zwanghafte Sauberkeit und Hygiene produziert diesen Müll. Jedes Mal, wenn du dir die Hände wäschst, verschmutzt du die Umwelt im gleichen Maße oder sogar erheblich mehr. Bei uns wird sofort jeder kleinste Fleck raus gewaschen. Hier aber sieht man wirklich einen Recycling-Umgang mit der Natur, nachhaltig…

Zwei Frauen kommen uns entgegen, sehr arme Frauen, die ihre Wasserkrüge auf dem Kopf  balancieren. Sie sind in einfache, aber auf mich prächtig wirkende Saris gekleidet. Diese Frauen sind wunderschön, vor allem, weil sie uns mit einer weichen Lieblichkeit anschauen. Wie gern hätte ich etwas davon, ich verbissener Holzklotz.

Jutta: Ich finde dieses einfache Leben hier schön, es könnte mir sehr gefallen. Rainer: Na, du kannst hier noch nicht mal einen Tee trinken. Jutta: Ich mach ja schon viel… Als ich im Sawan-Ashram gesehen habe, wie dieser Alte in die Finger gespuckt und damit das Tablett sauber gewischt hat, dann unsere Plätzchen drauflegte, habe ich sie genommen und gegessen. Rainer: Du hast sie genommen? Doch nur die, die nicht auf dem Tablett lagen. Jutta: Naja, war eine kleine Vorsichtsmaßnahme, okay. Ich muss ja auch auf mich aufpassen. Balwinder hat auch gesagt, ein spiritueller Mensch geht sorgsam mit seinem Körper um, weil er weiß… Rainer: Bisher hast du die westliche Lebensweise ausführlich ausgekostet und davon Krebs bekommen. Jutta: Ja, vor allem diese langen Nächte am Computer, der schlechte Käse… Rainer: Ach was, es waren nicht die langen Nächte am Computer, Jutta, die noch am wenigsten. Das sehe ich an mir. Meine Nächte am Computer bringen mich doch auch nicht um. Ich merke, wenn ich sowas mache, ob es tendenziell ungesund ist oder nicht. Und ich kann nur sagen, es ist nicht ungesund, ganz im Gegenteil. Jutta: Damals hatte ich diesen Strahlenmonitor und noch keinen flachen. Man hat festgestellt, dass auch viele Schichtarbeiterinnen Krebs kriegen. Das Schlimme war, dass ich dabei meinen Zorn so in mir… Rainer: Genau. Das ist der Grund…. Jutta: … und dass ich vom Weg abgekommen bin. Aber jetzt bin ich doch die zurück kehrende Tochter. Der verlorene Sohn, die verlorene Tochter. Rainer: Deshalb stellt sich die Frage, was diese Rückkehr für deinen materiellen Anteil bedeutet. Bedeutet es zurück zur Natur, wie hier in extremer Form, die uns völlig unmöglich vorkommt, uns jeden Tag geradezu vorführt. So viel Natur sind wir westlichen Städter überhaupt nicht gewachsen, die kennen wir nicht. Die sehen wir als schmutzig, ungesund und tödlich an. Sie ist aber genau das Gegenteil, sie ist lebendig. Wieder vereinzelte Hütten. Büffelkühe aus der Ewigkeit liegen malmend in den Höfen und schauen uns an. Jutta: Wir können oben auf dem Deich entlang gehen. Rainer: Wenn man mich fragen würde, dann würde ich sagen: So will ich nicht leben. Das heißt, ich lebe zwar dieses Indische bei uns mehr als ihr, aber so extrem indisch wie hier nun auch wieder nicht. Davon bin ich bestimmt ein Stück weit entfernt. Jutta (gedehnt): Nö… Rainer: Andererseits komme ich damit hier gut zurecht, glaube ich. Zumal ich auch den Durchfall als sehr positiv und überhaupt nicht krank oder schlecht erlebe. Den habe ich mir geradezu vorgenommen und benutze also dieses Indien…das ist wie im Dschungelcamp. Dort habe ich auch das, was mir die Produktion angeboten hat, noch übertrieben. Das Hungern, das Fasten, dieses krank werden. Denn ich halte solche Übungen für Krankheiten zur Gesundheit. Und empfinde sie daher als relativ positiv. Ich habe auch dort mit dem Durchfall keine Schwierigkeiten gehabt, habe nicht gelitten. Jutta: Das war auch noch nicht so hart…

Hier riecht‘s tatsächlich mal richtig nach Natur. Ich gebe Jutta lautlos recht. Die Luft ist klar, es ist nicht so heiß und die Farben sind nicht kräftig, sondern leicht, irgendwie dünn. Als hätte jemand einen Filter darüber gelegt. Rainer: Der Computer ist für mich auch eine Form von Natur. Nämlich menschlicher, sprich geistiger Natur… Für jeden stellt sich die Frage, wie viel Materie er in diesem Leben, diesem Körper, seinem Schicksal braucht. Wie viel er da zu bewältigen und zu bearbeiten hat. Jeder muss seine Gleichung finden, eine Balance im Rahmen der eigenen Kultur. Jeder ist gehalten, eine persönliche Genauigkeit zu entwickeln, damit es ein gelungenes Leben wird, ein glückliches und menschliches. Jutta: Ist dieser Baum nicht wunderschön, dieser krumpelige Stamm mit den vielen Ästen? Manche esoterische Schulen lehren, dass wir nicht real sind, nur von Gott geträumt. Rainer: Ein Traum ist auch eine Realität, nicht wahr. Willst du damit sagen, so real wie das eigentlich Reale ist der Traum natürlich nicht? Aber er ist eine Form von Realität. Wir glauben ja… Jutta: Jaja, das ist es… Rainer: … das Leben sei Realität. Dagegen sagen diese Schulen zu recht, so real ist es nicht. Das Leben ist der Ausfluss der eigentlichen Realität. Aber das können wir nicht verstehen… Guck mal, ein kleiner Eichelhäher. Haste gesehen? Jutta: Und da hinten flitzen Squirrels und Vögel rum. Ist das nicht wieder ein nettes Hüttchen? Sowas reicht doch… Rainer: Diese Eichhörnchen sind eigentlich fast wie Vögel, nur dass sie nicht wirklich fliegen. Jutta: Die sind blitzschnell. Dahinten kommt das ganze Dorf hinter uns her. Hier ist es, als sei die Zeit stehen geblieben. Rainer: Wir könnten uns dort unter den Baum setzen. Unter den schönen, riesigen Baum. Das könnte ein Neem-Baum sein. Jutta: Oh ja, mit der Kuh darunter sieht das wirklich idyllisch aus. Rainer: Schau mal, was für ein winziges Vögelchen, jetzt fliegt es weg. Jutta: Winzig. Ich will einfach zurückkommen und keine Angst mehr vorm Sterben haben. Hier habe ich keine… Rainer: Das ist die Angst vorm Leben, nicht die Angst vorm Sterben. Jutta: Hier habe ich gar keine Angst…vielleicht, weil das alles so neu ist. Auch wiederum vertraut… Der majestätische Neem-Baum scheint hier der heilige Platz der Leute aus dem Dorf zu sein, darunter ein Lingam (Penis) mit naiver Zeichnung einer Götterfigur.

Mir ist, als könnte ich die Ruhe greifen, weit-weit weg von der Schnellstraße mit ihrem ständigen Gehupe. Ich fühle mich auch auf diesen Feldern von etwas berührt, für das ich, dort, wo ich wohne, selten auf Empfang bin. Wir setzen uns auf einen abgeknickten Stamm und schließen die Augen. Sind Stunden vergangen, nur eine halbe? Ob der Bus schon repariert ist? Wir gehen mitten durch die kleine Siedlung zurück: Ein alter Mann hockt vor dem Haus auf seinem Holzbett, Seile verbinden den Rahmen, kein Rost. Er trägt eine starke Brille, seine vergrößerten Augen scheinen mir durch die runden Gläser entgegen zu springen. Eine junge Frau sitzt an einer Nähmaschine direkt am Weg. Vorsichtiges Lächeln und Namasté mit Händefalten und geneigtem Kopf. Links und rechts Mangobäume, knorrige dicke Baumstämme, weit ausladende Baumkronen, mittelgroße, dunkelgrüne Blätter. Sie tragen off season natürlich nicht die von uns so geliebten Früchte. Dieser friedliche Spaziergang durch die Felder, an den lächelnden Menschen vorbei, hat mich enorm entspannt und ich bin allen dankbar. Längst sind zwei Monteure auf dem Motorrad bei unserem Bus angekommen und konnten den Keilriemen flicken: Wir werden nun zum zweiten Mal zur Kumbh Mela starten.

 

Das war ein Auszug aus:

StyxCover

 

Christa Ritter: „STYX – die Reise beginnt“
Format: Kindle Edition
Dateigröße: 1220 KB
Seitenzahl der Print-Ausgabe: 277 Seiten
Gleichzeitige Verwendung von Geräten: Keine Einschränkung
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Sprache: Deutsch
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