Viele Ergebnisse der Matriarchatsforschung sind heute Gemeingut geworden. Es ist vom Archetyp der „Großen Mutter“ die Rede, die in Gestalt vieler Göttinnen (Isis, Ischtar, Astarte, Maria) von den Menschheitskulturen verehrt wurde. Menschen, die sich für matrifokale (auf Mütter fokussierte) Kulturen interessieren, ersehnen häufig auch auf eher diffuse Weise die Rückkehr der Großen Mutter. Wie aber sollte diese konkret aussehen, und welche Auswirkungen hätte eine solche Wiederkehr in der Praxis (z.B. in Politik und Wirtschaft)?
von Roland Rottenfußer
Die Rückkehr der Mutter-Göttin
In M. Night Shyamalans Fantasy-Film „Das Mädchen aus dem Wasser“ wird ein Mann gezeigt, der nur die eine Seite seines Körpers trainiert. Schenkel und Arme sind auf der einen Seite angeschwollen wie bei einem Bodybuilder; auf der anderen Seite sind alle Gliedmaßen dünn und schwächlich. Diese groteske Figur könnte symbolisch für die Einseitigkeit stehen, mit der wir Menschen seit Jahrhunderten unsere Fähigkeiten ausprägen. Von einem Übergewicht der „männlichen“, logischen gegenüber den „weiblichen“, intuitiven Fähigkeiten ist in der psychologischen Literatur schon viel die Rede gewesen. Die Fähigkeiten der linken Gehirnhälfte überwiegen gegenüber den Qualitäten der rechten. Analog dazu hält das Patriarchat noch immer die meiste Macht in seinen Händen – einschließlich so fragwürdiger „männlicher“ Errungenschaften wie Kriege, Konkurrenzdruck, Vergewaltigung der Natur und materialistischer Wissenschaft.
Coelho, Brown und die „Göttin“
Kann man das Gleichgewicht wiederherstellen? Könnte gar eine weibliche Kultur ein neues „Goldenes Zeitalter“ einläuten? Die Kunst erweist sich häufig als Vorbote dessen, was sich im realen Leben anbahnt. „Das Mädchen aus dem Wasser“ ist beispielsweise eine Wassernymphe von zarter und höchst spiritueller Ausstrahlung, die die Menschen wieder in Kontakt mit ihrer Seele bringt. Es ist eine weibliche Messias-Gestalt, wie sie in letzter Zeit in mehreren Büchern und Filmen aufgetaucht ist: etwa in Glenn Kleiers Buch „Jesa“ (die weibliche Form von „Jesus“), in „Der Goldene Kompass“ oder auch in „Sakrileg“. In Dan Browns Bestseller tritt eine leibliche Nachfahrin Christi auf; Maria Magdalena wird als gleichberechtigte Gefährtin des Erlösers rehabilitiert. Überhaupt erscheint in Buch und Film „Sakrileg“ das unterdrückte Weibliche als das verdrängte Geheimnis der katholischen Kirche. Symbol für dieses Geheimnis ist der Heilige Gral. Die nach oben offene Schale symbolisiert das Weibliche in seinen Aspekten Empfänglichkeit und Hingabe.
Neben „Sakrileg“ ist in diesem Zusammenhang auch Paolo Coelhos Bestseller „Die Hexe von Portobello“ interessant. Der Autor präsentiert seinen zahlreichen Lesern anhand des Schicksals der „Hexe“ Athena eine eher heidnische Version des Mythos von der Großen Mutter: „In der heidnischen Tradition ist die Anbetung der Natur wichtiger als die Verehrung heiliger Bücher. Die Göttin ist in allem, und alles ist Teil der Göttin. Die Welt ist nur ein Ausdruck ihrer Güte.“ Coelho unterscheidet „zwischen einem Gott, der die Welt kontrolliert, und der Göttin, die Teil der Welt ist“ und er hat eine Zukunftsvision. „Nach Jahrhunderten männlicher Herrschaft kehren wir zum Kult der Großen Mutter zurück.“ Beide Werke haben Millionen von Leser erreicht und diese mit den Mitteln der lebendigen Erzählung mit der Idee einer Wiederkehr des unterdrückten weiblichen Archetypus vertraut gemacht.
Die Wurzeln unserer Krise
In einem noch umfassenderen Sinn kann man das weibliche Prinzip aus dem Yin-Yang-Gegensatz der chinesischen Philosophie ableiten. Dabei repräsentiert natürlich „Yin“ den weiblichen Archetypus. Aus dem Spannungsfeld der beiden Urkräfte und deren gegenseitiger Ergänzung ist die Schöpfung aufgebaut. Die folgende Tabelle habe ich aus dem Buch von Fritjof Capra, „Wendezeit“, entnommen:
Yin Yang
weiblich männlich
bewahrend fordernd
empfänglich aggressiv
kooperativ wettbewerbsorientiert
intuitiv rational
nach Synthese strebend analytisch
Capra kommentiert die Liste in seinem Buch folgendermaßen: „Sieht man sich diese Liste von Gegensätzen an, erkennt man sofort, dass unsere Gesellschaft ständig das Yang gegenüber dem Yin höher bewertet hat – rationale Erkenntnis galt mehr als intuitive Weisheit, Wissenschaft mehr als Religion, Konkurrenz mehr als Kooperation, Ausbeutung von Naturschätzen war wichtiger als ihre Bewahrung, und so weiter. Diese Betonung des Yang, noch unterstützt durch das patriarchalische System und weiter ermutigt durch die Vorherrschaft der auf Sinneswahrnehmung beruhenden Kultur während der vergangenen Jahrhunderte, hat zu einem tief greifenden kulturellen Ungleichgewicht geführt, das seinerseits die Wurzel unserer heutigen Krise ist.“
Fehlendes Gleichgewicht zeigt sich u.a. in einer einseitigen Philosophie des freien Willens. Mittlerweile hat sich in Teilen der esoterischen Ratgeber-Literatur eine dogmatische Ideologie der Eigenverantwortung („Du allein bist Schöpfer deines Schicksals“) breit gemacht. Dies ist durchaus auch ein Politikum, denn die These von der Verantwortung des Armen für seine Armut erinnert uns verdächtig an die aktuelle Politik. Sie wird von „modernen“ Politikern gern instrumentalisiert, denn die Gesellschaft kann sich so billig ihrer Verpflichtung zur Fürsorge für die Schwächeren entledigen. Diese sind ja selbst für ihr Schicksal verantwortlich, in letzter Konsequenz sogar für ihren eigenen Untergang.
Die politische Gottesmutter
Wie würde dem gegenüber eine Politik aus dem weiblichen Prinzip (Yin) aussehen? Interessant ist, dass auch Maria, die in unserem Kulturkreis bekannteste Verkörperung der „Großen Mutter“, offenbar keine unpolitische Person war: Im Lukasevangelium sagt Maria über Gott: „Er stößet die Gewaltigen vom Thron und erhebt die Niedrigen. Die Hungrigen füllet er mit Gütern und lässt die Reichen leer.“ Diese Bibelstelle entspricht der „Logik“ des mütterlichen Prinzips. Eine gute Mutter sucht immer den Ausgleich und, so gut es geht, Gerechtigkeit. Sie würde niemals einem ihrer Kinder im Überfluss zu essen geben und ein anderes hungern lassen. Wenn eine Mutter überhaupt jemandem größere Fürsorge angedeihen lässt, so dem schwächsten und hilfsbedürftigsten ihrer Kinder.
Die global dominierende Wirtschaftslehre besagt genau das Gegenteil. Es schikaniert die Schwachen und hofiert die Starken. Es füllt die Reichen mit Gütern und lässt die Armen leer. Der große chinesische Weise Laotse rät dem Politiker daher, den Staat „aus dem mütterlichen Prinzip heraus“, zu regieren. Das meint vor allem das Gesetz des Ausgleichs: „Der Weg des Himmels ist wie ein gespannter Bogen: Das Hohe drückt er nieder, das Tiefe hebt er hoch.“ (Laotse) Es meint aber auch Gnade, Bescheidenheit und Vertrauen. Aber sind das nicht idealisierende Wunschvorstellungen? Gibt es historische Beispiele an denen man ablesen kann, wie Gesellschaften funktionieren, bei denen „Mütter im Fokus“ sind? Heide Göttner-Abendroth, die bekannteste lebende Matriarchats-Forscherin, hat zusammengetragen, was wir über historische „Matriarchate“, aber auch über die wenigen überlebenden matriarchalen Kulturen wissen.
Die Ökonomie des Matriarchats
Matrifokale Gesellschaften zeichnen sich durch eine Reihe von Merkmalen aus, die an politischer Brisanz nichts zu wünschen übrig lassen. Heide Göttner-Abendroth: „Auf der ökonomischen Ebene sind Matriarchate Ausgleichsgesellschaften. Ihre Ausgleichsökonomie lässt keine Unterschiede zwischen Arm und Reich aufkommen, stellt aber einen gemäßigten Wohlstand für alle her.“ Auch scheinen sich in matrifokalen Gemeinschaften basisdemokratische Strukturen herausgebildet zu haben, die auf dem Konsensprinzip beruhen. „Konsens“ bedeutet, dass z.B. nicht 51 Prozent der Stimmberechtigten die anderen 49 Prozent überstimmen und unterdrücken dürfen. Vielmehr werden im Idealfall die Interessen aller Beteiligten ausreichend berücksichtigt. „Basis jeder Entscheidungsfindung sind die einzelnen Clanhäuser. Angelegenheiten, die das Clanhaus betreffen, werden von den Frauen und Männern in einem Prozess der Konsensfindung, d.h. durch Einstimmigkeit, entschieden.“
Heide Göttner-Abendroth leitet aus ihren Erkenntnissen einige konkrete politische Utopien ab, die ich hier nur kurz aufliste.
– Subsistenzwirtschaft (Wirtschaften in regionalen Einheiten). Kein weiterer Ausbau der Großindustrie und des materiellen Lebensstandards.
– Der Vereinsamung in der Gesellschaft entgegenwirken – durch Bildung wahlverwandter Gemeinschaften.
– Das politische Ziel sind autarke Regionen, nicht größere Verbände wie Nationen, Staaten-Unionen und Supermächte.
– Abschied von hierarchischen Religionen mit absolutem Wahrheitsanspruch. Alles wird auf egalitäre, freie Weise geehrt und gefeiert, weil alles heilig ist
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Als Ergänzung zu diesem umfassenden „Programm“ eignen sich die Thesen des Geldtheoretikers Bernard Lietaer. Der ehemalige Währungsspekulant entwirft in seinem Buch „Mysterium Geld“ die Vision eines weiblichen Geldes (Yin-Geld). Dieses Geld ist zinsfrei und eignet sich deshalb nicht zum Horten. Es zirkuliert schnell und ungehindert und sichert allen an einem Wirtschaftskreislauf Beteiligten einen gemäßigten Wohlstand. Wie eine „Große Mutter“ sorgt das Yin-Geld somit für eine gleichmäßige Versorgung aller seiner „Kinder“. Im Hochmittelalter und im Alten Ägypten soll es ein solches Geldsystem schon gegeben haben, und beide Perioden gelten als Zeiten wirtschaftlicher Blüte.
Weibliche Energie statt „Männinnen“
Selbstverständlich sind dies nicht die einzigen denkbaren Schlussfolgerungen aus der Matriarchatsforschung. Wäre es im Zuge einer Umgestaltung der Gesellschaft nach den Prinzipien des „weiblichen Archetyps“ auch wünschenswert, wenn mehr Frauen Machtpositionen erringen würden? Die Frage ist schwer zu beantworten, denn das Ziel wäre ja gerade der Abbau von Macht, die Menschen über Menschen ausüben. Es ist klar, dass das Defizit an „Yin-Energie“ nicht durch mehr Frauen an der Macht kompensiert werden kann, solange diese Frauen überwiegend „Yang-Tugenden“ wie Härte, Durchsetzungsfähigkeit und Rationalität verkörpern. Margret Thatcher, Angela Merkel und Condoleeza Rice sind diesbezüglich eher abschreckende Beispiele. Wenn man Alice Schwarzer auf Werbplakaten der BILD-Zeitung bewundert und beobachtet, wie sie sich öffentlich über Merkels Kanzlerschaft freut, gewinnt man den Eindruck, dass hier ein eher „maskuliner“, sozial blinder Feminismus am Werk ist.
Andererseits ist es auch kein Zufall, dass unsere Yang-Welt überwiegend von Männern für Männer errichtet wurde. Daher wären mehr Frauen in leitenden Positionen interessant. Nicht weil diese per se „bessere Menschen“ sind; sie könnten das, was an ihnen weiblich ist, nur freier und vollständiger ausleben können, wenn sie sich nicht mehr in hoffnungsloser Minderheit in einer Männerwelt behaupten müssen. Gegen eine Übermacht von Männern müssen sich Frauen oft mit einer Überdosis männlicher Energie durchsetzen. Andererseits ist es offensichtlich, dass auch Männer Träger von Yin-Energie sein können. Jesus und Laotse sind beispielsweise die Väter von jeweils sehr inspirierenden „Yin-Philosophien“. Ebenso klar ist, dass das, was ich hier als archetypische Eigenschaften einer „guten Mutter“ beschrieben habe, ebenso auch von „guten Vätern“ geleistet werden kann (und auch geleistet wird).
Befreiung aus der „Yang-Welt“
Leider herrscht derzeit jedoch eine unheilige Allianz zwischen „männlichen Männern“ und „männlichen Frauen“, die sich zusammengeschlossen haben, um das weibliche Prinzip (auch in sich selbst) zu unterdrücken. Was können wir tun, und welche Rolle könnten auch Männer beim jetzt anstehenden Epochenwechsel spielen? Wir alle müssten uns zuerst aus der kulturellen Dominanz der Yang-Welt befreien. Wir müssen den Lügenschleier der männlich dominierten Medien zerreißen, die uns suggerieren, dass soziale Kälte, Konkurrenz, Strafe, wissenschaftliche Rationalität sowie eine ausgeprägte Ego- und Willensphilosophie für beide Geschlechter „normale“ und wünschenswerte Denkformen darstellen würden.
Nur wenn Frauen diesen Klammergriff einseitig männlicher kultureller Propaganda abschütteln und zu sich selbst finden, könnten wir überhaupt beurteilen, was eine Kultur weiblicher Energie, getragen von Frauen für Frauen, konkret bedeutet würde. Und nur wenn Männer sich diesem Zustrom weibliche Energie nicht in den Weg stellen, ihn sogar fördern, können wir ein Gleichgewicht herstellen, das die Bezeichnung Synthese wirklich verdient.
Roland Rottenfußer, Jg. 1963, wurde in München geboren. Nach dem Germanistikstudium Tätigkeit als Buchlektor und Journalist für verschiedene Verlage. Von 2001 bis 2005 Redakteur beim spirituellen Magazin „connection“. Momentan u.a. für Konstantin Weckers Webmagazin www.hinter-den-schlagzeilen.de und für den Schweizer „Zeitpunkt“ tätig.
3 Kommentare
Die Tabelle aus dem Buch von Fritjof Capra, „Wendezeit“ ist leider nicht ganz richtig. Das männliche Prinzip wird falsch interpretiert, verzerrt und als negativ dargestellt.
Lieber Herr Rottenfußer, ich habe ihren Artikel sehr gerne gelesen. Die Themen der „weiblichen Frau“ und dass SIE sich in ihrer weiblichen Kraft erheben kann, ist auch mein Wunsch und Bemühen. Ich glaube es braucht mehr mutige „Weiber“ die sich zeigen, damit der Ausgleich geschieht. Noch schreiben und diskutieren überwiegend Männer öffentlich über das weibliche Frau sein. Das Vertrauen in den „Mann“ ist doch erschüttert. Doch ich möchte ihnen herzlich dafür danken, denn so erweitert sich das Bewusstsein und tiefe Vertrauen in allen, sodass Frauen sich wieder so zeigen können und möchten, in ihrer wunderschönen Kraft und Liebe! Viele Grüße, Sonja A. Brückner
Sehr geehrter Herr Rottenfußer,
ich danke Ihnen von Herzen für diesen Beitrag.
Schon vor 35 Jahren haben eine Freundin und ich über ein Matriarchat diskutiert und für gut befunden. Mit Liebe regieren und für den passenden Ausgleich sorgen und sehen, dass jeder in einer Gemeinschaft gleich und gerecht behandelt wird. Kein Druck nur auf Profit zu schauen und dies auch noch ziemlich einseitig – die Einen arbeiten unter unmöglichen Umständen und die Anderen leben von Deren Arbeit in Saus und Braus. Warum werden die Psychischen Krankheiten immer mehr, selbst bei jungen Menschen – „WIR“ leben wider unserer Natur.
Ich wünsche Ihnen noch viele Inspirationen und freue mich schon auf den nächsten Beitrag.
Mit den besten Grüßen
Hannelore Pfeffer