Krise und Reines Bewusstsein – Doris Iding

von Thomas

IdingBurnoutTextWie geht es einem Menschen, der viele Jahre als spiritueller Autor und Lehrer unterwegs ist und plötzlich ein Burnout erfährt? Doris Iding beschrieb diese Krise in ihrem Buch „Die Angst, der Buddha und ich“ auf berührende, eindringliche Weise. In diesem Textauszug erzählt sie über Erkenntnisse aus ihrer inneren „Reise“.


Ein gesundes Ich und das reine Bewusstsein

Besonders durch meinen achtsamen Atem gelang es mir im Verlauf der Monate immer wieder – manchmal für Momente, manchmal auch länger –, im reinen Bewusstsein zu ruhen. In jenen Momenten waren meine Erfahrung und Wahrnehmung weit wie der Raum, und gleichzeitig war ich sehr präsent und achtsam bei dem, was gerade geschah – ohne Schutzwall, ohne das Gefühl, auf der Hut vor irgendetwas sein zu müssen. Damit spürte ich eine ganz natürliche Verbindung mit meinem Herzen und dem Leben gleichermaßen. Dadurch wurde es mir immer wieder möglich, die Situation und das nächtliche Flimmern anzunehmen und mit ihm im Reinen zu sein. Dies gelang und gelingt mir natürlich nicht durchgängig, aber immer wieder, und dadurch kann ich die Situation besser annehmen, ohne mich vollkommen in ihr zu verfangen – oder allzu lange darin zu verweilen.

Das Wissen um dieses reine Bewusstsein, das von Ängsten unberührt bleibt und in dem auch die Angst ihren Platz hat, war und ist für mich selbst stets aufs Neue sehr heilsam. Gleichzeitig musste ich mich während der akuten Phase meiner Erkrankung auch ganz gezielt um die Stabilisierung meines Ichs kümmern. Jeder Mensch braucht ein gesundes Ich. Während ich früher immer eine große Sehnsucht danach hatte, mein Ich vollkommen aufzulösen, um in einer harmonischen Verschmelzung mit dem Rest der Welt aufzugehen, ging es bei mir durch die Angsterkrankung zunächst einmal darum, mein Ich zu stabilisieren und die Ursachen meiner Ängste zu finden. Früher hatte ich geglaubt, es ginge nur um die Überwindung des Ichs. Durch die Ängste, die durch meine Erkrankung aufgebrochen waren, wurde mir noch einmal bewusst, dass es als Allererstes eine Stabilisierung des eigenen Ichs und eine Integration all unserer Anteile braucht. Egal, wie schmerzvoll dieser Prozess auch sein möge.

Im Unterschied zur westlichen Psychologie ist es im Buddhismus mit der normalen Entwicklung aber noch nicht ganz getan, denn der Buddhismus geht davon aus, dass wir spirituelle Wesen sind, die eine menschliche Form angenommen haben. Das bedeutet, dass wir unsere Kontonummer genauso kennen sollten wie unsere Buddha-Natur. Diese Buddha-Natur strebt ein gesundes Ich an, das in der Lage ist, einer Arbeit nachzugehen, eine Beziehung zu führen und den Alltag zu managen, die eigenen Schattenseiten zu integrieren und bei alldem stets im reinen Bewusstsein verweilt. »Gestehe deine verborgenen Schwächen ein. Nähere dich dem, was du abstoßend findest. Hilf denjenigen, denen du nicht helfen zu können glaubst. Woran immer du hängst, lass es los. Geh an die Orte, die du fürchtest«52, lauten die Ratschläge des Meisters für seine Schülerin, die tibetische Yogini Machik Labdrön. Mir verdeutlichten sie, dass ich den spirituellen Weg nicht ohne ein gesundes Ich zu Ende gehen konnte. Andernfalls würde ich etwas Wesentliches auslassen. Mich selbst. Jetzt half mir das Wissen um mein reines Bewusstsein dabei, mich in seinem Schutze noch einmal intensiver und tief gehender als früher mit meinen eigenen Ängsten und den dahinterliegenden Ursachen auseinanderzusetzen, um so zu innerer Ganzheit und Harmonie zu gelangen. Erst jetzt realisierte ich, dass ich ohne diese grundlegende Heilung von meinen Ängsten keine tieferen Ebenen der spirituellen Praxis erreichen konnte. Und erst jetzt verstand ich, warum ich bis dahin all die tiefen Erfahrungen des reinen Bewusstseins nicht hatte in mein Leben integrieren können.

Früher hatte ich unbewusst immer gedacht, ich könnte mich über die Probleme und Schwierigkeiten, die meine Contergan-Erkrankung mit sich gebracht hatte, erheben und in einem spirituellen Bereich voll göttlicher Freuden landen, in dem es nur Harmonie und Liebe, aber keine Ängste und keine Verletzungen gäbe. Auch wenn ich manche Techniken kannte, die mich zeitweilig beflügelten, so kamen die Ängste doch immer wieder. Unter alldem lagen jene unbearbeiteten Probleme meines Körpers und Herzens, die ich gehofft hatte durch Erleuchtung umgehen zu können. Ich wusste, dass ich, um auf dem spirituellen Pfad weitere Tiefe zu erfahren, das Ausmaß meiner eigenen Verletzungen erkennen musste, all den Schmerz, den ich aus meiner Kindheit mitgebracht hatte und all den geheimen Kummer, der dadurch entstanden war.

All diese Gefühle existieren genauso wie das reine Bewusstsein und wollen genauso beachtet werden wie dieses reine Bewusstsein, auch wenn wir auf einer gewissen Ebene nicht unsere Körperempfindungen, Gedanken und Gefühle sind. Auf einer ganz bestimmten Ebene sind wir es dennoch! Erst jetzt erfuhr ich, dass diese Heilung unbedingt notwendig war, um all die spirituellen Erkenntnisse, die ich im Laufe der letzten Jahre gesammelt hatte, in das alltägliche Leben integrieren zu können. »Unbearbeiteter Schmerz, gespeicherte Wut, die aufgelösten Traumata des misshandelten oder vernachlässigten Kindes sind mächtige unbewusste Kräfte in unserem Leben«, schreibt Jack Kornfield. »Solange wir unsere alten Verletzungen nicht erkennen, spüren und verstehen, wiederholen wir immer wieder ihre Muster des unerfüllten Verlangens, des Ärgers und der Verwirrung.«

Tiefe Heilung findet immer wieder neu statt. Es ist ein langer Weg. Es ist ein abwechslungsreicher Weg, auf dem mal die Achtsamkeit, mal die Geduld und dann wieder das Leben mit all seinen unvorhersehbaren Ereignissen das Tempo bestimmen. Aber die Heilung findet immer dann statt, wenn ich mich mir selbst und all den bislang nicht integrierten und teilweise traumatisierten Anteilen meines Ich voller Mitgefühl zuwende. »Es ist nicht das Vollkommene, sondern das Unvollkommene, das unserer Liebe bedarf.« Es war nicht mein reines Bewusstsein, das in dieser Zeit meines Lebens meine Aufmerksamkeit brauchte, sondern all die alten Verletzungen, die sich durch die Angst Aufmerksamkeit verschaffen wollten.

In diesen Monaten lehrte der Buddha mich, dass der wichtigste Teil des spirituellen Lebens nicht darin besteht, großartige transzendentale Erfahrungen zu machen, sondern darin, sich selbst mit allen lichtvollen und dunklen Seiten inklusive der Ängste anzunehmen. Je mehr Aufmerksamkeit ich diesen dunklen Seiten schenkte, ohne mich mit einem Aspekt wieder vollkommen zu identifizieren, desto schneller kam ich mit meinem eigenen reinen Bewusstsein wieder in Verbindung.

Die Heilung von der Angst ist ein komplexer Vorgang, der alle Ebenen meines Daseins durchzieht, die alltäglichen genauso wie die spirituellen. Mal ist es die Hinwendung zu meinem reinen Bewusstsein in der Meditation, die mich daran erinnert, dass nichts wirklich stirbt und nichts Angst haben muss. Dann braucht es wieder die Beschäftigung mit meinem Körper, meinen Gefühlen und meinen Gedanken, um erneut auftauchende Ängste zu bewältigen. Alles fließt ineinander. Nichts kommt ohne das andere aus. Ein Kreislauf, der niemals enden wird.

Doris Iding

Dies ist ein Auszug aus:
AngstBuddhaCovertext

“Die Angst, der Buddha und ich” von Doris Iding
Gebundene Ausgabe: 256 Seiten
Verlag: Nymphenburger Verlag, 2013
Sprache: Deutsch
ISBN: 978-3485014052

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Rezension von Thomas Schmelzer auf MYSTICA

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1 Kommentar

Franz Josef Neffe 26. November 2013 - 13:44

Wie schön, dass das Leben nur PRO-bleme für uns hat und keine Anti-Bleme!
„bleme“ kommt von griechisch „ballein = werfen“.
Ein Pro-blem ist also ein Ball, den dir das Leben zuspielt, um dir zu sagen: „DU BIST NOCH IM SPIEL! Spiele weiter!“ Ungünstig würde es erst, wenn einem das Leben keinen Ball mehr zuspielt.
So sehe ich das aus der Perspektive der neuen Ich-kann-Schule.
Das Leben möchte ja nicht, dass ihm langweilig wird mit uns; drum lässt es sich immer wieder was für uns (und sich) einfallen.
Wenn es die nächste Aufgabe immer noch leichter machen würde, würden Kräfte nicht mehr gebaut und abgebaut; da wäre unser Leben ein einziger DEgenerationsprozess. Lebensaufgaben sorgen als Herausforderung der Kräfte für REgeneration.
Das Leben lässt uns nicht im Stich und zurück.
Esb nimmt uns immer mit.
Wenn wir dann einen mitgenommenen Eindruck machen, liegt es nicht daran, dass uns das Leben mitgenommen hat sondern daran dass wir nicht mit wollten.
Herzlich grüßt
Franz Josef Neffe

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