Viele freie Derwische wurden außer von hinduist. Strömungen auch vom Malamatitum beeinflusst, einer mystischen Sekte, die vom 9. bis zum 11. Jh. im iranischen Nishapur entstand. Das Heil der Malamatis (türk. melami) lag damals in der Bereitschaft, die Geringschätzung und Demütigung durch die Mitmenschen, denen der mystische Weg suspekt ist, zu ertragen. Diese Haltung wandelte sich jedoch zu einem pädagogischen Prinzip, zu einer Lehrmethode, bei der es darum geht, dem Schüler seine Schwächen und seine Egozentriertheit deutlich vor Augen zu führen. So verstärkt sich bei ihm das Gefühl der eigenen Nichtigkeit – die er natürlich nicht gern sehen will. Alle, die auf einen geistigen Weg gehen, fühlen sich zuerst einmal „auserwählt“ und „besonders“. Das barsche, manchmal abweisende und rüde Verhalten eines Lehrers, der „Tadel“ (arab. malama, türk. melem), den es auch in anderen Traditionen wie dem → Zen gibt, sticht in die Wunde der eingebildeten Persönlichkeit des Schülers. Das äußere Verhalten des Meisters ist allerdings getragen von einem intensiven Mitgefühl und selbstloser Liebe zum Schüler. Es ist eine Haltung des Dienstes am und für den Menschen.
Diese Methode dient vor allem dazu, den inneren Kampf gegen Eitelkeit, Selbstliebe und Selbstgefälligkeit zu stärken. Eine weitere „Säule“ der Unterrichtung ist edeb, Manieren. Das bedeutet, dass der Adept lernt, in jeder Situation die Fassung zu bewahren und auch auf Beleidigungen von Mitmenschen nicht emotional zu reagieren.
Das Malamat-Prinzip als Lehrmethode wurde von vielen Sufi-Orden (→ Sufismus) übernommen. Die meist ekstatischen Methoden der freien Derwische brechen ein grundlegendes Tabu des traditionellen Islam, der dualistischen Verschiedenheit von Allah und Mensch. Dieser Verstoß gegen den orthodoxen Glauben wird als „Verrückheit“ (majzub) betrachtet. Dem ekstatischen Derwisch geht es wie Ekstatikern anderer Wege um die Vereinigung mit Gott, um die Selbstverlorenheit im Gottes- bzw. Geistbewusstsein. Ein Majzub ist entweder bereits von Geburt an „entrückt“ oder hat „unter dem Schock einer mystischen Vision oder irgendeines anderen seelischen Erlebnisses seinen Verstand verloren“ (Annemarie Schimmel 1990) – zumindest von einem traditionalistischen Standpunkt aus gesehen. Wenn er einen Meister, pir, hat, dann lehrt dieser ebenfalls auf ungewöhnliche und für Außenstehende befremdliche Weise.
Es geht darum, die Wirklichkeit jenseits jeder Anhaftung und jedes Dualismus zu finden. Insofern ist diese Sufi-Richtung mit dem → Advaita-Vedanta verwandt – mit dem Unterschied, dass der Weg zur Erkenntnis über ein Leben in völliger Selbstaufgabe verläuft.
Das Prinzip des Malamati hat in gewisser Weise auch → G.I. Gurdjieff gelebt und gelehrt. Er betonte mehrfach, dass das „absichtliche Leiden“ (wie er es bezeichnete) ein direkter Weg zur Aufgabe jeder Identifikation mit der weltlichen Persönlichkeit sei und der wirksamste Weg zur Nichtanhaftung an existenzielle Bedingungen und soziale Zwängen. Sein Verhalten wurde häufig als nichtkonform und unkonventionell geschildert. Damit schreckte er Menschen ab, die nicht bereit oder fähig waren, sich von gesellschaftlichen Konventionen zu lösen. Dabei ist diese Nichtkonformität kein Selbstzweck. Sie dient dazu, die unbewussten Verhaftungen zu erkennen und einen eigenen, inneren Weg zu finden – auch im Rahmen des „normalen“ Lebens. Damit folgte er dem → Naqschibandi-Motto: „In der Welt, aber nicht von der Welt zu sein.“
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