„Melancholia“ – Filmbesprechung von Ulla Geiger

von Thomas

melancholiaCoverVersteht man Kunst als Sprache, so ist das Folgende keine „Kritik“, sondern meine persönliche Antwort auf das mir durch diesen Film Mitgeteilte.

Ich kam aus dem Kino und dachte: So, jetzt habe ich den großartigsten aller Filme gesehen. Perfekt spielen alle Ebenen harmonisch zusammen. Die Form ist vollkommen für den Inhalt: Die Musik unterstreicht die Situationen ohne vordringlich zu sein – die Kamera reagiert auf die Personen, als ob sie vorher nicht wüsste, was im nächsten Moment passiert – die großartigen Schauspieler geben mir nicht einen Moment das Gefühl, dass sie als solche agieren – die Symbole sind Türen, durch die ich hindurchgehen kann, aber nicht muss. Jeder kann diesen Film auf seine ganz eigene Art erleben und verstehen.

Worum geht es? Der Planet Melancholia prallt nach einem „Todestanz“ von Annäherung und Entfernung auf die Erde. Die Geschehnisse sind streng wissenschaftlich möglich, wenn auch mit äußerst kleiner Wahrscheinlichkeit. Normalerweise würden Astronomen einen sich nähernden Planeten Jahre im Voraus bemerken. Dieser aber war hinter der Sonne versteckt und so erst kurze Zeit vor dem Aufprall sichtbar.

Vier Personen erleben die Geschehnisse in ihren unterschiedlichen Lebenshaltungen: Justine (Kirsten Dunst) ist an einer Melancholie über die Menschheit erkrankt – ihre Schwester Claire (Charlotte Gainsbourg), deren übliche  Kontrollmechanismen hier versagen, hat nackte Angst – ihr Mann John (Kiefer Sutherland) versucht sich mit wissenschaftlicher Beobachtung zu retten und verdrängt die Wahrheit – Leo, Claires und Johns Sohn (Cameron Spurr – ca. 7 Jahre) sucht Orientierung in den Haltungen der Erwachsenen.

Der Film beginnt mit symbolischen Bildern unendlicher Langsamkeit, wie aus einer anderen Zeitdimension. Wagnermusik (Prélude aus Tristan und Isolde) begleitet sie. Die Bilder zeigen Justine, Claire und ihren Sohn Leo, im Wechsel mit All-Bildern des sich der Erde nähernden Planeten Melancholia. Die Sequenz gleicht einer emotionalen Vorschau, einem symbolischen Trailer über die kommenden Geschehnisse: Justine schlägt die Augen auf und tote Vögel fallen vom Himmel – Claire flüchtet, Leo tragend, durch eine Wiese, in der sie knietief versinkt – aus Justines Händen sprüht Lichtenergie wie aus den Elektrizitätsmasten – Justine versucht sich, von riesigen, lianengleichen Spinnweben gebremst, fortzubewegen – Justine, in ihr Brautkleid wie in Licht gehüllt, lässt sich in einem Bach treiben (gleich einem ihrer präraffaelitischen Lieblingsbilder „Ophelia“ von John Everett Millais) – Leo schnitzt einen Stab – schließlich prallt Melancholia auf den Planeten Erde und dringt in ihn ein.


1. Kapitel:

Justine feiert ihre Märchen-Hochzeit auf Claires und Johns schlossähnlichem Landsitz in wunderschöner Natur. Justine wirkt verliebt und unbeschwert. Ihr Chef befördert sie von der Texterin zur Art-Direktorin der Werbeagentur. Nach und nach zeigt sich aber, dass sie an einer schweren Depression leidet. Ihre Schwester Claire, die die Hochzeit akribisch, straff organisiert hat, befürchtet, dass Justine aus dem Ruder läuft. Ihr Mann John will Dankbarkeit für das viele Geld, dass er für seine Schwägerin ausgegeben hat.

Justine verlässt die Feier und betrachtet wie magisch angezogen im Park den nächtlichen Sternenhimmel. Als die Hochzeitstorte angeschnitten werden soll, sitzt sie in der Badewanne – unfähig sich weiter in die verlogene Heiterkeit der feiernden Gesellschaft einzuordnen.

Sie sucht Hilfe bei ihrer Mutter (Charlotte Rampling). Diese widersetzt sich auf ihre Art der Gesellschaft, mit offenem Sarkasmus. Justine zeigt der Mutter in ihre ganze Hilflosigkeit: „Ich hab Angst!“. Doch die Mutter schickt sie kalt aus dem Zimmer: „Die haben wir alle!“

Justine versucht die Hochzeitsnacht mit ihrem Mann Michael (Alexander Skarsgard) zu vollziehen, doch sie flüchtet in den nächtlichen Park. Dort vollzieht sie den Akt in Verachtung mit einem Mitarbeiter der Werbeagentur (Brady Corbet). Zum fortgeschrittenen Fest zurückgekehrt tanzt Justine mit ihrem Vater (John Hurt), sich an ihn klammernd. Doch auch er kann ihr keinen Halt geben. Er ist auf seine Art, in der Rolle des verrückten Narren, mit dem Leben uneins. Er reist ab, obwohl sie ihn dringend bittet zu bleiben.

Alles zerschlagend kündigt Justine ihrem Chef und zeigt ihm offen Verachtung für seine Person und die skrupellos profitgierige Werbebranche. Michael ist am Ende und spricht mit Justine über Gedanken, sie zu verlassen. Sie lässt ihn: Was hätte er denn schon von ihr erwartet! Frei nach Marilyn Monroe: Wenn du mit meinem Schlechten nicht kannst, bist du mein Gutes nicht wert!

Schwester Claire sagt Justine, dass sie sie hasst und gibt das Fest auf. Justine: „Ich hab es versucht.“ Claire: „Ich weiß!“


2. Kapitel:

Justine, inzwischen schwer depressiv, wird von ihrer Schwester ins Schloss aufgenommen und umsorgt. Justine kann nur noch apathisch liegen, kaum gehen, nicht essen, nicht baden.

Melancholia hat sich der Erde bedrohlich genähert. John beschwichtigt und erklärt das Ganze zum faszinierenden Naturschauspiel: Der Planet würde vorbeifliegen. Er betreibt aber Vorsorge für Stromausfälle und andere Engpässe.

Es schneit im Sommer.

Leo – in besonderer Beziehung zu seiner Tante Justine – zeigt der im Bett Liegenden auf seinem Laptop Bilder von Melancholia. Doch Justine ist nicht geängstigt. Sie scheint vielmehr in wachsendem Frieden mit der drohenden Apokalypse. Sie legt sich nackt an das Ufer des Bachs und badet im nächtlichen Licht von Melancholia. Ist das Bild der im Bach treibenden Braut im weißen Kleid in der Exposition gleich einer Hochzeit mit dem Universum, so ist dieses Bild nun gleich dem Vollzug des sexuellen Aktes. Was Justine mit den lügenden Menschen nicht vollziehen kann, vollzieht sie nun in unendlicher Hingabe mit dem aufrichtigen Universum.

Der Strom fällt aus. John holt gelassen, fast fröhlich die Petroleumlampen. Claire liest im Internet Informationen, die einem Vorbeiflug widersprechen und besorgt Schlaftabletten. Justine nimmt die Vernichtung an: „Die Erde ist schlecht, man braucht nicht um sie zu trauern!“ Sie weiß, dass sie Dinge „weiß“.

Claire sitzt auf der Terrasse in einem harmlos, sanften, fast zärtlichen Wind, der vom nahen Planeten erzeugt scheint. Sie kontrolliert mit einem von John gebautem Drahtgestell das Näherkommen und stellt fest, dass er größer geworden ist. Panisch sucht sie John, stellt fest, dass die Tabletten fehlen und findet ihn tot im Pferdestall. Der Verleugner der Realität ist somit der Schwächste und reiht sich in die Linie aller anderen Männer des Films. Claire bedeckt ihren Mann mit Stroh und lässt das Pferd frei, damit Justine und Leo (und sie selbst?) glauben sollen, John wäre ins Dorf geritten.

Die Strommasten sprühen Funken. Der Planet ist bedrohlich nah. Claire versucht, mit Leo ins Dorf zu fliehen. Justine: „Das hat doch nichts mit dem Dorf zu tun!“ Aber die Autos funktionieren nicht mehr und das Golf-Elektromobil bleibt an der Wald-Brücke stehen. Diese erscheint wie die magische Grenze eines Raums, aus dem man nicht entfliehen kann. Auch Justines Pferd hatte sich bei Ausritten schon zweimal widersetzt, diese Brücke zu überqueren.

Claire bittet Justine, auf der Terrasse gemeinsam bei einem Glas Wein, den Untergang geschehen zu lassen. Justine findet den Plan „beschissen“! Claire sagt der Schwester, dass sie sie hasst.

Leo sucht bei Justine Beruhigung seiner Angst. Sie sagt ihm: „Du musst keine Angst haben“. Die Gesellschaft hatte ihr – im Widerspruch zur inneren Wahrheit – die Kraft geraubt. Nun ist das Außen in Harmonie mit ihrem Innen und sie wird zum Fels in der Brandung. Sie baut mit Leo aus wenigen Ästen eine „magische Höhle“, eine, in ihrer Fragilität lächerlich anmutende, „Schutz“-Pyramide.

Hand in Hand sizen die Drei – hinter ihnen riesengroß am Himmel Melancholia – unter dem Gestell und erwarten den Aufprall: Claire verzweifelt in ihrer Angst, Justine in gefasster Anspannung, Leo mit friedlich geschlossenen Augen. Melancholia dringt mit einem Feuersturm in die Erde ein. Die Menschheit geht unter.

Alle Personen – außer dem Kind Leo in seiner Unschuld – hatten auf ihre Art ihr Leben in „Negativität“ gelebt: In hilfloser Depression, ängstlicher Kontrolle, verdrängender Wissenschaftsgläubigkeit; in Sarkasmus, Verrücktheit, Skrupellosigkeit, Habgier oder Schwäche. Musste die Menschheit zerstört werden? Oder hat der Mensch mit seiner Melancholie und seiner Traurigkeit über sich selbst den gleichnamigen Planeten magisch angezogen? Dann wäre dieser Film auch eine Vision der Macht und der Kraft! Denn dann könnte die Menschheit mit einer veränderten Haltung auch Heilung und Wachstum von Gutem wie ein Magnet auf sich ziehen!

Eine Rezension von Ulla Geiger (Schauspielerin und Autorin)

„Melancholia“
Regie: Lars von Trier
Darsteller: Kirsten Dunst, Charlotte Gainsbourg, Kiefer Sutherland
Spieldauer: 131 Minuten
Produktionsjahr: 2011
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Ulla Geiger ist tätig als Selbsthilfe-Coach und Autorin. Weitere Tätigkeiten im Bereich Film und Fotografie.

www.coaching-zur-selbsthilfe.de

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