Trunken vom Wein des Allerbarmers – Roland Rottenfußer

von Redaktion

Der Sufismus verkörpert die mystische, sinnliche und ekstatische Seite des Islam.

von Roland Rottenfußer

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„Ich bin ein Sufi. Das ist keine Krankheit, sondern eine Philosophie“, sagte Monsieur Ibrahim und fügte verschmitzt hinzu: „Auch wenn es Philosophien gibt, die eine Krankheit sind“. Der glutäugige Altstar Omar Sharif spielte den weisen Lebensmittelverkäufer und Sufi-Gelehrten Monsieur Ibrahim in Francois Dupeyrons gleichnamigem Film nach einem Roman von Eric Emmanuel-Schmitt. Erzählt wird die Geschichte des halbwüchsigen jüdischen Jungen Moses, der in einer finanziellen Notlage regelmäßig beim „Araber“ (gemeint ist der aus der Osttürkei stammende Ibrahim) Konservendosen stiehlt. Als Ibrahim ihn auf die Diebstähle anspricht, verspricht Moses kleinlaut, dass er den Schaden ersetzen werde. Der Alte aber schmunzelt nur und sagt: „Du bist mir nichts schuldig. Wenn du schon stehlen musst, dann ist es mir lieber, du tust es bei mir.“ Und er packt dem Jungen gleich noch ein paar Lebensmittel mehr in seine Tasche.

Diese ungewöhnliche Verhaltensweise hat sich mir unauslöschlich eingeprägt, weil sie allem zu widersprechen scheint, was in unseren Breiten als „normal“ gilt: der Gewohnheit, „geschäftstüchtig“ zu sein (d.h. immer den eigenen Vorteil zu Ungunsten des Anderen zu suchen) wie auch dem Bedürfnis zu bestrafen und, indem man dem Täter Leiden zufügt, einen „gerechten“ Ausgleich herzustellen. Was steckt hinter Ibrahims merkwürdigem, ja skandalösem Verhalten? Die Einsicht, dass der Besitz auf unserer Erde ohnehin ungerecht verteilt ist? Oder schlichtes Erbarmen, eine jede Logik von Strafe und Rache transzendierende Einsicht, dass man „das Böse“ nur bekämpfen kann, indem man ihm ein überlegenes Verhalten gegenüberstellt, nicht indem man es mit einem Verhalten auf ähnlich niedrigem Niveau beantwortet?

„Wenn dir jemand deinen Rock stiehlt, gib ihm auch den Mantel dazu.“ Dieser Satz stammt nicht vom Propheten aller Muslime und damit auch aller Sufis, sondern von Jesus. Monsieur Ibrahim scheint diesen Grundsatz vorbildhaft verwirklicht zu haben. Das berühmte Sufi-Wort „Ihr habt zwar das Kreuz, aber wir haben Jesus“ wird hier unmittelbar verständlich. Nicht immer haben diejenigen, die sich „Christen“ nennen, den Geist des Evangelium am Reinsten verwirklicht. Der weise Ibrahim wird zum spirituellen Meister, Lebenslehrer und Ersatzvater des jungen, von beiden Eltern verlassenen Moses. Nachdem er ihm eine Reihe eindrucksvoller Lehren mit auf den Weg gegeben hat, stirbt er einen sanften Tod in seinem türkischen Heimatdorf.

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Tanz ins Erwachen

In diesem wunderbar leisen, menschlichen und anrührenden Film kann man in einer Szene auch den berühmten Drehtanz der Mevlevi-Derwische sehen. Diese Sufi-Schule wurde im 13. Jahrhundert von dem großen Mystiker und Dichter Dschelaladdin Rumi gegründet. „Derwisch“ ist nichts anderes als ein persischer Ausdruck für „Sufi“. Von Rumi geht die Legende, dass er in Konya (Südtürkei) die vollständige Erleuchtung erlangt habe, indem er sich ununterbrochen zwei Tage und Nächte lang um seine eigene Achse gedreht habe. Bei diesem Tanz sei ihm aufgegangen, dass Gott selbst in allen Bereichen der Schöpfung um sich selbst kreist, dass der Liebende (Sufi) und der Geliebte (Gott) eins sind.

Diesen Rundtanz nun ahmen Mevlavi-Derwische bis heute bei ihren farbenfrohen Auftritten nach. Sie tragen dabei ein weißes Gewand mit weitem Rock, der sich beim Tanz durch die Fliehkraft weit nach außen wölbt, sowie einen zylinderförmigen grauen Filzhut. Mit vor der Brust verschränkten Armen beginnen sie sich gegen den Uhrzeigersinn um die eigene Achse zu drehen, wobei der linke Fuß auf der Stelle bleibt und der rechte die Bewegung durch rhythmisches Stampfen vorantreibt. Nach einer Weile beschleunigt sich der Tanz, der Tänzer öffnet die Arme und neigt seinen Kopf zur rechten Seite. Dabei ist die rechte Hand nach oben geöffnet, um die himmlische Energie zu empfangen, während die linke Hand nach unten geöffnet ist, um diese Energie an die Erde weiter zu geben.

Somit streben die Sufis nicht nur ihre eigene Erleuchtung an, sondern wollen göttliche Kraft an die Schöpfung weiterleiten. Um Schwindelgefühle zu vermeiden, halten die Tänzer ihren Blick auf das linke Daumengelenk gerichtet. André Ahmed al Habib, Münchner Sufi-Lehrer und Autor einer Einführung in den Sufismus, beschreibt den Effekt dieses Drehtanzes folgendermaßen: „Wird das Ganze korrekt ausgeführt, geraten die Menschen sehr schnell in einen der höheren Bewusstseinszustände. Im Sufismus geht man nicht von einem plötzlichen Erwachen aus, sondern von einem langsamen Hinüberfließen in die Erkenntnis. Praktiziert man den Tanz regelmäßig, so verfestigen sich die Erkenntnisse und die Menschen beginnen zu erwachen.“

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Gott, der Allerbarmer

Weitere spirituelle Übungen der Sufis sind die Rezitation von göttlichen Namen und Koranverse (Dhikr), Meditation (Fiqur) und die Aktivierung feinstofflicher Zentren im Körper (Lativa). Es ist sicher richtig, hier Vergleiche zum Yoga zu ziehen, wo man die Mantrenrezitation, Meditation und die Arbeit mit Chakren kennt. Lediglich die Tänze sind eine im Yoga nicht gebräuchliche Spezialität der Sufis. Was die Anrufung der Namen Allahs betrifft, so sind deren 99 bekannt – von Ar-Rahman (der Allerbarmer) bis As Sabr (der Geduldige). Der 100. Name gilt als geheim und besonders wirkungsvoll.

Beim Dhikr (wörtlich: Erinnerung) wird das ständige Gottgedenken in Form ritueller Anrufungen geübt, die an Atemübungen gekoppelt sind. Das Dhikr dient auch dazu, sich vom beständigen „Geschwätz“ alltäglicher, meist fruchtloser Gedanken zu lösen. Neben den 99 Namen Allahs werden vor allem zentrale Koranverse rezitiert. Bekannt sind z.B. „Allahu Akbar“ (Gott ist der größte), „Bismillah ar Rahman ar Rahim“ (Im Namen Gottes, des Gnädigen, des Allerbarmers – die ersten Worte des Koran), „La illaha ill’Allah“ (Es gibt keinen Gott außer Gott) oder „Al Hamdulilah“ (Gelobt sei Gott). Wichtig ist bei diesen Anrufungen auch die Atmung, die bei den Sufis als wichtige Verbindung zwischen Gott und den Menschen gilt. Der Übende atmet sozusagen Gott ein und befreit sich durch Ausatmen von allem Nicht-Göttlichen.

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„Liebe zuerst deine Mitmenschen“

Was aber ist ein Sufi? Um dieser Frage nach zu gehen, müssen wir etwas tiefer in Geschichte und Philosophie des Sufismus einsteigen. Der Sufismus ist keine „Konfession“ oder „Sekte“ des Islam, die sich irgendwann durch Abspaltung (vergleichbar dem christlichen Protestantismus) von ihm losgelöst hätte. Vielmehr berufen sich Sufis auf den Propheten Mohammed selbst, dessen esoterische Lehre sie u.a. den Hadiths, nicht-koranischen Überlieferungen des Islam entnehmen. Diese Hadiths sind für Nicht-Muslime häufig noch leichter zugänglich als die Koran-Worte und daher eine lohnende Lektüre. Etwa dieses: „Wenn du glaubst, deinen Schöpfer zu lieben, dann liebe zuerst deine Mitmenschen.“ Oder: „Ich befehle dir, jedem Bedrängten beizustehen, mag er nun ein Muslim sein oder nicht.“

Darüber hinaus ist natürlich der Koran selbst Quelle aller sufischen Weisheit. Allerdings werden die Aussagen des Heiligen Buches weniger wörtlich als in einer sehr indirekten, symbolhaften Weise verstanden. Es ergeben sich dadurch oft drastische Abweichungen vom orthodoxen Islam, was dazu geführt hat, dass Sufis in einigen Epochen und Ländern von ihren islamischen Glaubensbrüdern als Ketzer verfolgt wurden. Auf unsere Verhältnisse übertragen, verhält sich der Sufismus zur Orthodoxie ähnlich wie die revolutionären Aussagen eines Meister Eckhart („Ich bitte Gott, dass er mich seiner ledig macht“) zu Joseph Ratzinger.

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Eine „skandalöse“ Religion

Der mystische, weitherzige, teilweise „skandalöse“ Charakter des Sufismus macht diese Glaubensrichtung auch für Menschen aus dem Westen attraktiv, die sich für die Spiritualität des Ostens (Yoga, Buddhismus, Taoismus) interessieren und auch im Christentum eher nicht-dogmatische Ansätze bevorzugen. Darüber hinaus ist der Sufismus eine außergewöhnlich sinnliche spirituelle Strömung. Er zeichnet sich sowohl durch die Poesie seiner sprachlichen, musikalischen und künstlerischen Darstellungsmittel als auch durch eine für das Abendland bis weit ins 20. Jahrhundert hinein undenkbare Körperintelligenz und Körperfreundlichkeit aus. Selbst den Genuss des Weines lehnen einige Sufi-Schulen nicht ab. Sie sehen in dem Traubensaft eine Widerspiegelung der durch Gottesliebe erzeugten Trunkenheit, die allerdings nicht durch einen Kater bestraft wird.

Als „Yoga des Islam“ sind bereits die täglichen Pflichtgebete der Muslime mit ihren körperlich vergleichsweise anstrengenden Niederwerfungen bezeichnet worden. Die Tanz-, Atem- und Bewegungsübungen der Sufis könnte man darüber hinaus als „spirituelle Bioenergetik“ auffassen. Ein profundes Wissen über die menschlichen Energieströme und ihre Anwendung zur Erlangung mystischer Bewusstseinszustände zeichnet den Sufismus aus. Vom in Zentralasien geborenen Sufi-Meister Gurdjieff führt eine Traditionslinie zur Sannyas-Bewegung des indischen Gurus Bhagwan Shree Rashneesh (Osho), dessen Anhänger durch sinnliche Freizügigkeit und ausgedehnte Tanz- und Schüttelübungen von sich reden machten.
Der historisch dokumentierte Sufismus beginnt mit Hassan Basri (gest. 728), der der Überlieferung nach seine Einweihung unmittelbar durch Ali, den Schwiegersohn und Lieblingsschüler Mohammeds erhalten hat. Einer der bedeutendsten Sufi-Scheichs (Scheich = Meister, Lehrer) ist Muhyddin Ibn Arabi (gest. 1240), der ein komplettes philosophisches Lehrgebäude entwarf, das an die Theosophie Helena Blavatskys erinnert. Allah, so Ibn Arabi, habe die Welt erschaffen, um sich seiner selbst bewusst zu werden. Werkzeug seiner Selbsterkenntnis ist der Mensch, vor allem der Sufi, der erwachte Mystiker, der die höchste Stufe der Gotteserkenntnis erreicht hat, indem er eins mit Allah selbst wird.

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„Wo die Liebe ist, gibt es kein Ich“

Der im Westen vielleicht bekannteste Sufi-Meister ist der schon erwähnte Dschelaladdin Rumi, der vor allem wegen seiner dichterischen Werke zu Weltruhm gelangte. Seine Verse, niedergeschrieben in Klassikern wie „Mathnawi“ und dem „Diwan“, zeichnen sich durch tiefe Gottesliebe und eine unvergleichlich bilderreichen Sprache aus. Die bekannte Orientologin Annemarie Schimmel schreibt über Rumi: „Und nicht zuletzt war Dschelaladdin Rumi ein Liebender, der die tiefsten Geheimnisse der Religion nicht in theologischen Diskussionen fand, sondern im liebenden Gebetsgespräch mit Gott: von ihm stammen jene unvergesslichen Zeilen, dass nicht der Mensch von sich aus betet, sondern dass Gott selbst in ihm betet – wenn der Mensch gelernt hat, zu schweigen und der Anrede des göttlichen Geliebten zu lauschen.“

Damit ist Rumi nicht nur ein Bruder im Geiste zahlreicher christlicher und hinduistischer Mystiker, er inspirierte auch abendländische Dichter wie Goethe (dessen west-östlicher Diwan an Rumi anknüpft) und Rilke, der in einem wunderbaren Gedicht schreibt: „Wenn es nur einmal so ganz stille wäre (…), dann könnte ich in einem tausendfachen Gedanken bis an deinen Rand dich denken und dich besitzen (nur ein Lächeln lang), um dich an das Leben zu verschenken wie einen Dank.“ Ein Textbeispiel aus Rumis Oden: „Wo die Liebe ist, gibt es kein Ich. Für den Geliebten ist alles nur das Du. Der Weg zu Gott ist der Verlust des Selbst. Erfreue dich, mein Gott, an deinen Liebenden! Geheiligt sei ihr Tod! Ein Festschmaus sei deine Schönheit für sie! In deiner Glut mögen wie Weihrauch ihre Seelen brennen.“

Der Sufismus, häufig als „mystischer Kern aller Religionen“ bezeichnet, kann auch als eine Verheißung aufgefasst werden, eine Einladung, von der auch Nicht-Muslime nicht ausgeschlossen sind. Auf Rumis Grab in Konya steht dieses schöne Gedicht: „Komm, komm,/ Wer immer du bist,/ Wanderer, Götzenanbeter./ Du, der du den Abschied liebst,/ Es spielt keine Rolle./ Dies ist keine Karawane/ Der Verzweiflung./ Komm, auch wenn du deinen Schwur/ Tausendfach gebrochen hast,/ Komm, komm/ Noch einmal komm.“

von Roland Rottenfußer

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