„Wir sehen nicht nur das Wissen, das vor unseren Füßen liegt, sondern erkennen auch die in Raum und Zeit weit entfernt liegenden Ursachen“ (Terencio, peruanischer Schamane, in: Nana Nauwald 2002, 163). Schamanismus und Schamanen waren jahrhundertelang „Phänomene der Wilden“, die zuerst von christl. Missionaren und später von Naturforschern und Ethnologen beobachtet wurden. Beobachtung – auch wenn sie eine teilnehmende ist – kann jedoch nie in die Erfahrung dessen führen, was man beobachtet. Das Bild hat sich inzwischen gewandelt, weil das Interesse an der Erfahrung schamanischer Rituale in den letzten 30 Jahren in den westlichen Industrieländern stark gewachsen ist und immer mehr Menschen die Arbeit von Schamanen direkt erfahren können – durch Kongresse, Seminare oder Heilsitzungen.
„Wie kommt es, dass das Interesse am Schamanentum – der ältesten spirituellen, heilkundlichen und psychologischen Disziplin der Menschheit – in unserem Zeitalter der Raumschiffe und Computer neu erwacht?“ fragt der Ethnologe Roger N. Walsh. Vielfältig sind die Antworten auf seine Frage: Schamanische Techniken des Heilens sind oft sehr schnell wirksam. Sie finden in einem magisch-rituellen (→ Magie, → Ritual) Zusammenhang statt, der alle Sinne berührt. Schamanismus nährt die Sehnsucht nach einem Leben in Verbundenheit mit der Natur und dem Geist der Natur, das durch die Ökologiebewegung der letzten Jahrzehnte immer stärker ins Bewusstsein der westlichen Menschen trat. Ein wichtiger Aspekt ist außerdem, dass Schamanismus ein offenes, undogmatisches spirituelles System ist.
Hinter dem Schamanismus verbirgt sich kein einheitliches Phänomen. In den vermutlich über 400 000 Jahren seines Bestehens (von vielen archäologischen Funden belegt) hat er in jedem Kontinent, in jedem Volk unterschiedliche Praktiken und Techniken entwickelt, die sich kulturspezifisch unterscheiden. Eine mögliche Herkunft des Wortes „Schamane“ stammt von der Bezeichnung saman beim Volk der sibirischen Ewenken. Über die russische Sprache floss dieser Begriff als „Schamane“ in die europ. Sprachen ein und wurde in den letzten 100 Jahren im Wort „Schamanismus“ zu einem übergreifenden Wissenschaftsbegriff für alle kulturellen und religiösen Phänomene, die von westlichen Ethnologen in indigenen Kulturen beobachtet wurden.
Den Schamanismus gibt es jedoch genauso wenig wie den Schamanen. So unterschiedlich die Kulturen dieser im Weltbild des Schamanismus lebenden Ethnien sind, so vielfältig ist auch die Erscheinungsform des Schamanismus, so verschieden sind die Pforten, durch die die Schamanen die anderen Welten des → Bewusstseins betreten, so mannigfaltig sind die Bezeichnungen für diese „besonderen Menschen“.
Vom Wesen her ist der Schamanismus keine Religion, eigentlich auch kein „-ismus“, weil er kein festes Glaubensgebäude, keine Dogmen, keine Ideologien und keine hl. Schriften oder schriftlich niedergelegte Offenbarungen kennt. Manche Forscher sagen vielmehr, dass die schamanische Erfahrung und ihre Visionen Grundlage der Religionen sei. Die Grundzüge der Weltvorstellungen, die im Schamanentum vieler Ethnien vorkommen, lassen sich so zusammenfassen:
Das Gefüge der Weltordnung ist verankert in mehreren Ebenen mit unterschiedlichen Zuordnungen an Lebensqualitäten: Unter-, Mittel- und Oberwelt.
Diese Dreiteilung des Kosmos ist durch die Achse des → Weltenbaums miteinander verbunden. Dies ist der Baum des Wissens, der Baum der Erkenntnis (→ Lebensbaum, → Sefiroth) – eine „Informationsachse“, die von den Schamanen willentlich zum Wohle des Einzelnen und somit zum Wohle der Gemeinschaft bereist wird.
Diese Reisen führen in parallele → Bewusstseinswelten, in denen alle Informationen, alles Wissen ohne die Beschränkung von Zeit und Raum gespeichert sind.
Die Abläufe der Zeit werden erfahren als ein Rhythmus der stetigen Erneuerung (→ Risiko).
Alles, was ist, hat einen → Geist und ist mit allem Sichtbaren und Nichtsichtbaren verwoben (→ Geisttiere). So ist auch der Mensch ein Teil dieses lebendigen, sich ständig neu erschaffenden Lebensgewebes.
Bewahrer und Erneuerer des Wissens und Umgangs mit den geistigen Welten der Gemeinschaft ist ein durch besondere Berufung, besondere Begabung und Lernzeit ausgezeichneter Mensch.
Dieser besondere Mensch, ein „von oben Behauchter“, verfügt über die Fähigkeit zum willentlichen Wechsel zwischen Bewusstseinszuständen und Wirklichkeiten, losgelöst von der Persönlichkeit, dem Ego.
Aus diesen Grundzügen heraus wandelt sich die lebendige Erscheinungsform des Schamanismus immer wieder. Schamanismus ist kein starres System, kein Glaubenssystem, sondern eine Erfahrungswissenschaft.
„Wenn der Schamanismus nicht auf eine einzige ‚Erfindung’ zurückgeht, die kontinuierlich über die Zeiten weitergereicht wurde, so muss er in diversen Epochen und Kulturen immer wieder neu entdeckt worden sein. Hieraus lässt sich schließen, dass irgendeine wiederkehrende Kombination aus sozialen Kräften und dem Menschen innewohnenden Fähigkeiten wiederholt für ein Neuentstehen und Weiterbestehen schamanischer Rollen, → Rituale und → Bewusstseinszustände gesorgt haben muss.“ (Roger N. Walsh 2003)
Schamanismus ist auch heute noch eine lebendige Tradition in vielen Ländern und Kontinenten: der Arktis, den polynesischen Inseln, Australien, den Ländern Asiens, Süd- und Nordamerikas und auch Südafrika (→ Sangoma). Auch in Sibirien sowie in der Mongolei wird nach Jahrzehnten der Unterdrückung schamanischer Aktivitäten der Schamanismus wieder neu belebt.
Siehe auch: → Schamanismus, Nepal; → Schamanismus, Nordamerika; Schamanismus, Ausbildung; → Schamanismus, Reisen; → Traumzeit, → Huna, → psychoaktive Pflanzen, → psychedelische Erfahrung, psychedelischer Bewusstseinszustand, → Mantra, → Trance.
2,K
Vorheriger Beitrag