Schläfst Du noch oder praktizierst Du schon? – Doris Iding

von Redaktion

Spiritualität mit Konsumcharakter: von unachtsamen Suchenden und der „Mein Lehrer, meine Erfahrung, meine Retreats“ – Mentalität

Kennen Sie das, wenn spirituell Suchende mit ihren Erfahrungen prahlen wie andere mit ihrem BMW? Erwischen Sie sich gar ab und an selbst dabei? Und übersehen Sie vor lauter Achtsamkeit auch manchmal die deutlichsten Hinweise im Alltagsleben? In den fetten Jahren der Wirtschaft wurde der Reichtum eines Menschen ganz offensichtlich am äußeren Wohlstand festgemacht: das Auto, die Uhr, die Kleidung und die Arbeit verrieten einiges über den Status eines Menschen. Die Zeiten ändern sich. Viele Menschen haben gemerkt, dass ein Mercedes Benz, eine Rolex, Armani und der Vorstandsposten alleine nicht glücklich machen und Erfolg auch nicht alles bedeutet.

Menschen, die das erkannt haben, haben sich aufgemacht und den Blick nach innen gerichtet. Viele sind es geworden. Das lässt sich zumindest an der Zahl der Meditationszentren, Seminarhäuser und Yogaschulen erahnen. Aber sind sie wirklich so viel anders unterwegs als diejenigen, die dem Höher-Besser-Weiter-Prinzip noch anhängen? Auf den ersten Blick zählen bei spirituell interessierten Menschen scheinbar andere Werte, gleichzeitig aber wird auch hier kräftig konsumiert.

Zumindest erscheint es so. Unterhalte ich mich hier und da auf Seminaren, Retreats oder Fortbildungen mit Sinnsuchenden, sind sie immer bemüht, mir als erstes die Jahre der spirituellen Praxis mitzuteilen sowie die Meditationslehrer, unter denen sie meditiert und praktiziert haben, und von den schön gelegenen Retreatplätzen in Asien, USA und Europa zu berichten, an denen sie waren. Aber das, worum es eigentlich geht – die Integration von Achtsamkeit, Bescheidenheit, Demut, Mitgefühl, Einsicht und nicht zuletzt die Integration der spirituellen Erfahrungen in den Alltag, in die intimen Beziehungen, den Umgang mit Kollegen und dem Planeten, bleiben oftmals unerwähnt. Offensichtlich ist es doch ein weiter Weg von unseren Einsichten auf dem Meditationskissen hin zur Integration ins eigene Leben.

Wie weit, fiel mir erst wieder vor kurzem auf, als ich eine Fortbildung für Mediziner von Dr. Jon Kabat-Zinn zum Thema Mindfull Based Stress Reduktion (MBSR) am Benediktushof in Holzkirchen besuchte. Das Thema war „Achtsamkeit“. Und wie groß der Wunsch ist, Achtsamkeit im Beruf anzuwenden, zeigte sich an der hohen Teilnehmerzahl der Fortbildung. Waren es doch insgesamt 150 Ärzte, Psychotherapeuten, Yogalehrer und Coaches, die sich von Jon Kabat-Zinn und Saki Santonelli in die Kunst der MBSR einführen lassen wollten. Die meisten der Teilnehmer waren, wie sich im Verlauf der einwöchigen Fortbildung herausstellte, bereits erfahrene Meditierende und einige schon mehrfach auf einer Fortbildung von Kabat-Zinn gewesen.

Bescheidenheit und Demut waren auf jeden Fall nicht zu sehen, wenn es darum ging, den anderen die eigenen Meditationserfahrungen mitzuteilen. Zu gerne ließ man die anderen wissen, was, wann, wo, wie oft und bei wem man schon alles praktiziert hatte. Besonders gerne beeindruckten sich die Teilnehmer gegenseitig mit Jahreszahlen intensiver Praxis und Schülerschaft bei bekannten Mediations- oder Yogalehrern. Gerade so, als würde die wahre Tiefe ihrer spirituellen Reife von Jahren und Anzahl bekannter Meistern abhängen.

Und natürlich gab man sich auch immer wieder gerne Tipps. Immer wieder hörte ich in diesen Tagen, wie man sich über charismatische spirituelle Lehrer und traumhaftgelegene Retreatplätze austauschte, so wie man sich über Konsumgüter austauscht: Dieser Lehrer ist gut, jener ist schlecht. Dieser ist erwacht, jener tut nur so. Dieser ist ein Spinner, jener ein Meister. Dieser kommt aus einer alten Tradition und hat Ahnung, jener ist ein No-Name und kann deswegen keine Ahnung haben. Dieses Zentrum ist gut, hat aber einen schlechten Koch. Jenes Zentrum liegt traumhaft, ist aber zu teuer usw.

Wann immer ich den Gesprächen gelauscht habe, kam es mir vor, als würde Spiritualität hier konsumiert oder als eine Ware gehandelt. Am liebsten tauschten sich die Teilnehmer bei den Mahlzeiten aus. Alle waren so sehr damit beschäftigt, sich ihre Erfahrungen über gute, schlechte, mittelmäßige oder erwachte spirituelle Lehrer oder eigene umwerfende, tiefgreifende spirituelle Erfahrungen mitzuteilen, dass sie ganz vergaßen, achtsam zu essen.

Überhaupt fragte ich mich immer wieder, wie Menschen, die angeblich seit 10, 20 oder sogar 30 Jahren meditieren, so unachtsam sein können. Im Speisesaal des Benediktushof steht an dem Wagen, auf dem das dreckige Geschirr abgestellt wird, ein großes Schild: „Bitte nur 2 Tassen übereinander stapeln.“ Grundsätzlich waren es mindestens fünf oder sechs Tassen, manchmal sogar 7 Stück, die aufeinander gestellt wurden. Im gleichen Saal hing an einer Ausgangstüre ein Schild auf Augenhöhe: „Kein Eingang. Bitte andere Türe benutzen.“ So, als gäbe es diese Aufforderung nicht, benutzten die Teilnehmer diese Türe.

Übrigens – inklusive meiner selbst. Ich las dieses Schild und war oft einfach zu faul, zu einer anderen Türe zu gehen, zu der ich erst den ganzen Speisesaal hätte durchqueren müssen. Ich wollte so schnell wie möglich auf den Innenhof, um dort im Hof wieder während der Gehmeditation Achtsamkeit zu praktizieren – und kam mir dabei ziemlich lächerlich vor. Wie konnte ich auf der einen Seite Schritt für Schritt achtsam vor mich hingehen und auf der anderen Seite so ignorant einen Wunsch des Gastgeberhauses übergehen? Es passte eigentlich nicht zusammen, so unachtsam zu sein auf einer Fortbildung, bei der es nur um dieses Thema geht. Vor mir selbst entschuldigte ich mich damit, dass es mir wenigstens bewusst war, wie unachtsam ich war.

Ob den anderen ihre eigene Unachtsamkeit bewusst war oder ist, weiß ich nicht. Ich wusste auch nicht, ob es meine Aufgabe war, mich um die Unachtsamkeit der anderen zu kümmern. Zum Beispiel beobachtete ich während einer Gehmeditation zufällig einige Seminarteilnehmer, die auf einer Wiese Gehmeditation praktizierten, vor der ein großes Schild stand: „Diesen Rasen nicht barfuß betreten. Er ist frisch gedüngt!“ Seelenruhig liefen sie barfuß in tiefer Achtsamkeit über diese Wiese. Wie kann man eine Gehmeditation praktizieren und ein solches Schild überlesen? Ich war erstaunt! Aber vielleicht waren andere über mich erstaunt. Vielleicht sahen sie mich in Momenten großer Unachtsamkeit und waren verwundert darüber, dass jemand so verschlafen Achtsamkeit praktiziert.

Es gehört also doch viel mehr dazu, wahre Spiritualität zu praktizieren, als sie nur zu konsumieren, darüber zu lesen, davon zu sprechen oder darüber zu diskutieren. Es gehört die Bereitschaft dazu, nicht nur das Meditationskissen oder die Yogamatte als ein Übungsfeld anzusehen, sondern jeden Moment des Lebens, angefangen von den Momenten, wo man sich in einem Retreat oder auf einer Fortbildung befindet, bis zu den Momenten, wo wir unbeobachtet zu Hause auf unserem Klo sitzen und Zeitung lesen. Achtsamkeit, Bescheidenheit, Demut, Mitgefühl, sprich Spiritualität wollen überall praktiziert werden. Und vor allen Dingen setzt sie voraus, dass sie ihrer selbst wegen praktiziert wird. Und nicht als ein spiritueller Konsumartikel, der missbraucht wird, um das eigene Ego aufzupolieren. Denn solange wir noch so unterwegs sind, schlafen wir noch und praktizieren nicht.

© Doris Iding mit freundlicher Genemigung von YOGA AKTUELL. Dort erschien der Artikel in Ausgabe 57 – 04/2009

www.doris-iding.de

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2 Kommentare

Wolfgang Kaschel 17. Februar 2012 - 09:38

Wenn der Spiegel zerbricht ist kein Spiegel mehr da. <3

Sat Nam, geliebte Doris

Andrea Steinmann 8. Juni 2010 - 10:16

Endlich hat jemand einmal das in Worte gefasst, was ich nicht erklären konnte.
Frau Iding sie sprechen mir aus dem Herzen.

Vielen Dank
Andrea Steinmann

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