Seele ist nach Meinung vieler spiritueller Philosophen und Theologen etwas anderes als „Psyche“ im psychologischen oder neurologischen Sinne, die ja der Theorie zeitgenössischer Gehirnforscher zufolge ausschließlich gehirnfunktional bedingt ist (→ Bewusstsein).
Traditionelle spirituelle Darstellungen gehen davon aus, dass wir bei der Geburt eine Seele mitbringen, die von Anfang an über eine individuelle, substanzielle Qualität verfügt. Wenn Seele als individualisierter Geist, als geistiges Muster des → Selbst oder Ich (im indischen Denken → Atman, → Vedanta) verstanden wird, können einige Missverständnisse geklärt werden. In diesem Sinne wäre Seele eine geistige Qualität, ein „Informationsmuster“ aus der dritten Dimension (→ Geist), weder → Energie noch mentale oder materielle Verkörperung. Deshalb kommt man hinsichtlich der Wirklichkeit einer „Seele“ nicht mit psychologischen oder physikalischen Beschreibungen aus.
Der Theologe und Philosoph Thomas von Aquin (1225-1274) sagte einmal: „Unsere Seelen sind nicht in unseren Körpern, unsere Körper sind in unseren Seelen.“ Das entspricht der heutigen Auffassung einiger Bewusstseinsforscher wie Rupert Sheldrake (→ morphogenetische Felder), der zufolge die Seele ein „Feld“ ist, nicht eine Art feste Struktur, die an einen Körper gefesselt ist. Die individuelle Seele ist eingebunden in dieses Seelenfeld und befindet sich in einer fließenden, sich ständig verändernden Vernetzung mit dem ganzen Feld der Seele, also allen anderen Seelen. Es ist Mittelpunkt, Ausgangspunkt und Endpunkt aller Seelenbewegungen – und gleichzeitig Teil des ganzen Feldes.
Jede individuelle Seele hat eine ganz eigene Qualität, ein eigenes individuelles spirituelles Muster. Möglicherweise ist es die Aufgabe eines Menschen, durch sein Leben in einem materiellen Körper eine ganz bestimmte Qualität herauszuarbeiten, die ihn seinen eigenen Ton in der Sinfonie finden lässt und zum Klingen bringt, bzw. eine eigene Farbnuance im Regenbogen zu erkennen und zu leben – um dann mit dieser Qualität einen Anteil am kosmischen Farborchester zu haben, das durch seinen Klang alle Welten und Universen in Bewegung hält. Vielleicht geht so diese besondere Seelenqualität nach dem körperlichen Tod in ein neues Seelenfeld ein (→ Reinkarnation).
Zur Manifestation der seelischen Qualität (und vielleicht auch „Kraft“) benötigt diese einen → Energiekörper, der ein Bindeglied zur natürlichen Welt darstellt und die Informationen und Wirkungen aus der nichtmateriellen Dimension des → Geistes aufnimmt und vermittelt. Der individuelle Wille eines Menschen, der Anteil an diesem geistigen Feld hat, kann sich nicht direkt mit der Materie verbinden, sondern benötigt dafür diese „Zwischenstation“. Diese Theorie löst den klassischen Dualismus auf, dass Geist nicht auf Materie wirken kann. Wenn man nämlich analog zur Dreiteilung von Materie, Energie und Informationen, die wechselseitig vernetzt sind, eine Energiekonzentration als Bindeglied annimmt, ist es durchaus möglich, dass eine geistige Qualität bis zur Materie Wirkungen haben kann. Über die Erfahrungen in der ersten und zweiten Welt entfalten sich die individuellen Anlagen, die nur potenziell als Möglichkeit vorhanden waren, bevor ein Mensch geboren wurde.
Viele spirituelle Lehren betonen, dass es wenig nütze, andere → Bewusstseinszustände zu erfahren, wenn ein Mensch nicht das „Gefährt“ dafür entwickelt hat. Für die persönliche Entfaltung bedeutet dies, die Energien aus der physischen Welt für die Entfaltung eines zweiten Körpers oder Energiekörpers zu verwenden. Es kann gelernt werden, die Aufmerksamkeit dafür zu gebrauchen, die verschiedenen Energien, aus denen der physische Körper besteht, zu trennen und mit höheren Energien zu verschmelzen. Diese Ideen finden wir auch in der → Alchemie, bei der es letztlich um die Transformation des Menschen geht, im → Tao-Yoga und im → Tantra. Diese Arbeit geht über das Erreichen von veränderten Bewusstseinszuständen hinaus, auch wenn außergewöhnliche Erfahrungen durchaus transformierend wirken können, weil so schöpferische Informationen ins Muster des Energiekörpers einfließen und diesen „spiritualisieren“. Dennoch betonen einige spirituelle Lehren, dass die dauerhafte und erfolgreiche Transformation kontinuierlich erarbeitet werden muss.
In der Philosophie der → Upanischaden und des → Vedanta spricht man von Atman, dem individuellen Selbst bzw. der individuellen Seele, im Unterschied zu → Brahman, dem überindividuellen Geist bzw. der Weltseele. Gedanklich führt diese Idee konsequenterweise dazu, dass es letztlich keinen Unterschied zwischen individueller Seele und überindividueller Seele gibt, weil beide ja dieselbe Qualität besitzen.
Es geht also darum, die Voraussetzungen dafür zu schaffen, dass die individuelle Seele sich im Menschen verankern kann. Auf diese Weise kann sich das schöpferische Ich, die Individualität bzw. das → Selbst in der materiellen Welt manifestieren. Hierbei schwingt die Vorstellung mit, dass der Sinn der körperlichen Existenz damit zu tun hat, diesem Ich eine Möglichkeit der Verwirklichung zu geben, durch Wirken in der inneren und äußeren Welt sich selbst zu erschaffen. Die Erfahrungen mit veränderten → Bewusstseinszuständen können helfen, die ureigene Individualität zu erkennen und auszubilden. Die Aufgabe des Ego bzw. des Egoismus, des „Ichs der bedingten Persönlichkeit“, die mit den Funktionen des Gehirns verknüpft sind, bedeutet in diesem Zusammenhang, dass das „wirkliche Ich“ (das als eine Facette des unendlichen, kreativen → Willens angesehen werden kann) nach und nach seine schöpferisch-intelligente Rolle im Menschen einnehmen kann, wenn die Voraussetzungen dafür geschaffen sind.
Man kann nicht davon ausgehen, dass eine plötzliche → Erleuchtung ausreicht, damit ein Mensch dauerhaft sein wirkliches Ich im Leben verankert hat. Es bedarf in allen Fällen einer lebenslangen Transformationsarbeit. Das heißt nicht, dass bei Menschen auf dem spirituellen Weg nicht gelegentlich ein Sonnenstrahl der kosmischen Kraft aufblitzen kann. Es gibt jedoch keinen Grund anzunehmen, dass dieser Mensch dadurch bereits ein „verwirklichter → Heiliger“ oder → Avatar geworden ist.
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