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Über Bewusstes und Unbewusstes
Es ist doch so: Wir alle wollen immer bewusster werden, wollen jeden Winkel des Unbewussten mit dem strahlenden Licht des Wachbewusstseins erhellen, wollen alles Unbekannte verstehen, einordnen, klassifizieren, qualifizieren, quantifizieren, eben messen und mit dem bereits Bekannten vergleichen. Das aber ähnelt der naiven Arroganz einer kleinen Welle, die ihren schaumgekrönten Kopf trotzig zur Sonne emporreckt und ruft: „Ich bin die Herrscherin des Meeres! Ich bin das, was zählt! Ich bin das, worauf es ankommt und ohne das nichts geht!“
Wir ahnen schon, wie die Geschichte weitergehen muss: Die kleine freche Welle fällt in sich zusammen, wird eins mit dem Meer, ihrem Ursprung, woraufhin sich die nächste kleine freche Welle erhebt, ihren schaumgekrönten Kopf zur Sonne emporreckt und keck ruft: „Ich bin die Herrscherin des Meeres. Ich…“
Wir alle befinden uns auf einer Reise, die der Jungfernfahrt der Titanic ähnelt. Wir orientieren uns am Wachbewusstsein, dem winzigen – und möglicherweise unwichtigsten – sichtbaren Teil des Eisbergs und stoßen doch immer wieder mit dem weitaus größeren – und wahrscheinlich unendlich viel wichtigeren – Teil zusammen, der in den tiefen Wassern des Unbewussten verborgen liegt. Und obwohl wir uns auf angeblich unsinkbare Luxusdampfer, nach neuesten wissenschaftlichen Erkenntnissen konstruierte Rettungsboote, auf Schwimmwesten, Signalpfeifen und Leuchtraketen verlassen, treiben wir immer wieder hilf- und ratlos auf dem endlosen Meer des Lebens umher und ertrinken schließlich.
Würden wir es anders machen und das Leben als Mysterium begreifen, als etwas, auf dem man nicht schwimmen kann, sondern in das man eintauchen muss, würden wir erkennen, dass das, wovor wir am meisten Angst haben, in Wirklichkeit das Einzige ist, wovor wir überhaupt keine Angst zu haben brauchen. Leben und Tod sind Mysterien, die der Verstand – der Sitz des Wachbewusstseins – nicht erfassen kann. Die Welt des Verstandes ist die Welt der Sinne, in der eingeordnet, erfasst und katalogisiert wird, eben die Welt des Sicht-, Hör-, Mess- und Fassbaren.
Wir alle wissen, dass sich Fledermäuse und Delfine hervorragend zurechtfinden, ohne dabei ihre Augen übermäßig anzustrengen. Wir wissen auch, dass Katzen über viele Kilometer hinweg an einer Geräuschkulisse entlang unfehlbar nach Hause finden. Und Brieftauben und Zugvögel orientieren sich am magnetischen Feld der Erde und würden über unsere vergleichsweise primitive optische Ausrüstung nur lachen – wenn sie Vergleiche anstellen würde, was sie aber nicht tun. Dennoch bestehen wir Menschen darauf, dass das, was wir nicht sehen können, auch nicht existiert.
Andere Kulturen messen dem Traum mehr Bedeutung bei als der Realität des Wachseins. Verlieren aber die Erlebnisse, die wir im Traum haben, ihre Gültigkeit, nur weil wir uns morgens nicht an sie erinnern können? Ich kann mich auch nicht an die ersten vier Jahre meines Lebens erinnern und doch haben sie – so bestätigen mir Verwandte – stattgefunden und doch haben sie – so bestätigen mir Psychologen – mein gesamtes Leben als Erwachsener grundlegend geprägt.
Das Wachbewusstsein – so wie wir es heute kennen – ist nicht die Krone der Schöpfung, es ist ein Durchgangsstadium, über das sich spätere Generationen so lustig machen werden wie wir uns über die Schlaghosen der siebziger Jahre. Zum Licht hinzustreben heißt immer auch, sich auf das Bekannte, Vertraute zu konzentrieren, weil wir alles im Griff haben wollen. Diese Einstellung wird uns aber nicht weiter als bis zum nächsten Eisberg führen, der uns die Unsinnigkeit dieser Denkart wieder einmal drastisch vor Augen führen wird.
Sich ins Dunkle hineinfallen zu lassen heißt, sich dem Mysterium hinzugeben und dem großen Plan zu vertrauen. Die Geborgenheit, nach der wir uns so sehr sehnen, wartet nicht in der vertrauten Welt des Lichts, sie wartet im unbekannten Reich des Dunklen auf uns. Und frei wird nur der, der all das hinter sich lässt, was ihm vertraut ist.
C. G. Jung bezeichnete den Schatten als das, was in unserer Persönlichkeit verdrängt wird und daher ungelebt bleibt. Sigmund Freud hatte vor ihm die Vermutung (mehr war es nicht, auch wenn es das Weltbild ganzer Generationen geprägt hat), dass der Mensch durch gesellschaftliche Vorschriften und religiös-moralische Gebote, die er als Über-Ich verinnerlicht, im Zaum gehalten werden muss, damit er nicht zum Tier wird.
Und „Tier“ heißt in unserer Kultur natürlich immer: fressen, um des Fressens willen, morden, um des Mordens willen und – der Himmel stehe uns bei – lustvolles Koitieren, um des lustvollen Koitierens willen. Denken wir in diesem Zusammenhang an die alte Doktor Jekyll und Mister Hyde Geschichte von Robert Louis Stevenson, nach welcher der Schatten selbst im Heiligen immer ein Monster ist, das lügt, stiehlt, betrügt, mordet und vergewaltigt. Aber mit Verlaub: Warum muss das, was wir nicht kennen, immer böse sein? Ist der Fremde böse, weil wir ihn nicht kennen? Oder wird er böse, weil wir ihn nicht kennen wollen? Oder anders: Wird er ein guter Mensch, nachdem er unsere Bekanntschaft gemacht hat?
Wenn der Schatten der ungelebte Teil eines Menschen ist, muss er dann nicht in einem bösen Menschen die gute Seite sein, die dieser ständig verdrängt? Anders gefragt: War Hitler möglicherweise ein zärtlicher Liebhaber? Könnte Goebbels ein aufmerksamer Zuhörer gewesen sein? Oder Mussolini ein verständnisvoller Vater?
Der Schatten ist nichts, wovor wir uns fürchten müssten. Er ist ein Teil von uns, den es kennen zu lernen lohnt. Denn erst, wenn wir ihn annehmen, ihn erlösen, werden wir ganz. Solange wir ihn bekämpfen, vergeuden wir unsere Kraft. Und das vermeintlich Böse entpuppt sich vielleicht als das wahrhaft Gute. Erst wenn wir erkennen, dass Licht und Dunkelheit zusammengehören, dass wir uns sowohl in der Sandkiste des Bewussten als auch auf der Spielwiese des Unbewussten erproben können, wachsen wir über die Begrenzungen unserer Persönlichkeit und gesellschaftlich-religiöser Konventionen hinaus und werden frei zu werden, was wir sind und immer waren.
Ein Traum teilte mir dies neulich auf diese Weise mit: Wir kommen zu einem kleinen Platz. Ich spüre eine große Freude und gerate in Ekstase. Ein warmes orangefarbenes Licht hebt mich empor. Ich schwebe, aber mit dem Kopf nach unten – wie der Hängende im Tarot. Ich bin glückselig. Als ich wieder lande, kommt ein Mann in schwarzer Rüstung auf mich zu. Es ist der Prinz der Finsternis. Ich bin der Prinz des Lichts. Ich will mit ihm kämpfen und ziehe mein Schwert. Er lacht und sagt: „Du kannst mich nicht besiegen, denn ich bin du.“
© Copyright 1999, 2011 Manfred Miethe
Manfred Miethe Manfred Miethe, 1950 in Hamburg geboren, lebt im Berner Oberland, wo er schreibt, übersetzt, Qigong und Taiji unterrichtet und die Aussicht auf die Berge genießt. Sein aktueller Blog heißt: http://lebenskunstundspiritualitt.blogspot.com