Auf die Frage: „Was ist der Weg?“, antwortete der Meister: „Was für ein schöner Berg.“ Der Fragesteller war nicht zufrieden: „Ich befrage Euch nicht über den Berg, sondern über den Weg.“ Der Meister sagte: „Solange du nicht über den Berg hinausgelangst, erreichst du den Weg nicht.“ (→ Koan)
Das Leben ist wie ein Berg. Es türmt sich nicht nur vor unseren Augen auf und versperrt die Sicht, sondern es ist so voller Angebote, dass sich nur wenige die Mühe machen, den Berg zu besteigen und einen Weg zu einer anderen Dimension zu suchen, die weder sichtbar noch fassbar ist.
Ein spiritueller Weg unterscheidet sich von einem religiösen Weg. Bei einem spirituellen Weg geht es um direkte Erfahrung, nicht um Glauben. Was beide im Kern gemeinsam haben, ist ein Streben nach menschlicher Vollkommenheit oder der Durchführung einer religiösen oder spirituellen Aufgabe, die je nach Glaubenssystem anders geartet ist. Eine → Religion setzt jedoch den Glauben an eine Allmacht voraus, welche die menschlichen Geschicke bestimmt, während ein spiritueller Weg die eigene Erfahrung und die daraus gewonnene Erkenntnis fördern möchte.
Manche Menschen meinen auch, ein spiritueller Weg sei eine Art Psychotherapie oder „Lebenshilfe“. Das trifft keineswegs zu. Guten Ratschlägen zu folgen oder eine Psychotherapie zu absolvieren verhilft dazu, die eigenen Gefühle und Gedanken zu klären und einen Weg zu psychischer Stabilität zu finden, die sogar eine Voraussetzung für den Schritt auf einen geistigen Weg ist. Wer das eine durch das andere ersetzen will, bringt die Dinge durcheinander. Die → transpersonale Psychotherapie geht über die „gewöhnliche“ Therapie hinaus, sie möchte den Menschen auf der spirituellen Suche helfen. Verschiedene körperorientierte Techniken wie → Hatha-Yoga oder → Qigong können ein wichtiger Beginn sein, um sich zu „erden“ und psychische Probleme über die Aktivierung des Körperbewusstseins zu überwinden. Auch andere Methoden und Techniken spiritueller Wege können manche seelischen Probleme beseitigen, doch nur, wenn diese keine ernsthaften Neurosen, sondern allgemeine menschliche Schwächen und Fehlentwicklungen sind, die beinahe jeder mitbringt.
Der spirituelle Weg ist ein Lebensweg, der das ganze Leben bestimmt und nie aufhört. Er dient also nicht einer vorübergehenden Verbesserung persönlicher Lebensqualität und ist kein „Wellness-Training“. Allerdings sollte ein spiritueller Weg langfristig auch das Lebensgefühl wesentlich verbessern, sonst läuft etwas schief. Hinzu kommt, dass es auf dem spirituellen Weg nicht nur um außergewöhnliche Erfahrungen geht, sondern er bedarf großen Wissens über die Wirkung menschlicher Transformation. Dieser Aspekt wird häufig unterschätzt. Wer Arzt oder Computerspezialist werden will, muss sich über viele Jahre sehr intensiv ausbilden lassen, um das nötige Knowhow zu erwerben. Ähnliches sollte auch für einen spirituellen Lehrer gelten, sogar für spirituell Suchende. Das Wissen über die komplexe Struktur des menschlichen Wesens und die spirituellen Welten stellt mindestens die gleichen Anforderungen an das Verstehen von Zusammenhängen, die nicht mit technologischen Instrumenten erforscht werden können. Gerade aber, weil die Sache so „unfassbar“ ist, meinen viele, dass es keiner gründlichen Erforschung und Lehrzeit bedürfe.
Viele der heute zugänglichen spirituellen Wege, zumindest wenn sie innerhalb eines religionsgebundenen Kontexts angeboten werden, sind eher traditionalistisch. Ob jemand nun den Lehren eines tibet. → Lamas lauscht, einem → Guru folgt oder in einem → Kloster meditiert: Immer folgt er dem von Traditionen vorgegebenen Pfad und ihren geistigen Autoritäten – auch wenn die außerinstitutionellen Wege von der jeweiligen religiösen Hauptströmung als Sekten bezeichnet werden. Je nach Religion sind diese Abspaltungen mehr oder weniger integriert.
Die Selbstfindung außerhalb dieser Wege in selbst organisierten Gruppen muss darum kein alternativer Weg sein, er steht vielleicht nur außerhalb bestehender Institutionen. In diesem Sinne gibt es auch → New-Age-Gedanken innerhalb dieser Institutionen. Ein Zeichen für neue Wege ist der Versuch, durch Experimentieren, durch Vermischung verschiedener Methoden, mit Hilfe von systemischen Ansätzen oder der kritischen Auseinandersetzung mit traditionellen Religionen zu eigenen Erkenntnissen zu gelangen. Man könnte sagen, dass die unabhängige Suche nach dem Sinn des Lebens und der eigenen Entwicklung die „freie“ → Spiritualität auszeichnet.
Selbstverständlich findet auch diese freie Spiritualität nicht in einem luftleeren Raum statt. Sie basiert zuallererst auf den Erkenntnissen, Einsichten und Weisheiten derjenigen, die bereits vor uns einen Weg gesucht haben. Bisher haben viele alternative Richtungen (oder → Sekten) innerhalb östlicher wie westlicher Religionen die (hauptsächlich) westlichen Sucher angezogen. Für die meisten traditionellen Buddhisten sind → Zen-Lehren jedoch „verrückt“. Bestimmte Hindu-Kulte wie das → Tantra mit seinen sexuellen Ritualen stehen für die meisten traditionellen und religiösen Hindus außerhalb ihres Verständnisses oder werden explizit abgelehnt. Ein traditioneller Moslem akzeptiert keinen → Sufi-Mystiker, wenn er nicht die islamischen Gesetze befolgt.
Es stellt sich die Frage, ob es etwas im Wesen eines spirituellen Weges gibt, das diesen innovativ oder alternativ macht, oder ob er einfach alternativ für den Sucher ist. So kann es durchaus eine Alternative für einen Katholiken sein, die Autorität der Kirche zu verlassen und dem scheinbar nichtritualistischen Zen-Weg zu folgen. Dieser Mensch geht eine innere Konversion durch, die vieles in Bewegung setzt. Es kann aber genauso gut sein, dass ein Mensch einfach die Autorität eines Priesters gegen die Autorität eines anderen geistlichen Führers austauscht (→ Sekten). Häufig kommt es auch vor, dass ein Sucher in einer Sufigruppe islamische Gebete oder hl. Laute intoniert, statt christliche Kirchenlieder zu singen. In diesem Fall wird zwar ein neuer esoterischer Weg eingeschlagen, der aber letztlich systemkonform innerhalb einer anderen Religion verläuft.
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