„Der Liebe Reich ist anders als alle Religionen. Den Liebenden ist Gott ihr Reich und Religion“ (Dschelaluddin → Rumi).
Historisch gesehen ist der Sufismus die mystische Strömung des Islam. Islam bedeutet Hingabe und Unterwerfung unter den Willen Gottes, Allahs, des Einen. Alle großen Sufi-Meister führen letztlich ihre Eingebung und Wandlungsfähigkeit auf den unsichtbaren Meister Kidhr, den „grünen Propheten“ zurück (→ Farben), der als Lehrer der geheimen Strömung des Islam im Koran erwähnt wird. Die Sufi-Mystiker sagen, dass die Sufi-Lehre von Mohammed über seinen Vetter Ali, den vierten Kalifen („Nachfolger“, „Stellvertreter“), überliefert wurde. Die persischen Shiiten berufen sich auf mystische Eingebungen von Ali, was mit ein Grund für die Glaubensspaltung im Islam ist. Aus dieser Spaltung ergibt sich die Ableitung, dass damit die esoterische Sufi-Linie im Islam vom Koran selbst unterstützt und gestärkt wird. Denn im Gegensatz zu den Sunniten, den Traditionalisten, sind die Shiiten, die sich auf Ali berufen, die Mystiker im Islam. Deshalb konnten die Sufis als Muslime unbehelligt in islamischen Ländern wirken, auch wenn manche wegen angeblicher Gotteslästerung – wie der Ekstatiker Al-Halladj mit seiner Aussage a’al haq („Ich bin Gott“) im Jahre 922 – hingerichtet wurden.
Die Sufis wirkten hauptsächlich in islamischen Ländern innerhalb des islamischen Rahmens. Während des 12. und 13. Jh. bildeten sich die ersten organisierten tariqas: → Sufi-Orden bzw. Derwisch-Bruderschaften – Frauen waren damals nicht zugelassen, obwohl es auch weibliche Mystikerinnen gab. Berühmte Lehrer (murshid, sheikh/Scheich oder pir) versammelten in Gemeinschaften Schüler (murid) oder → Derwische um sich, die, nachdem sie in die Lehre eingeweiht waren, weiterreisten und neue Gemeinschaften gründeten.
Die Sufis legen großen Wert auf die Kontinuität der Überlieferung des Pfades durch die Einweihung von Generation zu Generation über die Kette der Weitergabe (silsila). Einige der Bruderschaften verbreiteten sich nicht nur über die ganze islamische Welt (z.B. bis nach Indonesien, → Subud), sondern kamen auch in nichtislamische Gebiete. Da die Gruppen v.a. Handwerker und Angehörige der unteren Schichten ansprachen, tendierten sie nicht zu Bündnissen mit der herrschenden Klasse und wurden oft zum Bollwerk gegen politische Unterdrückung. So darf die Gegnerschaft zwischen den Rechtsgelehrten, die für die jeweilige Herrschaftsausübung nützlich waren, und den Sufis nicht nur unter theologischen Gesichtspunkten gesehen werden, sondern auch in einem politischen Zusammenhang.
Es gibt aber hinreichend Hinweise darauf, dass der Sufismus älter ist als der Islam. So lassen sich vielfältige Einflüsse ausmachen, die in den Sufismus strömten: die Askese der christl. Wüstenväter und der jüdischen Essener, → zoroastrische Elemente aus Persien, die jüdische → Kabbala, → gnostische Esoterik (die ja auch in der islamischen Lehre selbst vorhanden ist) und die Lehren der → Neuplatoniker. Auch finden wir in manchen Sufi-Richtungen bemerkenswerte buddhist. Einflüsse, die aus Regionen wie dem russischen oder chines. Turkestan kamen.
Einige der herausragendsten Sufi-Meister waren bewandert in den esoterischen Aspekten des Buddhismus und des Mahayana (→ tibetischer Buddhismus, → Zen). Während der islamischen Eroberung von Teilen Indiens gab es viele Kreuzungen zwischen Yoga und Sufismus. Aber der Sufismus ist mehr als die Summe seiner Grundlagen und Einflüsse. Das Erstaunliche an seiner Vitalität ist, dass es immer große Meister oder Eingeweihte gab, die den Sufismus von innen heraus erneuern konnten.
Auch die jüdischen → Kabbalisten kennen den unsichtbaren Meister Khidr (Chidr), der dort Elias oder Melchisedek heißt. Das weist auch auf eine enge Verbindung dieser beiden Traditionen hin. Beide hatten große Wirkung im Westen. Obwohl islamische Elemente es sehr schwer hatten, in die mittelalterlichen christl. Gebiete vorzudringen, fand der Sufismus durchaus seine Möglichkeiten, seine Lehren im Westen einzuführen. So sind die → Alchemisten, die → Freimaurer, die → Rosenkreuzer und andere Gruppierungen mit gnostischem Einschlag Strömungen, die zweifellos auf den Sufismus zurückgehen.
Auch wenn bedeutende Sufi-Meister Religion per se nicht ablehnten, machten sie immer deutlich, dass eine authentische Überlieferung und Entwicklung der Sufi-Lehre nicht in den Formen und Äußerungen der jeweiligen Religion und Kultur möglich ist, sondern in einer Methode und Aktion, die zwar in der jeweiligen Kultur operiert, aber völlig unabhängig davon ist. Deshalb nützt es einem westlichen Sucher auch nicht viel, ohne einen erfahrenen einheimischen Führer in die Türkei oder andere nahöstliche Länder aufzubrechen und dort den großen Meister zu suchen; in Einzelfällen, wenn z.B. jemand die Sprache fließend spricht oder ein Elternteil aus einem türkischen oder arab. Land stammt, ist es wahrscheinlich leichter. Allerdings gibt es inzwischen viele verschiedene Sufi-Gruppierungen auch hier im Westen.
Die nichtorthodoxen Sufi-Lehren, denen es einzig und allein um die höchste Befreiung ging und geht, haben ihre Methoden immer den äußeren gesellschaftlichen Bedingungen angepasst. Deshalb waren sie auch in der Lage, die westliche Kultur in ihre Methoden des inneren Fortschritts einzubeziehen bzw. sie auf diese abzustimmen. Diese Form des Sufismus ist universal und international und unabhängig von irgendeinem Glaubenssystem, denn sein Zentrum ist die „kosmische Wahrheit“.
Viele Sufis oder von Sufi-Gedanken beeinflusste Menschen tun sich nicht nur in spirituellen Belangen hervor: Kraft ihrer veränderten Wahrnehmung und inneren Klarheit sitzen sie an den Schaltstellen der modernen Wissenschaft und Philosophie. Einer, der einen bedeutenden Einfluss auf das zeitgenössische Denken ausübte, war Sayyed Idries → Shah, der in Oxford studiert hatte. Sein Hintergrund liegt in der Schule des afghanischen Naqschibandi-Ordens (→ Sufi-Orden). Idries Shah hat viel dazu beigetragen, dass man im Westen den Sufismus nicht mehr als „islamische Mystik“ mit „archaischen“ Praktiken betrachtet, sondern als wichtiges Instrument zur Schulung des Bewusstseins und der Verbesserung unserer Lernkapazitäten.
Seine besondere Spezialität sind Lehrgeschichten, die unseren normalen Verstand unterlaufen und so den Weg für neue Ideen freimachen können. Sein Buch „Die Sufis“ ist ein Grundlagenwerk, das viele Aspekte der Schulen des Augenblicks beleuchtet und die Einflüsse der Sufis auf die westliche Kultur und Spiritualität aufzeigt. Allerdings sollte man wissen, dass er seiner Darstellung eine Richtung gibt, die allein auf westliche Bedürfnisse zugeschnitten ist:
„Weder der Sufismus in der Übersetzung seiner literarischen Formen noch die Schriften vieler östlicher Dichter können richtig verstanden werden, wenn man nicht die geheime Sprache (die ‚verborgene Zunge’) kennt, die benutzt wird, um Ideen und Konzepte weiterzugeben. Wörtliche Übersetzungen sufischer Worte oder verschlüsselter Begriffe haben im Westen unglaubliche Verwirrung gestiftet, insbesondere bei der Übertragung der geheimen Überlieferung.“ (Idries Shah 1976, 155)
Ein Teil behandelt die besagten geheimen Überlieferungen im Westen, und auch ein Kommentar zum → Tarot ist enthalten. Das Buch muss intensiv studiert werden, da beiläufig ganz wichtige Dinge behandelt werden, die man leicht überliest. Shah zieht einige unbekannte Verbindungslinien zu esoterischen Schulen, die im Westen als „geheim“ gelten, darunter die → Rosenkreuzer, die → Freimaurer usw. Die Sufis nutzen wie die jüdischen Kabbalisten (→ Kabbala) die Methode Gematria (ilm-i abjad, → Abjad), um Geheimnisse zu verschlüsseln. Bei dieser Wissenschaft werden Wörter nach ihrem Zahlenwert durch andere mit dem gleichen Zahlenwert ersetzt: „Obwohl die geheime Sprache sich in der gewohnten Weise manifestiert, steht sie in besonderer Beziehung zu der nicht bekannten Welt. So ist sie in ihrem literarischen Ausdruck sowohl eine Kunstform als auch Einlass in jenen Bereich, wo es keine ‚bekannte’ Sprache gibt“ (Idries Shah 1976, 156).
Wir müssen jedoch nicht die arab. → Sprache studieren, um den Sufi-Weg zu gehen, auch wenn dies für Quellenstudien von großem Nutzen sein kann. Für Idries Shah ist der Sufismus vielmehr das menschliche Leben: „Okkulte und metaphysische Kräfte sind weitgehend nebensächlich.“ Sein Buch ist eine wichtige Quelle und Darstellung der Sufi-Gedanken an Beispielen der Meister (→ Rumi, Al Ghazali, Nasrudin, Attar und anderen). Rumi warnt: „Beurteile den Sufi nicht nach dem, was du von ihm siehst.“ Und Idries Shah kommentiert:
„Der falsche Lehrer wird sich besonders um den äußeren Anschein bemühen. Er wird es verstehen, den Suchenden glauben zu machen, dass er ein großer Mann ist, dass er ihn versteht und dass er tiefe Geheimnisse zu enthüllen weiß. Der Sufi hat Geheimnisse, aber er muss das Wissen darum im Schüler selbst entwickeln. Sufismus ist etwas, das einem Menschen geschieht, nicht etwas, das man ihm gibt.“ (Idries Shah 1976)