Der türkische Sufi-Meister Hassan Shushud unterscheidet in seinem Buch „The Masters of Wisdom of Central Asia“ zwischen zwei Strömen im Sufismus: zum einen den nördlichen Sufis, die hauptsächlich in der Türkei, Usbekistan, Turkmenistan, Aserbeidschan, Afghanistan und dem Iran wirkten. Ihre bekannten Vertreter sind unter anderem die Schulen, die von den → Hodschagan (Meistern der Weisheit) ausgingen: die Naqschibandiyya, Yesewiyya und Bektaschiyya. Die südlichen Sufis (→ Sufi-Mystik) wirkten hauptsächlich im Irak, in Syrien, Ägypten, Arabien, Marokko (→Sufi-Orden, Nordafrika) und Westafrika. Der wohl bekannteste Sufi-Meister in dieser Linie ist Dschelaluddin → Rumi (1207-1273), aber auch Pir Vilayat → Khan. Ein anderer bedeutender Sufi-Scheich ist Oruc Güvenc, der in Europa auch altorientalische Musiktherapie lehrt und regelmäßig Konzerte gibt. Er ist Bektaschi und Mevlevi (→ Rumi). Der Schwerpunkt seiner Lehre liegt auf der Heilmusik und Bektaschi-Tänzen.
Eine Strömung aus dem Irak ist der Qadiri-Orden, der auf Abdul Qadir Gilani (1077-1166) zurückgeht. Gilani ist wohl der volkstümlichste Heilige der islamischen Welt. Der Orden erfreut sich in den islamischen Ländern allgemeiner Beliebtheit, weil er den Armen hilft, und diente allen späteren → Derwischorden als Vorbild. Die Qadiri lehnen geschlechtliche Enthaltsamkeit ab und leben außer zu besonderen Übungen in der Welt; außerdem waren sie maßgeblich an der Islamisierung Westafrikas beteiligt.
Die nördlichen Sufis gehören zu den „nüchternen“ Mystikern wie Meister → Eckehart in der → christlichen Mystik oder die → Vedanta-Yogis. Sie sind die „geistigen Wissenschaftler“ und entwickelten ein Schulungssystem, das auf dem Verstehen der menschlichen Psychologie und den kosmischen Gesetzen beruht. Ihr Ziel ist die absolute Befreiung, nicht nur das Aufgehen in der göttlichen Einheit, sondern im absoluten Nichtsein, jenseits aller Attribute, in der Quelle. Es ist das → Shunyata der → Mahayana-Buddhisten jenseits von → Nirwana und → Samsara.
Auch wenn sich die Beschreibungen der sufisch-mystischen Erfahrungen ähneln, kann man zwei Haupttypen unterscheiden: die Unendlichkeitsmystik und die Persönlichkeitsmystik. Beide Typen mystischer Erfahrung sind jedoch selten in reiner Form zu finden; dieser Mittelweg wird am deutlichsten durch Dschelaluddin → Rumi personifiziert. Die theoretischen Begründungen der Unendlichkeitsmystik wurden am besten von → Ibn Arabi beschrieben. Für ihn ist die Gottheit unendlich, zeitlos, raumlos, absolute Existenz oder einzige Wirklichkeit.
Der Kern der Methode der „Meister der Weisheit“ heißt → Schule des Augenblicks und besagt, dass jede Aktion, jede Schulung aus dem Geist des Augenblicks heraus entsteht und selten mit vorgegebenen Formen arbeitet. Die wesentliche Arbeit geschieht bei den Sufis innerhalb der normalen Lebensumstände; ein zeitweiser Rückzug in eine intensive Lehrsituation der Gruppe dient vor allen Dingen der schnellen, inneren Entwicklung. Der Sufi mag dem Schüler bestimmte Aufträge oder Aufgaben geben, die er gut erfüllen muss, oder er lernt durch das Handeln des Lehrers. Auch wenn bestimmte Handlungen oft widersprüchlich oder paradox erscheinen: Bei einem „Meister des Augenblicks“ geschieht nichts ohne Grund.
Die Weitergabe einer Lehre besteht nicht allein in Methoden und Wissen; das gilt auch für den Sufismus. Hier ist von wesentlicher Bedeutung (in allen Sufi-Orden) die Baraka des Meisters oder der Gruppe. → Baraka bezeichnet einen Modus der Anwesenheit des Göttlichen in der Welt, seinen „Segen“. Entweder hat der Meister Baraka („Charisma“), eine besondere Ausstrahlung (→ Siddhi), oder die Linie der Überlieferung hat Baraka. Manchmal bekommt auch eine neue Linie der Arbeit den universalen Segen, unabhängig von einer traditionellen Form der Arbeit.
Auch wenn man den Eindruck gewinnen könnte, dass orientalischer Sufismus eine reine Männersache ist, nehmen vielfach auch Frauen an den Derwischaktivitäten teil, jedoch meist mehr im Verborgenen. Es heißt, dass Frauen der göttlichen Gegenwart näher stehen als Männer, weil sie von Natur aus bereits die Fähigkeit zur Hingabe besitzen. Männer müssen die „Hingabe an Allah“ (das bedeutet das Wort Islam) erst erlernen. In manchen Gruppierungen bleiben die Frauen unter sich, vollziehen aber ebenfalls alle wichtigen Übungen. In anderen Orden wieder arbeiten die Frauen eng mit den Männergruppen zusammen, wie z.B. bei den Bektaschi, die von Hadschi Bektasch gegründet wurden (gest. 1335).
Die bedeutendsten Grundlagen des Sufismus wurden von den „Meistern der Weisheit“ (Hodschagan) gelegt, die im 11. bis 15. Jh. in Turkestan wirkten. Die meisten tariqas (Orden) der Sufis gehen auf diese Meister zurück. Insbesondere sind dabei die Naqschibandi zu erwähnen, die in direkter Linie vom Begründer der Meisterlinie Yusuf Hamadani (1048-1143) über Abd al-Chaliq Gudschduwani (gest. 1220) ausgehen. Sie werden auch die „Stillen“ genannt, weil sie keine lauten Übungen (→ Dhikr) machen.
Baha ad-din Naqschibandi (1318-1389) tat mehr als jeder andere Meister, um den Einfluss der Hodschagan zu festigen. Man sagte von ihm, der Mantel des Propheten sei auf ihn herabgesunken. Erst im späten Alter war er bereit, als Meister Verantwortung für Schüler zu übernehmen. Bedeutende Meister wie Ala ud-din Attar (gest. 1400, berühmt durch seine „Vogelgespräche“), Yaqub Tscharki (gest. 1447) und Abd ar-Rahman Dschami (gest. 1492) gingen aus dieser Linie hervor.
Die östlichen Naqschibandi sind im Allgemeinen schwer zugänglich und auch stark im Islam verwurzelt, während westliche Naqschibandi die durchaus bedeutende Aufgabe der Vermittlung der Sufi-Weisheit haben. In der traditionellen bzw. orthodoxen Linie sieht sich Scheich Muhammad Nazim Adil al-Qubrusi al-Haqqani, der auf Zypern lebt, als Nachfolger und Vertreter der Naqschibandiyya. Es gibt Zentren dieser Gruppierung weltweit, auch in Deutschland und der Schweiz.
Die indische Naqschibandiyya-Mujaddidiyya Sufi-Linie, die im Westen von der Engländerin Irina Tweedie eingeführt wurde und eine zeitgemäße Ausprägung hat, wird seit ihrem Tode von Llewellyn Vaughan-Lee geleitet. Er verbindet Traumdeutung nach Jung mit der „Meditation des Herzens“ und stillem → Dhikr. Gegenwärtig gibt es auch Meditationsgruppen in Deutschland und der Schweiz.
Eine andere Linie der Hodschagan geht von Meister Achmed Al-Yesewi (1046-1166) aus. Seine Schüler und Nachfolger wirkten v.a. in der Türkei. Als türkische Sufis sind insbesondere die Mevlevi (→ Rumi) und Bektaschi zu nennen. Letztere gehen auf den Meister Hadschi Bektasch zurück, einen direkten Schüler von Yesewi. Hadschi Bektasch ist in der Türkei auch deshalb sehr beliebt, weil er sich mit seinen Lehren an das Volk wandte. Diese Musik der Bektaschi ist im Volk viel populärer als die klassische türkische Musik der Oberschichten.
Die Bektaschi arbeiten immer noch im Verborgenen; sehr häufig ist ein türkisches Dorf eine Bektaschi-Gemeinde, ohne dies nach außen ahnen zu lassen. Die islamische Glaubensrichtung der Alewiten in der Türkei hat enge Verbindungen zu den Bektaschi. Beide ziehen keine Trennlinie zwischen Mann und Frau und sind sonst auch liberaler als die sunnitischen oder schiitischen Moslems. Bis vor einigen Jahren wurden die Alewiten deshalb auch immer wieder von anderen Moslems belästigt oder sogar angegriffen.
Aus Syrien kommt insbesondere heute noch der Impuls der Ri’fai-Derwische. Sie gehen auf Achmed Ri’fai (1106-1183) zurück und unterhalten heute noch Niederlassungen in Syrien und Ägypten. In Deutschland hat der türkischstämmige Scheich Abdullah Halis ein Zentrum in der Nähe von Berlin gegründet. Er schöpft aus den Traditionen der Ri’fai, der Mevlevi und Naqschibandi. Die Ri’fai sind bekannt für intensive Schweige- und Fastenzeiten, aber insbesondere auch für ungewöhnliche Ekstasetechniken. Dazu gehört auch der → Dhikr. Wegen der sonderbaren Geräusche, die sie in ihren Ritualen hervorbringen, sind sie als „Heulende Derwische“ bekannt. Die rauen Töne, die sie dabei hervorbringen, klingen tatsächlich wie eine Säge.
Dieser „Säge-Dhikr“ soll mit Ahmed Yesewi begonnen haben und war vielleicht die Antwort der Yesewi auf die ekstatischen Schamanentänze. Wiederholungen des Gottesnamens Allah und anderer und verschiedener rhythmischer Formeln wie la illaha illa’allah, die von bestimmten Bewegungsabläufen begleitet werden, können u.U. einen Trancezustand hervorrufen. Das Wort Allah wird dann immer weiter verkürzt, bis nur noch der letzte Buchstabe → h als ha und hu vokalisiert übrig bleibt.
Wer die Gelegenheit hat, einen solchen → Dhikr mit seinem zunehmenden Tempo und der Verkürzung der Worte mitzuerleben, bis nur noch ein intensives Seufzen zu hören ist, kann selbst als Außenstehender mitgerissen werden.
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