„Wenn jemand im eigenen Geist sich besinnt auf den ursprünglichen Zustand seines Geistes, lösen sich alle trügerischen Gedanken von selbst auf in das Reich der letzten Wirklichkeit. Niemand ist mehr zu finden, der Leiden verursacht, und niemand, der leidet“ (Milarepa 1985).
Durch den heutigen Dalai Lama, das geistige Oberhaupt der tibet. Buddhisten, ist dieser Weg in den westlichen Ländern sehr populär geworden. Die Aussagen und Bücher des 14. Dalai Lama, seine herzliche und fröhliche Art, sich in der Öffentlichkeit zu präsentieren, haben ihm viele Sympathien auch der Nichtbuddhisten eingebracht. Dabei ist der tibet. Buddhismus vielen Menschen hier im Westen doch recht fremd. Auch die Organisation der meisten Tibet-Buddhisten in klösterlichen Gemeinschaften mit vielfältigen Geboten und → Ritualen ist nicht unbedingt für jeden geeignet. Dennoch – oder vielleicht gerade deshalb – bildeten sich in Europa und den USA viele Klöster, die in dieser Tradition lehren. Ein Unterschied zum alten Tibet ist, dass in diesen westlichen Klöstern Frauen und Männer zusammenleben, während es in Tibet getrennte Abteilungen gab.
→ Lama (tibet. bla-ma) bedeutet „Höherstehender”, er ist ein religiöser Meister, dem von den Schülern Verehrung entgegen gebracht wird, da er in seiner körperlichen Gestalt die unverfälschte Lehre weitergibt. Daher nannte man früher den tibet. Buddhismus auch Lamaismus. Der Lama ist nicht nur ein Guru im hinduist. Sinne, sondern er verkörpert den Buddha. Er hat auch die Kompetenz, Rituale zu lehren und auszuführen, und unterzieht sich einer jahrelangen Ausbildung in allen spirituellen Disziplinen.
Auf den spirituellen „Wert“ des Lama weist der besonders qualifizierten Meistern verliehene Ehrentitel Rinpoche („außerordentlich Kostbarer“) hin. Ein Tulku („Körper der Verwandlung“) ist ein Mensch, der nach bestimmten Prüfungen als Reinkarnation einer verstorbenen Persönlichkeit angesehen wird. In der Kagyüpa-Schule wurde das Prinzip der bewussten Wiedergeburt zuerst in all ihren Möglichkeiten ausgeschöpft. Auch der Dalai Lama ist eine Wiedergeburt. Der heutige 14. Dalai Lama ließ jedoch verlauten, dass er nicht mehr wiedergeboren würde, was bedeuten kann, dass er diese Form der Weitergabe des Wissens möglicherweise in Frage stellt.
Der tibet. Buddhismus wird auch Tibet-Tantra genannt, weil er sich auf dieselben Quellen wie das hinduist. Tantra stützt, allerdings verwoben mit anderen Wurzeln wie der vor dem Lamaismus vorherrschenden schamanistischen → Bön-Lehre. Buddhist. Lehrwerke werden im allgemeinen sutra genannt, was in Sk. „Faden“ bedeutet. Ein Buch, das aus einigen Sutras besteht, ist gleichsam ein aus Fäden gewirktes Gewebe. Tantra ist die Bezeichnung für „Kette“, „Gewebe“. Beide Wörter stehen also für Werke, deren Inhalte auf einen Faden gereiht oder miteinander verwoben, d.h. detailliert abgehandelt sind.
Tantra ist eigentlich überhaupt kein buddhist., nicht einmal ein religiöser Begriff. Das Wort taucht im Titel von Werken aller Richtungen auf, in medizinischen wie in spirituellen. Wenn damit jedoch eine bestimmte Art religiöser Texte gemeint ist, sind die Tantras den Sutras ähnlich, weil sie Mischungen aus Dialogen und Lehrreden darstellen. Im Allgemeinen sind die Tantras jünger als die Sutras. Das berühmte „Kalachakra-Tantra“, welches das „Rad des Lebens“ beschreibt, wird auf das 10. Jh. datiert.
Das Erscheinen jedes einzelnen Tantras als Schrifttext ist mit dem Namen eines oder mehrerer Meister verknüpft, die auf die Praxis seiner Lehren spezialisiert waren und daher seine Verbreitung in einem Kreis eingeweihter Schüler fördern konnten. Diese Meister werden die 84 Mahasiddhas genannt. Anfänglich wurden die Lehren mündlich überliefert, weshalb man behauptet, eine ununterbrochene Linie der Lehre bis zurück zum historischen Buddha verfolgen zu können.
Als Begründer des tibet. Tantra gilt allgemein Padmasambhava, der „Lotosgeborene“; er richtete auch die erste buddhist. Klosteruniversität in Tibet ein, Samye. Zu seiner Zeit wurden die ersten Tantras ins Tibet. übertragen. Der tibet. Buddhismus übernahm dann Einflüsse aus der tibet.-schamanistischen Bön-Religion und der Heimat Padmasmabhavas.
Das heute allgemein bekannte Erscheinungsbild des tibet. Buddhismus ist geprägt von den Übungen und Ritualen des → Vajrayana, des Diamantenen Weges, der „dritten Drehung des Rades der Lehre“. Das Symbol des Vajra (diamantenes Zepter oder Donnerkeil), das für das Vajrayana steht, war ursprünglich das Zeichen des vedischen Gottes Indra (→ magische Symbole). Im Tibet-Tantra steht es als Sinnbild für das unerschütterliche männliche Prinzip, das den Weg symbolisiert.
Das Tibet-Tantra beruft sich auf die Bewusstseinslehre eines berühmten Philosophen aus dem 2. Jh., Nagarjuna, der wiederum mit dem „Sutra der transzendenten Weisheit“ (Prajnaparamita) in Verbindung gebracht wird. Außerdem gibt es eine Reihe anderer Tantra-Schriften wie das „Hevajra-Tantra“, das „Kalachakra-Tantra“ und das „Vajradata-Tantra“. Beim Tibet-Tantra gelten Geist und Materie nicht als Gegensätze, sondern als immer gleichzeitig existent und gleichwertig. → Shunyata, die „Leere“ bzw. der unsichtbare formlose Geist, und rupa, die Form bzw. die Welt der stofflichen und feinstofflichen Formen, sind nur verschiedenartige Erscheinungsweisen des einen ursprünglichen Bewusstseins. Der Mensch kann → Bewusstsein gestaltet und ungestaltet erfahren, es erscheint ihm aber so, als ob es zweierlei Bewusstsein gäbe.
Im Tantra benutzt man das Relative, also das Weltliche, die materiellen Erscheinungen, um das Fortschreiten auf dem Pfad zu fördern, der letztlich die absolute Befreiung aus jeglicher Dualität anstrebt, jenseits von → Samsara (der Welt der Erscheinungen) und → Nirwana (der Welt des Geistes). Auch wenn die asketische Haltung im → Mahayana-Buddhismus (→ Zen) dasselbe erreichen will, unterscheidet sich das Tantra durch das Konzept der Energietransformation (→ Energie). Leidenschaften und Verhaftungen sind Mittel zur Erkenntnis. Für den tantrischen Praktiker gibt es nichts Unreines, sondern nur Energiephänomene, die für die Übung genutzt werden. Deshalb spielt im Tibet-Tantra auch die sexuelle Energie eine wichtige Rolle, doch mehr auf einer inneren Ebene als Vereinigung der inneren männlichen mit der inneren weiblichen Energie (→ Tantra).
Zwar gibt es im tibet. Tantra auch eine Yoga-Übung mit Namen Karmamudra, bei der die sexuelle Vereinigung dazu genutzt wird, um die Vereinigung (Yab-Yum) der „solaren und lunaren“ Kräfte, der Leere und Energie zu vollziehen, doch setzt diese eine sehr hohe Entwicklungsstufe der Meditationserfahrung voraus. Naropa (1016-1100) sagt dazu: „Jener glücklich Übende, der wie ein Heruka Chakrasamvara ist, sollte, ohne an der Dualität festzuhalten, ihre sexuelle Umarmung suchen und sich tummeln in weltlichem sowie überweltlichem Entzücken“ (in: Glenn Mullin 1997, 48).
Folglich ist die sichtbare Welt auch nicht nur Schein, → Maya, sondern ihre Wirklichkeit hängt von der eigenen Entwicklung und von der inneren Wahrnehmung ab. „Eine geeignete geistige Einstellung wandelt alle Tugenden und Laster des Schülers in Bausteine zur geistigen Vollendung“, erklärt John Blofeld, einer der frühen Westler, die das Tantra direkt an der Quelle gelernt haben:
„Nichts kann ihn ängstigen oder Abscheu in ihm erregen, denn der schmutzigste Unrat wird in reine geistige Wesenheit verwandelt. Die ‚tierischen’ Vorgänge, Ausscheidung, Essen, Trinken, Geschlechtsverkehr, Atmen und Pulsieren des Blutes, werden in göttliche Funktionen umgewandelt. Alle Töne, das Lärmen der Bahn unter dem Schlafzimmerfenster, das Dröhnen eines Bohrers beim Zahnarzt oder das Heulen der Dämonen erklingen lieblicher als die Musik des Windes … Diejenigen, die den Diamant-Pfad beschreiten, holen Frieden und Schönheit aus ihrem eigenen Inneren hervor.“ (John Blofeld 1970)
Wer die verschleiernde Kraft der Maya (der falschen Vorstellung, die sich der Mensch von der Welt macht), durchschaut, kann sie als Gestaltungskraft schöpferisch nutzen. Diese schöpferische Kraft wird bei den Übungen zur Konzentration und Meditation eingesetzt. Hilfsmittel sind → Mandalas (Geist), → Mantras (Rede = Seele) und → Mudras und Asanas (Körper, → Hatha-Yoga).
In der durch die spirituelle Praxis herbeigeführten Umwandlung von Körper, Rede und Geist ist das Mantra der Rede zugeordnet, und seine Aufgabe liegt in der Sublimierung der Schwingungen, die im Akt des Sprechens freigesetzt werden. Das Rezitieren des Mantras vollzieht sich immer in Verbindung mit detaillierten → Visualisationen und den Körperhaltungen (Mudras). Das Mantra wird im Vajrayana auch als „Fahrzeug“ oder „Geist-Schutz“ betrachtet: Es schützt den Geist vor allen gewöhnlichen Erscheinungen und Begriffen:
„In der Übung des Mantra gibt es zwei Faktoren – der Stolz, selbst eine Gottheit zu sein und die lebhafte Erscheinung dieser Gottheit. Der göttliche Stolz schützt vor Gewöhnlichkeit, und die lebhafte göttliche Erscheinung schützt vor gewöhnlichen Erscheinungen. Alles, was den Sinnen erscheint, betrachtet man als das Spiel einer Gottheit. So werden z.B. alle gesehenen Formen als die Hervorbringungen einer Gottheit gesehen, und jeder Ton, den man hört, wird als ihr Mantra betrachtet. Dies schützt vor gewöhnlichen Erscheinungen, und durch den Wandel der Einstellung entsteht der Stolz, eine Gottheit zu sein. Einen solchen Schutz des Geistes, zusammen mit den begleitenden Versprechen und Gelübden, nennt man die Übung des Mantra.“ (Jeffrey Hopkins 1988; → Mantra)
→ Mandala heißt einfach „Kreis“ oder „Ring“. Die Konzentration auf ein derartiges Bild zentriert den Meditierenden. Der Schüler, der sich ständig die Symbolik des Mandalas vor Augen hält, wird so auf sanfte Weise davon beeinflusst und vollzieht seine Wandlung in allen menschlichen Bereichen, körperlich, seelisch und geistig. Zum geistigen Zentrum des Mandalas (→ Mani) gelangt der Meditierende durch drei äußere Ringe und einen Wall. Als Erstes muss er den großen Flammenring der Sinneswelt (→ Geist) durchschreiten, dann den Diamantring, der die seelische Welt, den Wesenskern, symbolisiert. Durch den Lotosblumenring – der Lotos, der mit seinen Blüten im Sumpf über die Wasseroberfläche ins Licht ragt, symbolisiert die Lichtwelt, die feinstoffliche Welt des Geistes – gelangt der Meditierende an eine Mauer, die aus vierfarbigen Linien gebildet ist. Hier muss er auch die psychomentalen Anteile hinter sich lassen. Schließlich öffnen sich die vier Tore, die nach den vier Himmelsrichtungen ausgerichtet sind. Wer durch diese ins Zentrum voranschreitet, hat Raum und Zeit transzendiert. Er befindet sich jetzt in einem Hofraum, der wiederum aus vier Dreiecken gebildet wird, in deren Mitte das eigentliche Zentrum liegt, das „Juwel“ oder der tausendblättrige Lotos.
Die verschiedenen Schaubilder, die → Thankas, symbolisieren ebenfalls den inneren Kosmos. Meistens sind auf den Thankas die fünf überirdischen Buddhas abgebildet. Sie verkörpern die fünf abstrakten Aspekte der Buddhaschaft, entweder als Dhyani-Buddhas (Meditationsbuddhas), Jinas (Sieger) oder als Tathagatas (Vollkommene) dargestellt. In der Mitte ist Vairocana, im Osten Akshobhya, im Süden Ratnasambhava, im Westen Amitabha und im Norden Amoghasiddhi. Die Buddhas symbolisieren verschiedene Bewusstseinsaspekte wie Liebe, universelle Wahrheit oder Unerschütterlichkeit. Der Adibuddha (adi, „übersinnlich“) Vajrasattva wird v.a. in Nepal als sechster Dhyani-Buddha und als Essenz der Buddhaschaft abgebildet.
Abbildung: Innerer Kosmos der Thankas
Im Laufe der Jahrhunderte hat man diese Personifizierungen mystischer Weisheit in ein umfangreiches System eingeordnet. Jeder der transzendenten Buddhas repräsentiert eine Familie, spezifische Eigenschaften und sogar eine Windrichtung. So wird veranschaulicht, wie sich die Aspekte der Persönlichkeit umsetzen lassen. Die Darstellung der sexuellen Umarmung (Tantra-Haltung Yab-Yum) ist immer das Symbol für die vollkommene Vereinigung der Gegensätze. Während in manchen hinduist. Abbildungen eine Vereinigung von → Shiva und → Shakti die höchste Vereinigung der kosmischen Energien darstellt, stellen buddhist. Thankas die Vereinigung der Qualitäten Mitgefühl und Weisheit dar. Letztlich kommt es aber darauf an, alle Bilder durch ein einziges zu ersetzen: das des vollkommenen Menschen, wie er in einem Buddha in Erscheinung tritt.
Der Begriff → Yantra, im Hindu-Tantra für die grafischen Meditationssymbole der göttlichen Kräfte verwendet, wird im Vajrayana auch – und das ist seine wesentliche Bedeutung – für ein Übungssystem ähnlich dem Hatha-Yoga gebraucht. Während der körperliche Yoga in den anderen buddhist. Formen kaum eine Rolle spielt, ist er im Tantra von großer Bedeutung. So werden im Yantra-Yoga des Vajrayana Körper, Stimme, Geist und deren Funktionen nicht zur Ruhe gebracht, sondern als innere Qualitäten des Zustandes akzeptiert, der sich als Energie offenbart.
Da Energie ständig in Bewegung ist, ist Yantra-Yoga dynamisch und arbeitet mit einer Reihe von Bewegungen, die mit dem Atem verknüpft ist. Die Hauptaufgabe des Yantra-Yoga besteht darin, Prana, die Lebensenergie, zu aktivieren und beherrschen zu lernen (→ Raja-Yoga, → Qi). Die Verbindung von Bewegung, Haltung (Asana, Mudra) und Atmung konzentriert die feinstofflichen Energien zu einem Diamant-Körper (den man auch „zweiten Körper“ nennen könnte, → Energiekörper).
„Das Zusammenwirken von dynamischen Methoden, die Haltung, Benehmen und Übung einschließen, soll im Schüler einen Diamant-Körper (Vajra-Körper) schaffen, der wiederholte Eintritte in ekstatische Zustände des Bewusstseins ertragen kann und nicht von dem Einstrom außergewöhnlicher Kräfte verbrannt wird. Mit einem solchen Körper und den neuen Kräften der Intuition kann er auf mystische Weise die Wirklichkeit erfahren und dadurch unmittelbar Befreiung erlangen.“ (John Blofeld 1970)
Da Prana und Bewusstsein miteinander verbunden sind, kann Prana durch Konzentration dorthin gelenkt werden, wo es vom Bewusstsein hingeführt wird (→ Atem, Atemtechniken). So kann die innere Stimmung durch die Arbeit mit Prana ausgeglichen werden. Solange Prana in den verschiedensten Kanälen des physischen und feinstofflichen Körpers zirkuliert, bleibt das dualistische Denken bestehen. Wird es in den Hauptkanal gebracht, so wird seine wesentliche Natur, tibet. tigle, Sk. → kundalini, aktiviert und fließt in die Kanäle. So wird das dualistische Denken überwunden und Erleuchtung erlangt. Die verschiedenen Tantras nennen unterschiedliche Chakras, bei denen Prana in den Hauptkanal eingeführt werden soll. Das geschieht durch besondere Übungen, die mit Körperhaltung und rhythmischem Atmen durchgeführt werden. Eine andere Art von Körperübungen wird Kum-mNye genannt. Tarthang Tulku (1980) hat ein Kum-mNye-System im Westen bekannt gemacht, das aus den Medizin-Tantras stammt.