Die australischen Ureinwohner werden Aborigines genannt, was ein europ. Kunstbegriff ist wie das Wort „Indianer“. Die Ureinwohner selbst bezeichnen sich natürlich mit ihren Stammesnamen wie Yaralde oder Kakadu-Leute usw.
Die spirituelle Überlieferung der Aborigines ist sehr komplex und für uns schwer zu verstehen. Die australischen Ureinwohner denken vielmehr in Metaphern, Geschichten, Landschaften usw. und weniger in Begrifflichkeiten wie wir. Die geistige Tradition der Aborigines weist viele Ähnlichkeiten mit dem traditionellen → Schamanismus vieler Völker auf. Deshalb sei hier nur zwei typische Phänomene ihrer Weltanschauung herausgegriffen: die Traumreise und die Traumzeit.
Die Basis der Traumreise ist für den australischen Ureinwohner eine rituelle Kooperation mit der Natur. Das Leben ist ein Gewebe interaktiver Teilchen, bei der Menschheit und Natur gleiche Partner sind. Deshalb besteht die Rolle der Menschheit darin, den ewigen Augenblick des Träumens durch Rituale und Zeremonien wiederzuerschaffen. Die Traumreise ist ein Weg, die heiligen Pflichten gegenüber der Landschaft zu erfüllen. Sie wird jedes Jahr in einer Zeremonie durchgeführt und ist eine Wiederholung der Ereignisse der Welterschaffung, die zur Zeit des Traumes stattfanden.
Es gibt zwei Ebenen der Traumreise: Die erste ist hauptsächlich eine soziale Aktivität, die zweite ist eine persönliche, die vom Einzelnen unternommen wird, um ein tieferes Verständnis der eigenen heiligen Natur zu gewinnen. In beiden Fällen gibt es Rituale, die so angelegt sind, dass ein neues Bewusstsein der Umwelt im Reisenden entstehen kann. Beide Reisen überlappen sich jedoch, weil viele der Geschichten, mythischen Geschehnisse, → heiligen Orte (hot places) und Höhlengemälde beiden gemeinsam sind (→ Songlines).
Bei jeder Traumreise wird die gesamte Vergangenheit zur Gegenwart. Die metaphysische Landschaft wird so in eine ideale Landschaft umgewandelt, in eine Geschichte über die Ursprünge der Menschen, ihren Überlebenskampf und darüber, wie und vom wem sie ihre Kulturgüter erhielten, wie die Fähigkeit zu tanzen, Lieder zu singen, Speere zu machen und zu jagen. Dies geschieht während des zeitlosen Augenblicks, der als Traumzeit bekannt ist. Dieser Bewusstseinszustand ist eine Rückkehr zur Quelle. Die Begegnung mit dem Land ist eine Begegnung mit der spirituellen Schöpfung, der persönlichen und kollektiven.
Der Traum wird ausgedehnt auf jeden Aspekt der Schöpfung. Alles hat zuerst im Traum existiert, alles hat einen eigenen Traum. Im Traum verschmelzen Subjekt und Objekt. Die Ureinwohner sehen eine untrennbare Beziehung zwischen dem Tatsächlichen und dem Möglichen.
Hier treffen sich altsteinzeitliche Vorstellungen mit den neuesten Erkenntnissen der Quantenphysik. Denn im Akt der Beobachtung verändert sich die scheinbar objektive Wirklichkeit der Atome. Der Beobachter erschafft auf diese Weise eine neue Realität. Die Wirklichkeit ist ein Gitter paralleler Welten, die über veränderte Zustände des Bewusstseins zugänglich sind. So taucht die Idee paralleler Realitäten auch immer häufiger in Sciencefiction-Geschichten auf.
Ist das ein Hinweis darauf, dass unser kollektives Bewusstseinsfeld langsam an die andere Wirklichkeit herangeschoben wird? Alle diese Vorstellungen deuten jedenfalls an, dass unsere rationale Trennung von Mensch und Welt eine Illusion ist, nicht die Traumzeit der archaischen Menschen. Wir erschaffen auch ständig Traumwelten, ohne uns dessen bewusst zu sein. Jede Kulturform, jede politische Anschauung, jede Religion ist in diesem Sinne ein kollektiver Traum, und – da er uns nicht bewusst ist – die Ideologie einer Scheinwelt. Siehe auch: → Bewusstsein.
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