Verlust des Trauerns – Saga Grünwald

von Thomas

Wann haben wir das letzte mal intensiv und lautstark getrauert? Sich nicht freuen zu können ist mindestens so gravierend, wie nicht trauern zu können. Haben wir es vielleicht verlernt? In der kalten dunklen Jahreszeit wird ganz vielen Menschen bewusst, wo sich in ihnen ein Stück ungelebte Trauer versteckt. Aber wie kommt es, dass wir erfolgreich versuchen individuelle Trauerprozesse aufzuhalten, obwohl wir doch im Allgemeinen eine so tolerante Gesellschaft darstellen? Hintergründe und Lösungen für diesen Zwiespalt bieten die hier beschriebenen Gedanken.

von Saga Grünwald

 

Stellen wir uns einmal eine Kleinstadt vor, kein winziges Dorf, doch immer noch so überschaubar, dass hier nicht die grenzenlose Anonymität einer Großstadt herrscht. Man kennt die Namen der Nachbarn, liest die Geburts-, Hochzeits- und Todesanzeigen. So ist es kein Geheimnis, dass die Ehefrau von, nennen wir ihn Peter Müller, gestorben ist. Stellen wir uns einen Samstagnachmittag vor. Man sitzt gemütlich bei Kaffee und Kuchen, plaudert, lacht. Plötzlich ist ein lautes Jammern zu hören, das die Straßen des Städtchens erfüllt und sogar den Verkehrslärm übertönt. Das Jammern verwandelt sich in einen verzweifelten Gesang. Dann erklingen mit einem Mal zornige Schreie. Natürlich bleibt keiner am Kaffeetisch sitzen. Man will wissen, was da auf der Straße los ist. So eilen alle an die Fenster und sehen, wie sich ein Mann mühsam und gebeugt die Gasse entlangschleppt. Tränen strömen ihm übers Gesicht. Ein leidvolles Heulen entringt sich seiner Kehle. Dann bricht er plötzlich in die Knie, reißt die Arme in die Höhe und schreit seinen Schmerz zum Himmel empor, bevor er wieder in einen kaum zu verstehenden Gesang ausbricht.

Wie lange wohl wird es dauern, bis jemand den Notarzt oder den psychologischen Dienst ruft, die den Mann von der Straße aufsammeln? Und die übrigen Bürger wenden sich wieder zufrieden ihrer Kaffeetafel zu, in dem Bewusstsein, dass dem armen kranken Mann geholfen wird und froh darüber, dass ihr Frieden nun nicht mehr gestört wird.

Doch dieser Mann – Peter Müller – der gerade seine geliebte Ehefrau beerdigen musste und nun auf dem Weg vom Friedhof nach Hause seine Trauer in allen Zügen auslebt, ist weder körperlich noch seelisch krank. Er braucht keinen Notarzt und auch keinen psychologischen Dienst. Er braucht Menschen, die mit ihm trauern. Die seinen Schmerz verstehen und keine Angst davor haben, dass ihr Seelenfrieden gestört werden könnte.

Was in einer typischen deutschen Kleinstadt auf Unverständnis, Irritation oder gar Abweisung und Missbilligung stößt, ist für die Siedlungen der Maya-Völker noch heute ein völlig normaler Vorgang, der nicht nur Mitgefühl und Beistand, sondern auch Respekt verdient. Ihr natürliches Verständnis von Trauer und der Notwendigkeit, dieser Trauer auf jede erdenkliche Weise Ausdruck zu verleihen, ist noch ursprünglich, so wie es bei vielen indigenen Völkern der Fall ist. Unsere westliche Gesellschaft hingegen, geprägt vom Christentum, hat sich um diese heilende und somit ins Leben zurückführende Möglichkeit des Trauerns gebracht. Bereits im 3. Konzil von Toledo, bei dem im Jahr 589 insgesamt 62 Bischöfe teilnahmen, wurde im Dekret XXII festgelegt: „Die Körper aller Frommen, die, von Gott gerufen, dieses Leben verlassen haben, sollen mit Psalmen und den Stimmen der Sänger allein zum Grab getragen werden, aber wir verbieten unumschränkt Bestattungsgesänge, die gewöhnlich für die Toten gesungen werden, sowie die Begleitung durch Familie und Angehörige, die sich auf die Brust schlagen. Es genügt, dass, in der Hoffnung auf die Auferstehung der Christen, den körperlichen Überresten göttliche Lobgesänge erwiesen werden. Denn der Apostel verbot uns, die Toten zu betrauern, indem er sagte: Ich wünsche nicht, dass ihr euch betrübt über jene, die entschlafen sind, so wie die es tun, die keine Hoffnung haben (1. Thess. 4, 12). Folglich, so es dem Bischof möglich ist, sollte er nicht zögern, dies allen Christen zu verbieten. Auch Geistliche sollten auf keine andere Weise verfahren, denn es ist angebracht, dass auf der ganzen Welt verstorbene Christen genau so beerdigt werden.

Dabei birgt das Verbot zu aktiver und öffentlicher Trauer bereits einen eigenen Ursprung für Trauer.
Wahre Trauer ist der Ausdruck des grenzenlosen Schmerzes, der uns beim Verlust eines geliebten Menschen oder auch tierischen Gefährten erfasst und völlig ausfüllt. Trauer ist natürlich, mehr noch, sie ist notwendig und sollte weder unterdrückt noch aufgeschoben werden, denn ein Herz, dem es verwehrt ist zu trauern, wird hart wie Stein. Trauer kann viele Formen annehmen, aber sie kann weder „weggedacht“ noch „wegmeditiert“ werden. Trauer muss durchlebt werden. Sie ist ein aktiver Vorgang, ist Bewegung, nicht Stagnation. Trauer ist ein heiliger Vorgang, kein theatralischer Akt, und braucht Zeit und Menschen, die dem Trauernden beistehen, die einfach nur da sind und darauf achten, dass er genügend isst, trinkt und schläft. In unserer Gesellschaft findet Trauer nur im verborgenen Kämmerlein statt, sie wird zur Sache des einzelnen, anstatt dass sie in die Gemeinschaft getragen wird, damit alle an ihrer heilenden Wirkung teilhaben können. Es sind die Lieder der Trauernden, die Tränen, das Wehklagen und Weinen, die der Seele des Verstorbenen helfen, ihren Weg in die nächste, in die andere Welt zu finden, und die die Hinterbliebenen allmählich ins Leben zurückführen.

Trauer hat seinen ganz eigenen Ton, einen Ton in der Sinfonie des Lebens. Denn Trauer ist gleichzeitig ein Lobgesang. Es ist der Lobgesang auf jenen Menschen, den wir verloren haben, auf sein gelebtes und geliebtes Leben, aber auch auf das gemeinsame Erleben, das nun nicht mehr möglich ist. Ein wunderschönes Beispiel für einen solchen Trauer-Lobgesang, ist in den Sagen der irischen Kelten zu finden, die ihre Trauer öffentlich auslebten, wie Credhe, die den Tod ihres geliebten Mannes Cael betrauert:
„Gram erfüllt mich, O mit Gram erfüllt mich der Tod des Helden, der an meiner Seite liegt; der Sohn der Frau vom Wald der Zwei Sträucher, der nun mit einem Büschel Gras unter dem Kopf sein muss.
Weh mir, O weh mir, mein Mann Cael neben mir ist tot; die Wellen überrannten seinen weißen Körper; es war seine Freundlichkeit, die meinen Verstand verwirrte.
Einen traurigen Schrei, O einen traurigen Schrei lassen die Wellen am Ufer erklingen, sie, die den anmutigen Cael ergriffen; Schade ist es, dass er ging, sie zu treffen.
Einen traurigen Zusammenstoß, O einen traurigen Zusammenstoß erzeugen die Wellen am Strand im Norden, brechen gegen den glatten Fels, beweinen Cael, jetzt, da er gegangen ist.
Einen gramerfüllten Kampf, O einen gramerfüllten Kampf ficht die See mit dem Ufer im Norden aus, meine Schönheit vergeht, das Ende meines Lebens ist bemessen.
Ein Trauergesang, O ein Trauergesang erklingt von den Wellen von Tulcha Leis; alles, was ich habe, ist verloren seit diese Nachricht mich erreichte. Nachdem der Sohn von Crimthann ertrunken ist, werde ich niemanden mehr lieben auf ewig …

(aus „Gods and Fighting Men“, einer Sammlung irischer Mythen von Lady Gregory, Übersetzung von Saga Grünwald)

Trauer und Lobgesang sind also zwei Seiten derselben Medaille, sie gehen Hand in Hand und durchweben das Leben, unsere Welt, das gesamte Universum. Trauer und Lobgesang sind die beiden Bestandteile jenes Gebets, das die Welt zurück ins Leben singt.

 

Über Saga Grünwald:

Ihr Anliegen ist es, im Einklang mit Erde, Meer und Himmel zu leben, die Kraft der Elemente zu nutzen, die Umwelt zu schützen und Frieden zu verbreiten. Respekt vor allem Sein ist ihr genauso wichtig wie ein liebevoller Umgang mit allem, was existiert. Diese Haltung spiegelt sich auch in ihren Texten wider, seien es Gedichte, Märchen oder Romane.

www.gruenwald-greenwood.de

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