Der → Schamanismus ist für diese Erforschung besonders interessant, denn seine Techniken können ohne starken kulturellen Überbau eingesetzt werden. Seine visionären Berichte entsprechen vielen Berichten von Mystikern (→ Mystik), Psychedelikern (→ psychedelische Erfahrung) sowie → Nahtod- und → außerkörperlichen Erfahrungen.
Die Grundmethode, um in einen veränderten Wachbewusstseinszustand zu kommen, ist die schamanische → Trance, die zumeist mit Trommeln und Rasseln induziert wird (bestimmte Rhythmen haben den Effekt, das Bewusstsein nach innen zu führen bzw. in eine bewusste Trance zu versetzen). In der „ekstatischen Trance“ nach der Anthropologin Dr. Felicitas Goodman werden verschiedene Körperhaltungen eingesetzt, die Steuerungshilfen darstellen und zu unterschiedlichen Visionen bzw. Erfahrungen führen.
Manche Schamanen benutzen → psychedelische Pflanzen wie → Ayahuasca. Eine andere Technik ist die schamanische Reise. Die schamanische Reise nach Dr. Harner greift auf Visualisationstechniken zurück, z.B. auf die Vorstellung, man reise durch einen Eingang (Tunnel, Loch, Höhle) in eine andere Realitätsdimension. Das Problem mit dieser gesteuerten Technik ist, dass durch die → Visualisation bereits bestimmte Parameter vorprogrammiert sind, sodass es schwierig wird, zwischen „realer“ und „vorgestellter“ Erfahrung zu unterscheiden.
Eine schamanische Reise in Unter-, Mittel- oder Oberwelt (→ Weltenbaum) hat Ähnlichkeiten mit der → Nahtoderfahrung. Ein Schamane nimmt Kontakt auf mit seinem → Geisttier oder einem spirituellen Führer, das oder der ihn dann auf der Reise führt. Auf der Reise trifft er Geistwesen (→ Geister) und andere mythische Wesen, er macht die Erfahrung des Fliegens wie bei einer außerkörperlichen Erfahrung oder erlebt eine Art Einweihung in den Tod und die psychospirituelle Wiedergeburt. Die meisten Reisen werden mit dem Ziel unternommen, etwas – Wissen, Heilmittel etc. – aus der „anderen Realität“ zu holen.
Es gibt drei Kennzeichen für eine schamanische Erfahrung:
1. Ein Dialog mit Wesenheiten im außerordentlichen Bewusstseinszustand ist nicht nur möglich, sondern geradezu erwünscht;
2. die Erinnerung an die Reise und an die wesentlichen Informationen ist sehr klar;
3. nur der Reisende kann den Inhalt der Reise verstehen und die Informationen in der alltäglichen Wirklichkeit umsetzen.
Der schamanische Bewusstseinszustand verändert sich kontrolliert und absichtlich: „Die Visionen bewirken, dass sich der Schamane gut an das Vorgefallene erinnern kann. Er ist in der Lage, in der Trance zweckmäßig zu handeln, und unterscheidet sich dadurch deutlich vom Medium in seiner Besessenheit, das im veränderten Zustand die Kontrolle verliert und sich häufig an nichts erinnern kann“ (Nevill Drury 2003, 21). Gleichzeitig wird die persönliche Identität aufrechterhalten und verschmilzt nicht mit dem inneren Kosmos.
Nach der Anthropologin Dr. Felicitas Goodman ist der veränderte Bewusstseinszustand der „ekstatischen Trance“ durch körperlich wahrnehmbare Phänomene gekennzeichnet. Im Gegensatz zu Bewusstseinszuständen, die bei geübten Zen-Buddhisten gemessen wurden und hauptsächlich Alphawellen (8-13 Hz) im Gehirn zeigen, treten bei einer rituellen schamanischen Körperhaltung in einer ekstatischen Trance vermehrt Thetawellen (4-7 Hz) auf, obgleich von einer starken Bildhaftigkeit der Innenwahrnehmung berichtet wird. Die höhere Wachheit wurde durch eine Erhöhung des Gleichstrompotenzials um 1000 Mikrovolt festgestellt (während es im Schlafzustand nach Prof. Dr. Guttmann, Universität Wien, abnimmt).
Es ist problematisch, mit der schamanischen Reise einen einzigen Bewusstseinszustand zu verbinden. Nach Berichten von Menschen, die mehrere „Reisen“ unternommen haben, kann sich der Bewusstseinszustand von einem Erlebnis zum nächsten merklich wandeln und manchmal tief, manchmal seicht, manchmal nebelhaft, manchmal klar sein. Auch von einem Schamanen zum anderen mag es Unterschiede geben … Damit soll nicht bestritten werden, dass diese zahlreichen Zustände und Erfahrungen vieles gemeinsam haben. Es soll nur betont werden, dass beträchtliche Variationen vorkommen können und dass sich im Ausdruck ‚Bewusstseinszustand’ statisch kristallisiert, was in Wahrheit ein dynamischer Erfahrungsfluss ist.“ (Roger N. Walsh 1992)
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