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Die Freiheit des Individuums ist uns lieb und teuer. Doch wenn wir die anstehenden globalen Probleme lösen wollen, müssen wir zu einem neuen Wir finden, zu einer Verbundenheit, die niemand ausschliesst.
Es gibt Themen, die sind uns so nahe, dass wir einige Schritte zurücktreten müssen, um sie in den Blick zu bekommen. Ich lade Sie ein zu einer ethnologischen Expedition. Wir begeben uns auf Feldforschung zu einem Volk in den Bergen. An Wintertagen sieht man die Bewohner in den verschneiten Tälern zusammenströmen, um mit länglichen Brettern und Latten auf einem Teppich aus Schnee schwungvoll zu Tale zu gleiten. Wenden wir uns nun dem Vergnügen des Einzelnen zu und führen Interviews, so stellen wir fest, dass es keineswegs darum geht, sich in Mengen zu versammeln und auf den weissen Hängen so etwas wie ein subtil orchestriertes Ballett des Gleitens zur Aufführung zu bringen. Ganz im Gegenteil. Den Beteiligten geht es zunächst und hauptsächlich um ihren Lustgewinn als Individuum. Dass sie für die wenigen Minuten des individuellen Gleitens viele Stunden als gesichtsloser Teil einer wartenden, an- oder abreisenden Masse verbringen, nehmen sie murrend in Kauf.
Je tiefer die Gespräche mit einzelnen Beteiligten reichen, desto deutlicher zeichnet sich ab, dass im Grunde jeder am liebsten ganz für sich alleine wäre. Als ideal wird immer wieder genannt, einen frisch beschneiten Abhang vor sich zu haben, in den man als Erster seine Spur ziehen kann. Da dies kaum je möglich ist, ordnet ein komplexes juristisches Regelwerk den Verkehr auf den Hängen. Wer sich die vielen Paragrafen und die zahlreichen Unfälle vor Augen führt, merkt, dass es sich beim winterlichen Vergnügen kaum um eine fröhliche tänzerische Aufführung in freier Natur handelt.
Unsere Expedition ist damit zu Ende. Zur besseren Kenntnis des Themas liessen sich weitere Forschungsreisen unternehmen. Die Reiseziele wären: eine Klimakonferenz der UNO, die Besichtigung eines Einfamilienhausquartiers auf einstmals grüner Wiese und ein Abstecher in die Finanzwelt. Bei allen diesen Exkursionen würden wir feststellen, dass Individuen zusammenkommen, ohne wirklich beisammen sein zu wollen. Geteilt wird nur das Allernötigste. Um das Gemeinsame geht es ja nicht. Vielmehr strebt ein jeder nach dem eigenen Vorteil.
Mehr als drei Musketiere
Offensichtlich mangelt es an Gemeinsinn. Allenorten fehlt dem Menschen ein Gefühl des Verbundenseins mit seinesgleichen und mit dem Wohl der Welt. Obschon die Herausforderungen, vor denen wir heute stehen, nichts dringlicher verlangen als einen Sinn fürs grosse Ganze, stecken wir den Kopf in den Sand und verstricken uns in Zwistigkeiten untereinander: Nachbarn nerven sich über falsch geparkte Autos, Gemeinden und Kantone jagen sich gegenseitig die guten Steuerzahler ab, statt zu fusionieren, und das von Politikern in Sonntagsreden beschworene «europäische Haus» wird als Selbstbedienungsladen betrieben.
«Einer für alle, alle für einen» müsste die Losung lauten. Es gibt die Parole bereits, sie ist seit Jahrtausenden in Umlauf. Mitte des 19. Jahrhunderts wurde sie unsterblich gemacht durch Alexandre Dumas’ Roman Die drei Musketiere. Grossartig, was diese mit Degen und Mantel ausgestatteten Helden für Abenteuer bestehen und was für Taten sie dank ihres Zusammenhalts auf Leben und Tod gemeinsam vollbringen. Noch heute nehmen sich sozial engagierte Menschen Dumas’ Musketiere zum Vorbild. In der Politik, im Sport, in Selbsthilfegruppen, ja sogar in Klimaschutz-Initiativen soll die Parole «Einer für alle, alle für einen» kursieren.
Dumm daran ist bloss, dass diese Art von Zusammenschluss und die Bündelung der Kräfte sich immer nur dort einstellen, wo es gegen einen gemeinsamen Gegner geht. Ohne die Machenschaften eines Kardinal Richelieu und dessen Agentin Lady Winter gäbe es keine Musketiere, ohne Besatzung durch Habsburg gäbe es keine Eidgenossen, ohne «Linke und Nette» gäbe es keine SVP. Nur wo man sich auf ein gemeinsames Feindbild einschiesst, entsteht dieses verbindende Gefühl von Wir.
Diese Mechanik beschränkt sich keineswegs auf die Politik. Sie spielt genauso stark hinein, wenn sich Sportler zusammentun, Tierfreunde oder die Fans einer Popgruppe. Stets entsteht dabei ein Gefühl von «Wir und die anderen». Und Gott sei Dank, gibt es die Religionen. Deren grandiose Bauchlandungen in Sachen Friede auf Erden sind mittlerweile derart offenkundig, dass man sich von dem Betrieb nur distanzieren kann. Wir haben damit nichts zu tun. Wir sind Spirituelle, wir lassen uns durch Dogmen und Glaubenssätze nicht vereinnahmen. Tatsächlich? Und wie steht es um die vielen kleinen Gruppen und Untergrüppchen, die sich um ein neues Therapieverfahren scharen, um eine aufstrebende Lichtgestalt mit dem totalen Durchblick, um einen neuen Heilsweg durch die Wirren unserer Zeit? Entsteht da nicht immer wieder dieselbe Dynamik hin zu einer behaglichen Stallwärme, zu einer Verbundenheit aufgrund von «Wir sind nicht wie die»? Und wenn alle so wären wie wir, ginge es der Welt doch bestimmt besser, nicht wahr?
Wahrscheinlich nicht. Das Verbundenheit stiftende Prinzip der Abgrenzung gegen andere leistet seinen Dienst auch auf persönlicher Ebene derart zuverlässig, dass wir uns seiner meist gar nicht bewusst werden. Wo liegt das Problem? Bei dieser Form von Verbundenheit bleiben stets andere auf der Strecke. Wir schliessen damit ein – und zugleich aus. Heute stehen wir als Menschheit jedoch vor Herausforderungen, die von uns verlangen, unser Wir neu zu bestimmen: Wir alle. Der Klimawandel, die Knappheit der Ressourcen, die ungerechte Verteilung der Güter, die Krise der Finanzen, die Herausbildung eines neuen Bewusstseins – diese Fragen betreffen uns alle. Wenn wir sie nicht als Probleme begreifen, die sich nur gemeinsam lösen lassen, werden wir aller Voraussicht nach auf der Strecke bleiben.
Mit allen verbunden
Angesichts solcher Herausforderungen neigen wir dazu, uns klein und ohnmächtig zu fühlen. Das sind wir, und wir sind es nicht. Wie ein neuer Zweig der Sozialforschung zeigt, sind wir alle weit stärker miteinander verbunden, als wir uns das gemeinhin vorstellen. «Wir sind uns unserer Wirkung auf unmittelbare Verwandte und Freunde meist bewusst. Mit unseren Handlungen können wir dazu beitragen, dass sie glücklich oder traurig, gesund oder krank, arm oder reich sind. Aber nur selten machen wir uns klar, dass alles, was wir tun, sagen, denken und fühlen, auch weit über die Menschen hinaus wirken kann, die wir persönlich kennen», schreiben Nicholas A. Christakis und James H. Fowler in Connected, «umgekehrt sind unsere Freunde und Verwandten Kanäle, über die uns der Einfluss von Hunderten und Tausenden von Menschen erreicht. In einer Art sozialer Kettenreaktion können wir in den Sog von Ereignissen geraten, von denen wir gar nichts mitbekommen, und die Menschen betreffen, die wir gar nicht kennen. Es ist, als würden wir den Herzschlag der Gesellschaft um uns herum wahrnehmen und auf ihren Puls reagieren. Als Teil eines sozialen Netzwerks reichen wir weit über uns hinaus, im Guten wie im Schlechten, und werden Teil von etwas Grösserem.»
Netzwerkforscher bezeichnen es als das «Kleine-Welt-Phänomen», und sie beziehen sich dabei auf Studien, mit denen in den vergangenen Jahrzehnten belegt werden konnte, dass jeder Mensch auf der Welt durchschnittlich nicht mehr als «sechs Schritte» von einem anderen Menschen entfernt ist. Bei einem Experiment der Soziologen Duncan Watts, Peter Dodds und Roby Muhamad wurden 98000 Teilnehmer aufgefordert, eine E-Mail an eine ihnen unbekannte Zielperson irgendwo auf der Welt zu senden, ohne dass ihnen die Mail-Adresse dieser Person bekannt gewesen wäre oder sie die Hilfe von Suchmaschinen oder Ähnlichem in Anspruch genommen hätten. Sie sollten die Mail an eine ihnen bekannte Person senden, von der sie annahmen, diese könnte die Zielperson kennen und die Mail dorthin weiterleiten. Jedem Teilnehmer wurde nach dem Zufallsprinzip eine von 18 Zielpersonen aus 13 Ländern zugelost. Durchschnittlich brauchte es 6 Stationen, dann war die Mail am rechten Ort. Damit bestätigte sich eine Zahl, die Stanley Milgram mit einem früheren Experiment Ende der 60er Jahre innerhalb der USA mit der Zustellung von Briefen erhoben hatte.
Ganz so weit reicht der Einfluss des Einzelnen in einem Netzwerk nicht, jedenfalls nicht nachweisbar. Christakis und Fowler gehen davon aus, dass die Grenze des gegenseitigen Einflussbereichs bei drei Schritten liegt: «Alles, was wir tun und sagen, wird durch unser Netzwerk weitergegeben und beeinflusst unsere Freunde, die Freunde unserer Freunde, und die Freunde der Freunde unserer Freunde.» Das klingt vielleicht nach einer eher kleinen Welt innerhalb der «kleinen Welt» der sechs Schritte, doch hierbei kommt es natürlich ganz entscheidend darauf an, wie vernetzt die eigenen Freunde eben sind. Anschauungsmaterial hierzu bietet ein virtueller Spaziergang durch soziale Netzwerke wie Facebook, Xing und ähnliche Internetplattformen. Dort finden sich Mauerblümchen mit zwei, drei Kontakten und spärlichen Einträgen auf ihrer persönlichen Site ¬neben kommunikativen Halb-Profis, die Hunderte von Freunden um sich scharen und ihre Kontakte täglich mehrfach mit aktuellen Zustandsmeldungen von sich eindecken.
Grenzenlose Kommunikation
Potenziell sind der Ausbreitung von Informationen damit kaum mehr Grenzen gesetzt. Fragt sich nur, welche Art von Inhalt dabei unter die Leute kommt. Die Protestierenden im Iran bedienen sich der neuen sozialen Netzwerke genauso, wie der amerikanische Milliardenbetrüger Bernard Madoff ein soziales Netzwerk betrieb, um Tausende von Anlegern um ihr Geld zu bringen. Botschaften der Ermächtigung, der Freiheit und des Glücks zirkulieren im Internet neben Botschaften der Erniedrigung, wilden Verschwörungstheorien und rassistischer Propaganda. Die Ermutigung des Tages ertrinkt in einer Flut von Spams, der aufrichtige Hilferuf eines Bekannten wandert ungelesen in den Papierkorb zu Hunderten von Massen-Mails aus der Hand von Betrügern.
Die elektronische Verbindung durch die vielfach geknüpften Netze der Kommunikation allein macht es eben nicht aus. Wenn man sie vergleicht mit den Visionen, die dahinter stehen und die Menschheit einst beflügelten, muten unsere heutigen ach so faszinierenden neuen Kommunikationsformen an wie der Abklatsch früherer Verheissungen, die damals jedoch verbunden waren mit Ahnungen, Fantasie und Schauer. Einst begeisterten wir uns für die Möglichkeiten der Telepathie, heute greifen wir zum Handy, rufen an und teilen uns mit. Teleportation? Wir steigen ins nächste Flugzeug und fliegen hin. Television, die geheimnisvolle Übertragung bewegter Bilder? Mehrere Dutzend Kanäle stehen rund um die Uhr zur Verfügung, wer selber senden will, stellt sein Filmchen bei YouTube ins Netz. Es ist, als hätte ein findiger Ingenieur Harry Potters Rennbesen nachgebaut, und unsere Kinder knatterten morgens auf den kerosinbetriebenen Dingern zur Schule.
Indras Netz
Irgendetwas, vermutlich etwas Wichtiges, wenn nicht gar das Wichtigste überhaupt, bleibt dabei auf der Strecke. Pyar Troll-Rauch greift in ihrem Buch Wir – Wege zur Verbundenheit einen alten orientalischen Mythos auf, der das Gesuchte vor Augen führt: Indras Netz. Über Indra steht in den altindischen Schriften des Rigveda, er sei der Gott des Sturmes und des Regens, «ohne den kein Sieg möglich ist». Dieser König der Götter residiere in einem Palast auf dem Berg Meru. Seit dem Entstehen des Mahayana-Buddhismus im 3. Jahrhundert unserer Zeitrechnung heisst es wiederum, über Indras Palastmauer hänge ein Netz, das sich ausdehne in sämtliche Richtungen und in unendliche Weiten. An jedem Knoten von Indras Netz befinde sich ein Edelstein, und in jedem Edelstein spiegelten sich sämtliche anderen Edelsteine des gesamten Netzes. «Ein echtes, tiefes und wirksames Gefühl von Verantwortlichkeit entsteht erst, wenn wir das Wunder von Indras Netz immer tiefer erfahren und begreifen», schreibt Pyar Troll-Rauch, «wenn Sie sich empfinden können, und zwar nicht theoretisch, sondern wirklich empfinden und begreifen als ein Wesen in Indras Netz, dann bin ich sicher, dass Sie manche Dinge nicht tun können und manche Dinge vermehrt tun werden. Sie werden dann sicher die heilsamen Dinge vermehrt tun und die unsinnigen weniger.»
Ähnlich wie in Indras Netz der einzelne Edelstein, reflektiert bei Ken Wilber das integrale Bewusstsein sämtliche Geisteszustände, die ihm vorausgingen. Es integriert und übersteigt diese. Ein Edelstein, der so richtig glänzen und spiegeln soll, will poliert sein. In einer Art Trainingsprogramm der integralen Spiritualität empfiehlt Ken Wilber eine kontinuierliche Schulung in den vier «Kernmodulen»: Körper, Verstand, Geist und Schatten. Praktisch gesehen, heisst das seinen Vorstellungen gemäss, Gewichte zu stemmen oder Aerobic zu betreiben, sich einem Mental-Training zu unterziehen, zu meditieren und sich im Rahmen einer Therapie mit seinem Schatten zu beschäftigen. Wie bei einem reichhaltigen Essen seien diese Grundkomponenten anzureichern mit bewussten Anstrengungen in den Bereichen Ethik, Sexualität, Arbeit, Emotionen und Beziehungen.
Das ist gut gemeint, doch wer kann sich ein derart umfassendes spirituelles Schulungsprogramm zeitlich überhaupt leisten, wer will so etwas in seinem Alltag praktisch umsetzen? Der Menü-Punkt «Beziehungen» steht in diesem Plan ganz hinten, sozusagen als Beigemüse, und von Liebe ist schon gar nicht die Rede. Bei vielen Menschen ist das gerade umgekehrt. Ihr Leben dreht sich hauptsächlich um Beziehung und Liebe. Von diesem Ankerpunkt aus streben sie nach der Verwirklichung eines neuen Gemeinschaftsgefühls und nach der Transzendenz ihres Egos.
Damit kannte sich der Psychiater und Psychotherapeut M. Scott Peck (1938–2005) gut aus. Seine Methode der Gemeinschaftsbildung erfreut sich grosser Beliebtheit in alternativen Arbeits- und Lebensgemeinschaften. Über die Kraft, die solche Prozesse steuert und die letztlich alles zusammenhält, sagte der begnadete amerikanische Schriftsteller: «Die Liebe ist ein Akt, sich selbst zum Wohle anderer zu erweitern.»
Literatur:
Nicholas A. Christakis und James H. Fowler: Connected. S. Fischer Verlag, Frankfurt 2010,
416 Seiten, Fr. 39.90.
Pyar Troll-Rauch: Wir. Aurum Verlag, Bielefeld 2009,
169 Seiten, Fr. 31.50.
Ken Wilber: Integrale Vision. Kösel Verlag,
München 2009, 230 Seiten, Fr. 33.–.
M. Scott Peck: Gemeinschaftsbildung. Eurotopia Verlag, Bandau 2007, 432 Seiten, Fr. 29.–.
M. Scott Peck: Der wunderbare Weg. Goldmann Verlag, München 2004, 416 Seiten, Fr. 16.90.
Der Artikel erschien erstmals in SPUREN 2/2010
Autor: Martin Frischknecht – Redaktionsleiter des wunderbaren Schweizer Magazins SPUREN, http://spuren.ch