Vom Leben lernen – Elisabet Sahtouris

von Thomas
SahtoruisText

© Helgi / photocase.com

Zeigen sich in der biologischen Evolution Muster, die uns bei der Bewältigung der globalen Krisen helfen können? Die Evolutionsbiologin Elisabet Sahtouris ist überzeugt davon und geht noch einen Schritt weiter: Vielleicht sind diese Herausforderungen genau das, was wir brauchen, um als Menschheit in unserer Entwicklung einen Schritt weiterzugehen.

Von Elisabet Sahtouris


Auf dem Weg zu einer Kultur der Kooperation

Die Menschheit entwickelt sich, wie alle anderen Lebensformen auf der Erde vor und mit uns. Evolution verläuft für den Menschen wie für alle anderen Arten weder vorhersehbar linear noch ausschließlich darwinistisch. In den fast vier Milliarden Jahren evolutionärer Erfahrung der Erde zeigen sich wiederkehrende Muster, die uns Hoffnung, Inspiration und wertvolle Einsichten geben können – inmitten des nie dagewesenen Zusammenfließens dramatischer Krisen, in denen wir Menschen uns recht plötzlich wiederfinden.

Wir können die große Perspektive der Evolution einnehmen, die auch das wunderbar komplexe Leben unserer entferntesten bakteriellen Vorfahren umfasst. Fast für die volle Hälfte der Evolution hatten sie die Erde für sich, und viele ihrer Erfahrungen scheinen auch wir jetzt durchzumachen. Sie kämpften gegeneinander, brachten so große globale Hungersnöte und Umweltverschmutzung hervor, wie die Unsrigen heutzutage, und fanden eine Lösung dafür – ohne mit einem Gehirn ausgestattet zu sein! Auf ihrem Weg erfanden sie elektrische Motoren, Atomreaktoren und das erste World Wide Web des DNA-Austauschs. Und im größten aller evolutionären Projekte formten sie Gemeinschaften, die zu kernhaltigen Zellen wurden. Diese Gemeinschaften waren die Basis für die Evolution unseres eigenen, aus hundert Trillionen Zellen bestehenden menschlichen Körper, der selbst ein Vorbild einer erstaunlich nachhaltigen Ökonomie ist. Die Wissenschaft entdeckt immer neue Probleme und Lösungen, die sich in der biologischen Evolution gezeigt haben. Wenn wir davon lernen, finden vielleicht auch wir heraus, wie wir überleben und uns sogar in eine bessere Zukunft entfalten können, trotz – oder vielleicht sogar aufgrund unserer größten Herausforderungen. Das wäre tatsächlich ein Grund zum Feiern.

Es gibt mindestens drei große Krisen, die es zu feiern gilt – die Energiekrise, die ökonomische Krise und die Krise des Klimas –, die letztendlich vielleicht gar unsere Rettung sind: Weil wir alle gleichzeitig und global damit konfrontiert sind, summieren sie sich zur größten Herausforderung der ganzen Menschheitsgeschichte. Diese Herausforderung selbst ist ein Grund zum Feiern. Warum? Weil nicht weniger als eine grundsätzliche Neubetrachtung, Neuorientierung und Neugestaltung unserer gesamten Lebensweise auf der Erde gefordert ist, um diesen drei miteinander verbundenen Herausforderungen erfolgreich zu begegnen. Sie sagen uns, dass wir so nicht weiter machen können, dass wir unsere Lebensweise ändern müssen. Deshalb leben wir in einer Zeit unglaublicher Möglichkeiten, um schließlich die Welt zu schaffen, die wir zutiefst wollen.


Von den Bakterien lernen

Eshel Ben Jacob, ein Wissenschaftler, der in seinem Labor in der Universität von Tel Aviv seit vielen Jahren das Verhalten von Bakterienkolonien bei Stress studiert, kam zu dem Schluss, dass Bakterienkolonien wie eine Schwarmintelligenz wirken, die intelligent auf Stress reagieren kann. Bevor er zu dieser Schlussfolgerung kam, testete er jede mögliche alternative Erklärung, wie chemische Signale, „automatische Intelligenz“ usw., die das kreative Problemlösungsverhalten dieser Bakterienkolonien aber nicht adäquat beschreiben konnten. Schließlich begann er, den Begriff des sozialen Netzwerkens zu benutzen.

Schließlich wurde er eingeladen, dieses intelligente Verhalten von Bakterien in Googles Hauptquartier vorzustellen. Wenn sogar Bakterien solch intelligente Kreativität und solch eine Lernfähigkeit zeigen, sollten später aus ihnen entstandene Lebensformen das doch auch können.

Die Natur als Ganzes repariert nichts, was nicht kaputt ist. Sie ist zutiefst konservativ, wenn Dinge gut funktionieren und radikal kreativ, wenn dem nicht so ist. In Arnold Toynbees klassischer Studie gescheiterter Zivilisationen finden wir die zwei kritischen Faktoren beim Niedergang dieser Kulturen: die extreme Konzentration von Wohlstand und das Versagen, sich zu verändern, als es notwendig war (Toynbee, 1946). Aktuellere Studien wie in Kollaps von Jared Diamond formulieren detaillierter die Umstände, die wir als die gegenwärtigen Krisen identifiziert haben, wie die Erschöpfung von Ressourcen, den Klimawandel, die Bevölkerungsexplosion, die Globalisierung und falsche politische Entscheidungen. Dies alles kann subsummiert werden unter Toynbees Ablehnung von Veränderung, wenn das Verhalten einer Kultur nicht mehr nachhaltig ist. Wir könnten das auch Verlust von Resilienz oder einen Mangel an Reife nennen.


Menschliche Freiheit

Verglichen mit Tieren haben wir Menschen eine große Entscheidungsfreiheit. Fische, Vögel und Säugetiere müssen Partner finden und Territorien errichten, um angemessene Ressourcen und Raum für die Aufzucht ihrer Jungen zu haben. Die Art, wie sie diese notwendigen Lebensbedingungen schaffen und schützen, zeigt etwas, was Biologen als „feste Verhaltensmuster“ bezeichnen. Das bedeutet, dass Tiere Verhaltensmuster besitzen, die sie nicht erlernen müssen. Allein wir Menschen müssen wählen, wie wir Partner finden, wie wir uns verhalten, wie wir miteinander verhandeln – und wie wir wirtschaften. Wir haben für diese Freiheit der Wahl mit dem Verlust des innewohnenden Wissens bezahlt, das die Lebensformen vor uns noch in sich tragen. Ob wir diese Freiheit der Wahl richtig nutzen, bleibt abzuwarten.

Wir haben auch die große Gabe, die Zeit wahrzunehmen: Wir können in der Zeit zurück- und voraussehen, um unsere Entscheidungen zu treffen. Wir können verstehen, wo wir herkommen, was wir in der Vergangenheit versucht haben, und wo wir sein werden, wenn wir weiter in einer bestimmten Weise handeln. Zudem können wir mögliche Veränderungs-Szenarien gedanklich durchspielen, bevor wir irgendetwas tatsächlich in die Tat umsetzen. Kurz, wir haben die große Gabe der Voraussicht, die uns helfen kann, selbst geschaffenen Krisen zuvorzukommen – und trotzdem tun wir es nicht.

Wir sind Jahrzehnte lang von Wissenschaftlern gewarnt worden, dass unsere Umweltzerstörung ein verheerendes Ausmaß erreicht, und dass wir weitaus mehr Ressourcen der Erde verbrauchen, als wieder nachwachsen können. Zum jetzigen Zeitpunkt werden wir die globale Erwärmung nicht mehr stoppen können und billiges Öl wird knapp. Und zudem stehen wir vor einem Schuldenberg, der durch unsere Gier immer größer wird. Uns könnte nicht klarer vor Augen geführt werden, dass wir als junge Spezies mit all unseren spektakulären Errungenschaften dramatisch in die Irre gegangen sind. Es ist alles sehr angsteinflößend …, bis wir bemerken, dass sich uns neue Türen öffnen, die uns neue Wahlmöglichkeiten und große, neue Gelegenheiten eröffnen, um die Welt unserer Träume zu gestalten – sogar auf einem wärmeren Planeten, ohne Öl und mit einem zusammengebrochenen Finanzsystem. Wir können sprichwörtlich wie Phoenix aus der Asche aus allem, was nicht länger funktioniert, auferstehen. Wir können eine Schmetterlingswelt erbauen, bevor die gefräßige Schmetterlingsraupe sich auflöst.


Proaktiver Wandel

Wir können jetzt erkennen, dass die Spezies der Erde lernen können, wie ineffizient und verlustreich die jugendliche Phase destruktiven, feindlichen Wettbewerbs werden kann. Und wir können die Vorteile einer Lebensweise der wechselseitigen Zusammenarbeit erkennen, wie wir es bei reifen Ökosystemen beobachten können. Jede Krise auf dem Planeten kreierte den Stress, der zu einer Gelegenheit für weitere Evolution wurde, mit der Natur auf unserer Seite in einem riesigen Lernprozess.

Unsere eigenen Körper stellen brillante, lebende Win-win-Ökonomien dar, genauso wie die reifen Ökosysteme der Regenwälder und Prärien, die mittels Teilen und Recycling unendliche Fülle kreieren. Wir haben die nötigen Informationen, die Erkenntnis und die Macht, eine menschliche Welt zu erschaffen, die mindestens genauso kooperativ lebt.

Das Internet ist vielleicht das größte selbstorganisierende lebende System auf dem Planeten, zusammengesetzt aus Menschen, die Computer als Verbindungs-Werkzeug in weit verteilten Netzwerken ohne zentrale Kontrolle nutzen. Dadurch liefert es die praktische Möglichkeit globaler Zusammenarbeit, gegenseitiger Information und dezentraler Netzwerk-Steuerung, bis hin zur Bildung von Währungen, die ohne Schulden auskommen. All diese Möglichkeiten zeigen sich umso schneller und weit verbreitet, je schlimmer unsere Situation wird.

Sogar die größte Bedrohung, die gerade über die Menschheit heraufzieht, ist eine positive Gelegenheit. Dem aufziehenden „Warmen Zeitalter“ adaptiv entgegen zu treten ist weitaus wichtiger, als über seine genauen Ursachen zu streiten. Eine sich verstärkende Rückkoppelung ist schon jetzt zu verzeichnen: je wärmer es wird, desto mehr Eis schmilzt, je mehr Eis schmilzt, desto wärmer wird es. „Proaktiv, proaktiv, proaktiv“ muss unser Motto sein. Denken wir an den Wirbelsturm Katrina, den asiatischen Tsunami oder an Fukushima, wo proaktive Lösungen wesentlich billiger gewesen wären, als die Schadensreparatur – und sie hätten so viele Menschenleben retten können.

Wir können uns daran erinnern, dass einige Kulturen seit uralten Zeiten gut und komfortabel in Wüsten gelebt haben, indem sie angemessene, kostengünstige Technologien wie talartige Medina-Straßen und Kühltürme, schattige Außenhöfe, Brunnen und Reservoirs erfunden haben. Während der verheerenden Dürre Mitte der 80er Jahre im Ansokia Tal Äthiopiens half John McMillin den Menschen, Gemüsegärten zu bauen, die von Fischteichen umgeben waren, die eine gute Eiweißversorgung zu sehr geringen Kosten unter extremen Wüstenbedingungen ermöglichten. Tod-bringende Bedingungen machten Platz für ein üppiges Tal mit acht Millionen Bäumen, Schulen, Kliniken und die Möglichkeit, Nahrung zu exportieren. Seitdem hat McMillin diese scheinbar undenkbare Nahrungsmittelproduktion in der Wüste und die damit verbundene soziale Entwicklung in über zwanzig anderen Wüstenorten umgesetzt (www.globalregen.com).


Die Lösung leben

Unsere Wahl liegt also heute darin, abzuwarten und den Niedergang billiger Kredite, von Fastfood, ganzjährig glitzergeschmückten Weihnachts-Einkaufszentren und die verflossene Hoffnung auf einen glücklichen Ruhestand zu beklagen – oder wir können auf diese Misserfolge positiv reagieren.

Können wir sehen, wie unsere Nachbarn auf der Erde den Preis für unseren Wohlstand bezahlt haben, während wir die wirklichen Verantwortlichkeiten der Demokratie ignorierten? Wir haben zugelassen, dass unser Wohlstand missbraucht wurde, das Gesundheitssystem, die Bildung und wirkliche soziale Sicherheit unter unseren Augen zerfielen. Werden wir unsere Solidarität mit allen anderen auf dem Globus bekunden, unsere Ärmel hochkrempeln und die notwendige, positive Arbeit beginnen, um saubere Energiequellen zu entwickeln, Küstenstädte landeinwärts zu verlegen, Geld und grüne Wüsten neu zu erfinden und in all unserer kulturellen und religiösen Verschiedenheit zusammenzuarbeiten, um eine Welt zu schaffen, die für alle funktioniert, egal ob unsere Regierungen unserer Führung folgen?

Jetzt unseren Traum von der Zukunft zu leben ist die Lösung! Wir können die gesunde Nahrung essen, wie wir es uns in einer besseren Welt wünschen. Wir können einander so behandeln, wie sich Menschen in einer besseren Welt behandeln sollten. Wir können umweltfreundliche Unternehmen entwickeln, die sich ihren Interessengruppen verantwortlich fühlen – das heißt, sie werden von Gemeinschaften gebraucht und unterstützt. Wir können lokale Gemeinschaften bilden, die so selbstversorgend wie möglich sind, so wie es mehr und mehr Menschen auf der Welt tun. Wir können Technologien entwerfen, die den Schaden für die Natur verkleinern, indem sie keine Gifte benutzen und voll wiederverwertet werden können. Wir können Geld entwerfen und benutzen, das keine sich selbst genügende Handelsware wird, sondern allein ökonomische Transaktionen vereinfacht. Und wir können sogar noch darüber hinausgehen zu einer Schenkökonomie! In diesem Bereich tragen viele junge Menschen neue Ideen bei, wie Nipun Mehta (www.nipun.charityfocus.org) und Charles Eisenstein mit seiner „Sacred Economy“ (www.charleseisenstein.net).

Meinen Optimismus habe ich als demütige Schülerin unseres lebenden Universums, unserer lebenden Erde entwickelt und immer wieder bestätigt gefunden. Unsere lebendige Erde zeigt uns den Weg aus unserer Pubertätskrise in eine reife, globale, menschliche Zukunft. Deshalb wiederhole ich, dass die größten Krisen, denen wir gegenüberstehen, die wundervollsten Herausforderungen und unsere größten Gelegenheiten sind, um die Welt zu erschaffen, von der wir träumen.


Dr. Elisabet Sahtouris ist Evolutionsbiologin, Zukunftsforscherin und berät weltweit Unternehmen und Non-Profit-Organisationen.
www.sahtouris.com

Mit freundlicher Genehmigung des Magazins evolve

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1 Kommentar

Niko 1. Mai 2014 - 13:29

Noch sehe ich die Dinge nicht ganz so optimistisch, wenn ich an GEN-Food, den Lobbyismus, Monsanto & Co. denke, die sogar das jahrtausende alte Saatgut patentieren lassen und es schaffen. Freihandelsabkommen wie TTIP, die hinter verschlossenen Türen in Hinterzimmern ausgehandelt werden, Meere voller Plastikmüll, teilweise werden sogar Atommüllfäser dort entsorgt, riesige SUVs verstopfen die Innenstädte, Protz und Gier überall…die Liste ist schier endlos. Aber ich gebe der Autorin recht mit der Aussage: „Vielleicht sind diese Herausforderungen genau das, was wir brauchen, um als Menschheit in unserer Entwicklung einen Schritt weiterzugehen.“ Erst richtige Krisen wecken uns auf, privat wie gesellschaftlich, wie ernste Erkrankungen, Todesfälle und Katastrophen wie Fukushima, wobei es die Tendenz gibt nach einer gewissen Zeit wieder in die alten Verhaltensmuster zu fallen. Ein schönes Schlußwort von ihr: „Deshalb wiederhole ich, dass die größten Krisen, denen wir gegenüberstehen, die wundervollsten Herausforderungen und unsere größten Gelegenheiten sind, um die Welt zu erschaffen, von der wir träumen.“

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