In einer biografischen Kontemplation folgt evolve-Redakteur Mike Kauschke der Dynamik zwischen der Verwirklichung des eigenen Selbst und der Verbundenheit in Gemeinschaft – eine berührende persönliche Selbstfindungs-Reise.
von Mike Kauschke
Erfahrungen zwischen Individualität und Gemeinschaft
Mein Weg begann in einem Land, in dem Gemeinschaft und Kollektiv einen großen Wert hatten und im Grunde alle Lebensbereiche formten. Ich bin in der DDR aufgewachsen, dem Land des „real existierenden Sozialismus“. Zu Beginn hier kurz zur Erinnerung, mit welchen vielversprechenden Worten Marx und Engels ihr Ideal von individueller Entwicklung und Gemeinschaft beschrieben: „An die Stelle der alten bürgerlichen Gesellschaft mit ihren Klassen und Klassengegensätzen tritt eine Assoziation, worin die freie Entwicklung eines jeden die Bedingung für die freie Entwicklung aller ist.“ Denn in „der wirklichen Gemeinschaft [erlangen] die Individuen in und durch ihre Assoziation zugleich ihre Freiheit“.
Wenn uns in der Schule damals die Vision des Sozialismus und des Kommunismus erklärt wurde, ging mir das Herz auf: Eine Gesellschaft, in der die Menschen freiwillig ihre Bedürfnisse reduzieren, damit alle genug haben. Wo Solidarität über brutalen Eigeninteressen steht. Wo man schließlich kein Geld mehr braucht, weil jeder nur das nimmt, was er braucht. In einer Welt, wo mir die Angst vor einem Atomkrieg manchmal schlaflose Nächte bereitete, schien das wirklich wie der Himmel auf Erden. Solche Ideale waren es doch wert, die eigenen Interessen, Wünsche, Sehnsüchte etwas zurückzustellen. Warum so egoistisch sein, wenn doch die Zukunft der Erde auf dem Spiel steht!
Raus aus dem Wir
Bei mir ging das solange einigermaßen gut, bis in der inneren Revolution namens Pubertät etwas immer nachdrücklicher auf sich aufmerksam machte: das Aufdämmern des Ich. Wie wohl jeder junge Mensch erlebte ich den krassen Konflikt zwischen dieser aufkeimenden Individualität und den Grenzen der Gesellschaft. Nur waren im Arbeiter- und Bauernstaat diese Grenzen so eng, dass jeder individuelle Impuls sofort an Wände lief. An äußere Wände, wie die extrem eingeschränkten Möglichkeiten, frei eigenen Interessen zu folgen. Musik, Literatur, Filme, Ideen: alles gefiltert durch den Blick der „Linientreue“. Und an innere Wände: die Angst, anzuecken oder von Autoritäten missbilligt zu werden. Und ja, auch Angst, die doch eigentlich gute Sache des Sozialismus zu verraten.
Gerade als dieser Drang zu individueller Entfaltung den Zweifel an einem Wir wachsen ließ, das scheinbar seine Kraft daraus zog, dass der Einzelne sich unterordnet und zurücknimmt, brach es auch schon zusammen. Der Konflikt, der da in meiner jungen Psyche aufbrach, hatte in einem weitaus reiferen Stadium auf den Straßen von Leipzig und Berlin die Übermacht des gesellschaftlichen Wir zu Fall gebracht – mit einem Ruf, der diesem Wir klarmachte, wer es eigentlich ist: „Wir sind das Volk“. Die Sehnsucht nach Freiheit, nach der Würde des Einzelnen, hatte die Mauer zu Fall gebracht. Meine erste Amtshandlung war eine Fahrt nach West-Berlin, um von den 100 D-Mark Begrüßungsgeld die subversive Musik zu kaufen, die in der DDR unerhört gewesen war.
Verloren im Ich
Aber was macht ein Ich, das die Grenzen des Wir gewohnt war, erlitten und bekämpft hat, mit der neu gewonnenen Freiheit? Wie schwer es sein kann, ein Ich zu sein, wenn man in einer Wir-Gesellschaft aufgewachsen ist, führte mir vor Kurzem wieder der Kinofilm „Als wir träumten“ von Andreas Dresen vor Augen (Szene aus dem Film siehe rechts), in dem es um Jugendliche in Leipzig geht, die zur Wende etwa in meinem Alter waren, so um die siebzehn. Der plötzliche Zusammenbruch der Strukturen und Werte wirft sie in die neue Freiheit und den Rausch von Technosound, Drogen, Sex und Gewalt, aber auch schon sehr bald in die innere Leere. Am Ende des Films erscheinen sie alle ausgebrannt von zu viel Freiheit, die ihren Sinn noch nicht gefunden hat. In seinem Buch „Vom Gebrauch der Freiheit“ schreibt der Theologe, Philosoph und Politiker der Wendezeit Richard Schröder über diese Erfahrung: „Die Sehnsucht nach der Freiheit kann hinter Mauern so unermesslich anwachsen, dass die Wirklichkeit der Freiheit nicht halten kann, was man in sie gesetzt hatte. Die ersehnte Freiheit ist noch nicht die gebrauchte Freiheit.“ Freiheit bedeutet ja auch, dass wir nun selbst herausfinden müssen, wie wir unser Leben leben wollen, welche Werte uns wichtig sind. Für diesen Gebrauch der Freiheit braucht es ein entwickeltes Ich.
Als die DDR zerfiel, spürte ich auch in mir, dass die Entwicklung eines Ich harte Arbeit ist. Wohl umso mehr, wenn man es nie „gelernt“ hat und es eine Art inneren Aufpasser gibt, der davor warnt, sich zu sehr zu exponieren. Wie groß mein „Rückstand“ in dieser Richtung war, erlebte ich ziemlich eindrücklich bei meinem ersten Besuch in Freiburg, der deutschen Hochburg der Postmoderne. Die jungen Menschen, die ich dort traf, waren so individuell, wussten es und waren stolz darauf. Eine Freizeitbeschäftigung erschien für mich damals schillernder als die andere, von Tantra über Tango bis zu Neumondschwitzhütte und Kontaktimprovisation. Aber als ich eine Weile dort lebte, merkte ich auch, wie verloren wir in dieser Individualität sein können. Was verbindet uns noch, wenn jeder seinen eigenen Weg geht und an seinem eigenen Projekt der Selbstverwirklichung arbeitet und andere Menschen nur noch zu Statisten in diesem persönlichen Drama werden?
Spirituelle Gemeinschaft
Eine ganz neue Perspektive auf Ich und Wir erfuhr ich dann in ersten spirituellen Erfahrungen, die ich in der Zen-Meditation machte. Es war die Erfahrung eines tiefen Nach-Hause-Kommens in einen inneren Raum, der weit tiefer liegt als das persönliche Ich. Ja, in der Freiheit von den herkömmlichen Ich-Bezügen wie Biografie und Geschichte dämmert eine befreiende und weitende Bewusstheit auf. Für mich eröffnete diese Erfahrung eine neue Welt. Wer ich als Individuum war, schien plötzlich eingebunden in einen Raum der Unendlichkeit und Freiheit. Und ich spürte eine tiefe Sehnsucht, in diesen Raum tiefer einzudringen. Ich fragte mich, wie wäre es, mit Menschen in einem Wir zu sein, die die gleiche Erfahrung machen und diese Sehnsucht teilen. Dieser Wunsch führte dazu, dass ich zwei Jahre in Zen-Zentren in Deutschland und den USA lebte. Es war eine große Erfüllung, weil ich plötzlich eine für mich ganz neue Form von Gemeinschaft erlebte. Sie basierte nicht auf gesellschaftlichen Konstellationen, Familie oder Freundschaft, sondern auf dem geteilten Anliegen, gemeinsam spirituell zu praktizieren und ein Leben zu leben, das die Tiefe und Freiheit, die wir in der Meditation erfahren können, in die Welt bringt. Eine Zeit lang war dies auch wirklich meine Erfahrung. Das Wir formte sich aber nicht nur aus gemeinsamer Praxis und Arbeit, sondern auch aus dem Eingebundensein in eine Tradition. Obwohl meine Lehrer damit experimentierten, die Zen-Tradition ins 21. Jahrhundert zu übersetzen, war dies immer noch der Rahmen. Langsam kamen mir Zweifel, ob diese traditionelle Form für uns Menschen im Westen wirklich angemessen ist. Bei all der tiefen Freude und Freiheit, die ich in der Meditation erfuhr, spürte ich doch kreative eigenständige Impulse, für die im Rahmen dieser Tradition kein Platz zu sein schien. Als ich dann trotz spiritueller Gemeinschaft merkte, wie es zu ständigen Ego-Konfrontationen kam und wie sich im Zusammensein auch individuelle Schattenaspekte zeigten, wurde klar, dass ich diese Lebensform verlassen musste und wollte.
Geist zwischen Menschen
Durch den Abschied von der spirituellen Gemeinschaft merkte ich schließlich, dass wohl auch ich noch an meinen eigenen individuellen Schatten arbeiten musste. Ich experimentierte mit verschiedenen Therapieformen, machte Selbsterfahrung, begann zu schreiben. Für mich war es die Suche nach meinem eigenen kreativen Ausdruck. Dieses Anliegen wurde auch zum Kontext der meisten meiner Beziehungen. Obwohl ich weiter meditierte, verlor ich doch den Zugang zu der spirituellen Tiefe, die ich so sehr schätzen gelernt hatte. War es nicht möglich, als Mensch kreativ und unabhängig zu sein und trotzdem diese innere Freiheit zu bewahren? Bald schon nahm ich mit dieser Frage meine spirituelle Suche wieder verstärkt auf und landete schließlich bei einem Retreat mit Andrew Cohen. Er setzte die spirituelle Erfahrung in den Kontext der Bewusstseinsevolution und deutete nicht nur auf meditative Einheitserlebnisse, sondern auch auf die Kreativität unseres Menschseins, in der sich ein tieferer schöpferischer Impuls zeigt. Für mich kamen zwei Dimensionen zusammen, die bisher immer gegeneinander standen: die Erfahrungen der Einheit im meditativen Bewusstsein und die einzigartige Individualität mit der eigenen kreativen Energie. Dort machte ich auch Wir-Erfahrungen, die anders waren als alles, was ich bis dahin erlebt hatte. In spontanen Gesprächen während des Retreats war plötzlich eine lebendige Kreativität und Intimität zwischen Menschen spürbar, die sich kaum kannten. In diesen Gesprächsrunden erlebte ich die Freiheit der Meditation und die brennende freudvolle Kreativität wie in eins gesetzt. Für mich zeigte sich da eine ganz neue Möglichkeit von Wir.
Authentisch werden
Als ich mich mehr auf dieses Wir einließ, wurde bald deutlich, von was es genährt wird: von der eigenen Authentizität. In solch einem spirituell aufgeladenen Wir merkte ich, dass alles, was aus meinem konditionierten Verstand kam, nicht ankam, nicht in diesen Raum passte. Diese Erfahrungen wurden zu einer spirituellen Krise, weil ich ahnte, dass ich innerlich an einen Punkt der Transparenz kommen musste, den ich noch nicht kannte. Statt wirklich in die Tiefe meiner Erfahrung zu gehen, versuchte ich, mich diesem neu gefundenen Wir anzupassen. Doch das funktionierte nicht, weil dieses Wir nur aufscheinen konnte, wenn alle Beteiligten aus innerer Freiheit und eigener Erfahrung sprachen und nicht aus den Konditionierungen des Verstandes. Es wurde klar, dass ich, um in diesem Wir lebendig sein zu können, noch viel tiefer zu mir selbst finden musste, zu meiner eigenen Stimme, meinem eigenen Ausdruck.
Paradoxerweise stellten sich diese befreienden Momente wirklicher Authentizität gerade dann ein, als ich mich in gewisser Weise nicht mehr darum kümmerte, wie meine eigenen Impulse im Wir der Gemeinschaft ankamen. Wahrscheinlich muss man sich einmal wirklich ganz allein, wirklich völlig auf sich selbst gestellt empfinden, um zu einer neuen Tiefe in sich selbst durchzubrechen, aus der dann die eigene Stimme hervorkommt, der es egal ist, wie andere auf sie reagieren. Gerade weil man sich dann nicht mehr durch die Reaktion der anderen definiert, ist man frei. Auch frei, jetzt als einzigartiges Ich das Wir mitzuformen. Als diese authentische Stimme lauter und vernehmbarer wurde, erlebte ich immer intensiver die Erfahrung eines heiligen Wir-Raums, wo man wirklich das Gefühl hat, dass durch die Beteiligten ein Bewusstsein spricht, das von der radikalen Autonomie der Anwesenden abhängt. In diesem Wir-Umfeld zeigte sich aber auch, dass die Unabhängigkeit, die in uns aufbrach, in einer traditionell gefärbten Lehrer-Schüler-Kultur verblieb, die auf starren Strukturen beharrte. Die Lebendigkeit, die sich im Wir entwickelte, rieb sich an dieser Enge. Schließlich wurde klar, dass die Autonomie der Einzelnen nicht mehr in solchen Strukturen leben konnte. Weil die Strukturen die Freiheit und Dynamik des Wir nicht mehr halten konnten, zerfielen sie.
Ein Prozess
Heute sind für mich all diese Erfahrungen der Dynamik zwischen Ich und Wir die Inspiration für den Versuch, Freiheit und Verbundenheit als ein kreatives Wechselspiel zu leben. Denn wenn ich auf meinen Weg durch verschiedene Formen von Gemeinschaft zurückblicke, habe ich den Eindruck, dass er einer Spirale folgt, die immer engere Kreise zieht. Ich und Wir kommen sich immer näher. Ein lebendiges Wir ist nur möglich, wenn sich freie, selbstverantwortliche Persönlichkeiten begegnen. Und je individueller sie sind, desto größer ist das Potenzial für kreative Begegnung. Vielleicht ist ja die Trennung zwischen Ich und Wir auch etwas, über das wir im Laufe unserer Bewusstseinsevolution hinauswachsen werden – beziehungsweise wir erkennen, dass sie eigentlich nie real war.
Denn bin ich, wenn ich diese Zeilen schreibe, nun eigentlich im Ich oder im Wir? Natürlich sitze ich hier und schreibe, es ist mein Anliegen, mein kreativer Impuls. Aber während des Schreibens denke ich auch mit Dankbarkeit an all die Menschen, denen ich auf meinem Weg begegnen durfte, ich habe Sie als Leser in der Aufmerksamkeit oder meine Kollegen von der Redaktion, denen ich die Anregung zu diesem Artikel verdanke. Doch diese Zeilen würden sich nicht schreiben, wenn ich nur an all diese Verbundenheiten denken würde. Ich muss es tun.
Wenn es so etwas wie eine neue Stufe unserer Bewusstwerdung gibt, dann wird sie sich meiner Erfahrung nach als eine wunderbare Integration von Ich und Wir entfalten, in der die Polarität in einer dynamischen Einheit aufgehoben sein wird. Das bedeutet dann gewissermaßen, dass wir als Individuum unsere Eingebundenheit in ein größeres Wir nicht mehr verlassen. Und als Beteiligte in einem Wir unser einzigartiges Ich-Sein nicht mehr aufgeben. Ich und Wir werden zu einer Bewegung, die nur lebendig bleibt, wenn wir nicht an einem dieser beiden Aspekte festhalten. Dann kann man vielleicht von einem erwachten Ich-Wir sprechen: Wir erwachen zu dem einen Prozess, in dem Ich und Wir, Individualität und Gemeinschaft, nur zwei Facetten unseres sich entfaltenden Bewusstseins sind.
Von Mike Kauschke
Der Text ist zuerst erschienen in evolve – Magazin für Bewusstsein und Kultur
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